Wie kann eine kritische Vermittlungspraxis aussehen, die den Status quo machtkritisch hinterfragt und Transformationsprozesse in Richtung selbstermächtigendes Handeln initiiert? Im Gespräch mit Carmen Mörsch thematisieren wir Bedingungen und Ziele kritischer Wissensproduktion, die Schaffung von Freiräumen innerhalb und zwischen Institutionen sowie den Mehrwert von Kooperationen zwischen Schule und Universität.
Carmen Mörsch, Leiterin des Institute for Art Education an der Zürcher Hochschule der Künste, war Kooperationspartnerin im Projekt „Making Art – Taking Part!“ (2014-2016). Ihre Rolle war vor allem jene eines „critical friend“ hinsichtlich Projektentwicklung und Umsetzung aus Perspektive der kritischen Kunstvermittlung.*1 *(1)
Kritische Wissensproduktion
Elke Zobl: Im Rahmen unseres Symposiums und Round Table im Mai 2016 haben wir viel über kritische Wissensproduktion an den Schnittstellen von Kunst, Vermittlung und Forschung gesprochen – darüber, welches Wissen in kollaborativen Prozessen produziert wird und was mit diesem Wissen passiert, was Kritik in diesem Kontext heißen kann und welche Zielrichtung damit verbunden wird. Was heißt für dich kritische Wissensproduktion?
Carmen Mörsch: Das ist ehrlich gesagt eine Frage, über die ich zurzeit auch neu nachdenke, weil der Begriff der Wissensproduktion in den letzten Jahren im kulturellen Feld so inflationär verwendet worden ist. Der Begriff wird meiner Ansicht nach in vielen Projekten sehr ausgehöhlt. Anstatt dass man sagt, Leute sitzen zusammen und diskutieren, spricht man von Wissensproduktion. Ich bin da vielleicht ein bisschen altmodisch und sage, Wissensproduktion ist immer erst dann passiert, wenn auch etwas gesichert wurde. Das ist für mich eigentlich das Wichtige, dass man bei dem Begriff der Produktion auch das Produkt nicht vergisst ‑ im Gegensatz zum Prozess. Produktion bedeutet, dass man auch etwas produziert.
Das ist für mich etwas anderes als zum Beispiel ein pädagogischer Prozess im Zeichen von Selbstermächtigung, in dem das Diskutieren ausreicht. Wenn man von Wissensproduktion spricht, dann bedeutet das erstens, dass man während des Prozesses die Bedingungen reflektiert, unter denen Wissen zustande kommt,. Denn der Produktionsbegriff kommt aus dem Marxismus. Das wäre das eine. „Kritische Wissensproduktion“ ist also gewissermaßen eine Tautologie.
Denn in dem Moment, in dem man von Wissensproduktion spricht, geht man eigentlich schon in die kritische Distanz zu einem traditionellen Begriff von Wissen, der vielleicht stärker an Begabung geknüpft ist oder an autorisiertes Wissen. Wenn man von Wissensproduktion spricht, bedeutet das meines Erachtens, dass man erstens bei Lehr- und Lernprozessen, bei pädagogischen Prozessen, aber auch bei Gruppenprozessen die materiellen Bedingungen, die Machtverhältnisse, unter denen Wissen zustande kommt, mitreflektiert und mit zum Thema macht, und dass das Wissen selber sich gegenhegemonial verhält ‑ dass es sich sozusagen gegen die Herrschaft und für Gerechtigkeit positioniert. Wobei das in jeder Situation etwas anderes bedeuten kann.
Und zweitens, dass die Art und Weise, wie der Prozess gestaltet wird, im Einklang mit dieser kritischen Haltung steht. Man kann beispielsweisevöllig autoritär das Kapital lesen, und dann hätte man vielleicht kritisches Wissen produziert, aber auf einer Art und Weise, die sehr unkritisch ist gegenüber hegemonialen Formen des Lehrens und Lernens. Deshalb hat es auch eine methodische Ebene.
Elke: Welche Formen kann diese Sicherung des Wissens, auch im Sinne einer Produktion, einnehmen?
Carmen: Ich denke, man muss nicht unbedingt von Produktion sprechen und man muss diese nicht zum Ziel haben. Aber wenn man davon spricht, muss ein überprüfbares Produkt vorhanden sein. Wenn ich zum Beispiel mit Jugendlichen in eine kritische Wissensproduktion eintrete und am Schluss zwar ganz viele solche Prozesse mit ihnen initiiert habe, aber wenn ich mit ihnen rede, merke ich, dass es sehr wenige Verschiebungen in ihren Einstellungen gegeben hat und auch wenig Hinzugewinn an neuen Informationen, Ddann finde ich es schwierig, von einer kritischen Wissensproduktion zu sprechen. Denn in dem Moment, in dem man einen Produktionsanspruch hat, braucht man auch eine Lernerfolgskontrolle [lacht]. Das kann sich methodisch wiederum experimentell gestalten und ebenfalls einem kritischen Paradigma unterliegen. Man muss ja keinen Test schreiben, aber ich finde, es muss etwas entstanden sein, das es für alle Beteiligten ‑ und das find ich wichtig, wenn man von kritischer Wissensproduktion spricht ‑, auch für die Lernenden selber nachvollziehbare Mehrwerte gibt, gegenüber dem, was vorher war. Ansonsten ist Produktion nicht das richtige Wort.
Elke: Fällt dir da ein konkretes Beispiel ein?
Carmen: Wenn wir jetzt zum Beispiel zu eurem Projekt in Mittersill gehen, dann wäre für mich die Frage, was haben die Jugendlichen konkret gelernt. Das würde ich mir genau anschauen, und für mich wäre die Setzung, dass hier eine kritische Wissensproduktion stattgefunden hat, nur dann eingelöst, wenn ich nachweisen könnte, dass kritisches Wissen bei den Jugendlichen entstanden ist.
Elke: Und dieser Nachweis wäre in Form von Interviews oder forschenden, wissenschaftliche Methoden?
Carmen: Das ist eine Möglichkeit, genau. Eine andere wäre, dass sie etwas produzieren, wobei die Tatsache, dass sie selber das Wissen produzieren, deutlich wird, und das Wissen gesichert und an andere weitergegeben wird. Es sind ja letztendlich in einem erweiterten Sinne auch Erhebungsmethoden, wenn du mit ihnen beispielsweise Zines machst.
Elke Zobl ( 2016): Wie Wissen produzieren und Strukturen transformieren?. Ein Interview mit Carmen Mörsch. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/wie-wissen-produzieren-und-strukturen-transformieren/