Das folgende Gespräch geht auf einen Austausch von Überlegungen per E-Mail zurück. An seinem Anfang stand ein Zitat von Christoph Schlingensief, in dem der Künstler und Theaterschaffende seine Zusammenarbeit mit Menschen mit einer Behinderung beschreibt. Es stammt aus der posthum publizierten Textsammlung Ich weiss ich war’s (2012), (*1) in der Schlingensief seine künstlerische Arbeit einer radikalen Selbstreflexion unterzieht.
Inherent Crossing ist ein seit 2012 laufendes Projekt des Künstlers Benjamin Egger in Zusammenarbeit mit Prof. Dieter Maurer von der Zürcher Hochschule der Künste, Angela Widmer vom Walter Zoo Gossau und Prof. Carel van Schaik vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich. In wöchentlichen Sitzungen mit einer Schimpansengruppe wurden über 20 Monate hinweg Beobachtungen zur Selbstmotivation im Umgang mit Malutensilien gemacht. Die Reflexion stützt sich zum einen auf eine Analyse des generierten Bild- und Videoarchivs und zum anderen auf Überlegungen im Sinne des von Karen Barad mit „Intra-Action“ eingeführten Begriffes einer gegenseitigen Verwicklung (Barad 2007). (*3) (https://www.zhdk.ch/index.php?id=93656) |
Der Kunstwissenschaftler Marcel Bleuler ist Gastforscher am Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion/Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft & Kunst und arbeitet als Projektleiter für artasfoundation, einer privaten Schweizer Stiftung für Kunst in Konfliktregionen. In internationaler Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden und Menschen, die von bewaffneten Konflikten und ihren Auswirkungen betroffen sind, baut artasfoundation Strukturen für künstlerische Produktion, für Begegnung und Austausch auf. Die Stiftungstätigkeit positioniert sich im Feld des „civilian peace building“. Mit kontinuierlichen Kooperationen, Initiativen und Workshops unterstützt sie Prozesse des Wiederaufbaus und der sozialen Transformation. (www.artasfoundation.ch) |
„Ich arbeite wahnsinnig gerne mit meinen behinderten Freunden zusammen. Weil sie eine Autonomie auf die Bühne bringen, die ich nicht beeinflussen kann. Weil sie Antennen auf dem Kopf haben, die bei uns schon längst abgeknickt sind, und auf ihre ganz eigene Weise genial sind. Zum Beispiel Mario Garzaner: Der schafft es, den Raum zum Leuchten zu bringen. Unsereins turnt da rum und hat mal, boing, ganz kurz Licht an. Aber die meiste Zeist ist alles dunkel. Nicht bei Mario. Da kann man machen, was man will, der schafft es, dass alles hell leuchtet, wenn er auftritt.“ (Schlingensief 2012: 115.) (*1)
Wir stießen auf das Zitat nachdem wir uns über Benjamins künstlerisches Forschungsprojekt Inherent Crossing (seit 2012) und sein generelles Interesse an der Kollaboration mit Amateuren/innen und mit Tieren unterhalten hatten. Bei dem Gespräch wurde offensichtlich, dass ein Vokabular für die präzise Beschreibung dieses Interesses und dessen, was bei der Involvierung in kollaborative Prozesse zum Tragen kommt, fehlt. Ein Fehlen, das auch für Marcel spürbar ist, der im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit ebenfalls mit meist kunstfernen Menschen an kollaborativen künstlerischen Prozessen arbeitet.
Anknüpfend an Schlingensiefs Äußerungen entspann sich ein längerer E-Mail-Wechsel. Wir waren uns zwar darin einig, dass Schlingensiefs Unverblümtheit das Potential birgt, etwas auf den Punkt zu bringen, das sprachlich eben nur sehr schwer zu fassen scheint. Zugleich waren wir uns aber uneinig, ob sich in seinen Äußerungen die Idealisierung einer Unverdorbenheit abzeichnet, die deshalb alarmierend wirkt, da sie auf Individuen – „die Behinderten“ – angewendet wird, die sich aus gesellschaftlicher Sicht in einer schwächeren Position befinden als der Sprechende selbst.
Der E-Mail-Wechsel richtete sich somit zuerst auf Schlingensiefs Vergleich zwischen den schwächer Gestellten und „Unsereins“, worunter Nicht-Behinderte und im weiten Sinne professionelle Kunstschaffende zu verstehen sind. Sind die Qualitäten, die Schlingensief den Menschen mit Behinderung zuschreibt, tatsächlich als etwas zu verstehen, was „uns“ abhanden gekommen ist (wie er beschreibt)? Oder handelt es sich hier um die Projektion eines von der Unzufriedenheit mit der „Hochkultur“ (Schlingensief 2012: 166) (*1) getriebenen Künstlers, der sich an der Vorstellung einer ursprünglichen Unverdorbenheit nährt? – Schlingensief lässt keinen Zweifel daran offen, dass er einen Gegenentwurf zum etablierten Kunstbetrieb für dringend notwendig hält. Diesen Gegenentwurf scheint er in der Kollaboration mit kunstfernen Menschen zu finden. Er spricht und agiert jedoch nicht als „einer von ihnen“, und es drängt sich die Frage auf, ob er sie aus der Position des Außenstehenden für seine Zwecke instrumentalisiert.
Der Einwand erscheint wichtig, zugleich wird er der Sache auch nicht ganz gerecht. So stellte Benjamin in Frage, ob Kunstschaffende, die beispielsweise mit Menschen mit Behinderung zusammenarbeiten, überhaupt kategorisch als Außenstehende zu verstehen sind. Ist es nicht ebenso möglich, dass in der Zusammenarbeit die scheinbar klare Trennlinie zwischen „Unsereins“ und „den Anderen“ unscharf werden kann? Und besteht nicht gerade auch darin ein Interesse von Kollaborationen, also im Potential, dass die Zusammenarbeit gesellschaftliche Positionszuschreibungen und die Begriffe untergräbt, mit denen Andere letztlich zu den Anderen und wir zu den Mächtigeren gemacht werden?
Der Mailwechsel entfernte sich von Schlingensief. Stattdessen fokussierten wir das Potential von Kollaboration, bei den Involvierten eine gegenseitige Wahrnehmung entstehen zu lassen, die vorherrschende Positionszuschreibungen und die ihnen zugrunde liegenden Wertesysteme zu verändern vermag. Eine Wahrnehmung, die es überhaupt ermöglicht, das „Licht“ (Schlingensief) des Anderen zu erfahren. Dabei, so waren wir uns einig, kommt aber nicht nur diesem „Licht“ die entscheidende Rolle zu, sondern ebenso der eigenen Offenheit, sich auf die Erfahrung einzulassen.
Beim Versuch, diese Offenheit näher zu benennen, kamen wir auf Mark Terkessidis und sein Buch Kollaboration (2015) (*2) zu sprechen. Für Kollaboration bedarf es einer Offenheit, die dem nahe kommt, was Terkessidis ein „organisches Sensorium“ (171) (*2) nennt. Also etwas, was im Sich-Involvieren zum Tragen kommt und sich jenseits des Verbalen-Begrifflichen auf einer „indirekt-viszeralen“ Ebene abspielt.
Obwohl die Idee bei Terkessidis nicht weiter ausgearbeitet wird, konnten wir uns an diesem Punkt darauf einigen, dass dieses viszerale Sensorium die entscheidende Ebene für die Beschreibung dessen ist, was in Kollaborationen passiert. Will man ein Vokabular für das Interesse an Kollaboration und für ihr Potential finden, muss man also Dinge benennen, die eigentlich jenseits des Verbal-Begrifflichen liegen und die, wie sich an Schlingensiefs Zitat zeigt und wie auch Terkessidis deutlich macht (172), (*2) angreifbar sind. Das folgende Gespräch ist als ein Versuch dazu zu verstehen. Es basiert auf einer spezifischen Haltung gegenüber Kollaboration, die sich wie folgt benennen lässt: Durch das Sich-Einlassen und die non-verbalen Kommunikationsvorgänge, die im Prozess der Zusammenarbeit stattfinden, entsteht eine Wahrnehmung des Anderen, die die eigene Positionierung in Bewegung bringt. Es mag sein, dass es sich dabei um eine subjektive und auf den Prozess der spezifischen Zusammenarbeit beschränkte Erfahrung handelt. Zugleich besteht aber auch die Möglichkeit, dass dadurch tatsächlich Gegenentwürfe sichtbar werden, die die „kognitiven oder politischen Konventionen“ (Terkessidis 2015: 177) (*2) von gefestigten gesellschaftlichen Institutionen wie dem Kunstbetrieb verändern.
Schlingensief, Christoph (2012): Ich weiss, ich war’s, Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Berlin: Suhrkamp.
Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, North Carolina: Duke University Press.
Marcel Bleuler, Benjamin Egger ( 2016): Jenseits der Differenz. Ein Gespräch über Kollaboration. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/jenseits-der-differenz/