Dass sich Kunst erst in der Rezeption entfaltet und immer weit mehr beinhaltet, als das von der Künstlerin oder dem Künstler im Herstellungsprozess Intendierte, ist fast schon ein Gemeinplatz. Wie sehr sich jedoch die Lesart künstlerischer Produktionen unter dem Einfluss gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen verändern und erweitern kann, ist für die Kunstschaffenden selbst oft überraschend. So auch für die in Wien lebende Künstlerin Nicole Weniger, wie sie im Gespräch mit Anita Moser verrät. Ihre Projekte reichen von Performances über Installationen bis zu Fotografien und beziehen sich inhaltlich auf sehr unterschiedliche Themen, etwa die Stadt als Lebensraum von Mensch und Tier, die Kunstwelt und das eigene darin Involviertsein oder auch soziale Ungleichheiten und Diskriminierungen. Einige dieser Arbeiten bekommen nun im Kontext aktueller Migrations- und Fluchtbewegungen zusätzliche Bedeutungen.
AM: Du setzt dich unter anderem mit kulturellen Stereotypien und Vorurteilen auseinander. Worin konkret liegt dabei dein Interesse und wie ist dein Zugang?
NW: Ich war 2011 ein halbes Jahr in Istanbul und erstmals in einem gesellschaftlichen Umfeld, wo die Burka allgegenwärtig war. Dieses Kleidungsstück interessiert mich auf einer abstrakten Ebene – einerseits steht es für eine Art Identität, gleichzeitig verbirgt es diese aber auch. Diese Ambivalenz zwischen Identität und Abgrenzung interessiert mich. Zum einen wird durch das in Europa diskutierte Burka-Verbot versucht, die Burka als Erscheinung aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, zum anderen sind gut betuchte Tourist_innen aus dem arabischen Raum gern gesehene Gäste. Vor allem im Raum Salzburg, wo muslimische Gäste viel Geld dalassen, sich Restaurants zum Teil umbenennen, Kurse für den „richtigen“ Umgang angeboten werden und eine „saisonale Integration“ stattfindet. Darauf gehe ich in der Arbeit ‚Seasonal Integration‘ ein, wo Frauen in goldene Burkas gehüllt durch Salzburg gehen. ‚Guess what I wear under my Burka‘ thematisiert das in Europa diskutierte Burka-Verbot. Ein oft genanntes Argument für das Verbot ist, das Tragen von Burkas im öffentlichen Raum aus Sicherheitsgründen zu verbieten. Weder könne man erkennen, welche Person sich unter der Burka befinde, noch welche Gegenstände diese mit sich führt. Diese Arbeit geht auf die westliche Skepsis gegenüber dem Islam ein und persifliert die darin enthaltene Problematik, in jeder Muslimin und jedem Muslim tendenziell einen Terroristen zu sehen.
AM: Würdest du deine Arbeiten als Interventionen bezeichnen?
NW: Da bin ich mir nicht sicher. Ich frage mich, wo und wie man überhaupt intervenieren kann und was Intervention eigentlich heißt. Man verwendet solche Begriffe, als wären sie eindeutig, aber das sind sie natürlich nicht. Ich fand jedenfalls immer schon Kunst interessant, die den klassischen Galerieraum verlässt, um den Aktionsradius der Kunst zu erweitern und zu beobachten, wie Menschen darauf reagieren. Bei den Fotografien handelt es sich um inszenierte Performances, die ich fotografiert habe. Da geht es mir vor allem um diese Bilder. Mit meinen Arbeiten möchte ich etwas zeigen, was vorher nicht sichtbar war und zum darüber Nachdenken anregen. Eine Intervention in Blickwinkel und auf der Ebene der Reflexion könnte man sagen.
Anita Moser ( 2016): Wenn Kunst von der Realität eingeholt wird. Nicole Weniger im Gespräch mit Anita Moser. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/wenn-kunst-von-der-realitat-eingeholt-wird/