Jenseits der Differenz

Ein Gespräch über Kollaboration

Offene Begegnungen

Benjamin: Du arbeitest ja selber auch in einem Bereich, wo Kunst jenseits des etablierten Kunstbetriebs stattfindet. Mit der Stiftung artasfoundation realisierst du Workshops und Ausstellungen mit Menschen, die in Grenz- oder Konfliktregionen leben. Was erhofft ihr euch von diesen Projekten? Geht es nicht auch darum, dass über das gemeinsame Produzieren von Kunst etwas entstehen kann, dessen Wert in der individuellen Transformation liegt? Und wenn ja, was für eine Transformation strebst du hier an?

Marcel: Ich bin eher vorsichtig, wenn es darum geht, der Kunst eine transformierende Rolle zuzuschreiben. Ich glaube, dass Kunst für den Einzelnen einen großen Wert haben kann und dass künstlerische Produktionen für eine Gemeinschaft wichtig sind, gerade auch für Menschen, die in fragilen Kontexten leben. Ich merke aber, dass mich Ansätze, die Kunst als „Empowerment“ oder als „Relief Space“ beschreiben oder die den potentiellen Beitrag von Kunst zu Prozessen des „Social Change“ festzumachen suchen, oftmals abstoßen. Das wirkt sehr schnell zu allgemein und idealisiert. Wenn ich aber von meiner persönlichen Erfahrung ausgehe, dann kann ich sagen, dass das gemeinsame Realisieren von Kunstprojekten für mich einen transformativen Charakter hat. Ich habe bisher in drei Regionen im Südkaukasus an Workshops und Kunstprojekten teilgenommen, das heißt organisatorisch mitgearbeitet.

Bring your own chair (Film-Screening an der Administrativgrenze zu Abchasien), nahe von Zugdidi (GEO), 2013. Foto: Corina Caviezel

Bring your own chair (Film-Screening an der Administrativgrenze zu Abchasien), nahe von Zugdidi (GEO), 2013. Foto: Corina Caviezel

Die Verständigung, die nötig ist, wenn man, wie wir, von der Schweiz in ein anderes Land mit einer anderen Geschichte, anderen politischen, gesellschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen und einem meist völlig anderen Kunstbegriff kommt, setzt etwas in Gang. Man wird offen und sensibel dem Anderen und auch sich selbst gegenüber. Die Differenzen und oftmals auch die Sprachprobleme zwingen einen, vieles abzulegen, was man sich im gewohnten Umfeld antrainiert hat, und sich auf das Eigentliche zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang verstehe ich auch, was du mit dem ausbleibenden Repräsentationsdruck meinst und was das für eine Kraft auslösen kann. Meistens arbeiten wir mit Leuten zusammen, die einen amateurhaften oder stark traditionsorientierten Zugang zu Kunst haben. Wenn ich spüre, wie sich trotz aller Unterschiede eine Verbindung aufbauen lässt, wie man sich über Dinge austauscht, die viel mit Intuition und Vorstellungskraft zu tun haben, und wie man total Freude bekommen kann, an Dingen, die von außen betrachtet vielleicht wenig spektakulär wirken, dann kommt mir das sogar als mehr als nur eine individuelle Transformation vor.

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Schlingensief, Christoph  (2012): Ich weiss, ich war’s, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Berlin: Suhrkamp.

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Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, North Carolina: Duke University Press.

Marcel Bleuler, Benjamin Egger ( 2016): Jenseits der Differenz. Ein Gespräch über Kollaboration. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/jenseits-der-differenz/