Social Hacking: Listige Eingriffe in Wissens- und Raumordnungen

So kam eine Menge Material zusammen – zum Beispiel die Schreie der Pfaue, die rundum die Unterkünfte im ländlichen Blankenburg leben, oder die Geräusche beim Arbeiten auf dem Gelände, inklusive der Anweisungen des Vorarbeiters. Bei hans w. kochs zweitem Aufenthalt wurden Geräuschexperimente im Park und Verkehrsgeräusche von den Teilnehmern gesammelt. Anschließend wurden die besten Aufnahmen ausgewählt, verschiedene Klangquellen wurden in Spuren übereinander gelegt und am Computer geschnitten. hans w. koch stand jedoch plötzlich vor der Situation, dass die Teilnehmer nur wenig Zeit hatten, um die Tracks fertig zu stellen: Die Suche nach neuen Unterkünften vor der bevorstehenden Räumung beeinträchtigte die gemeinsame Projektarbeit. Die Teilnehmer waren beunruhigt, weil es keine besonderen Anstrengungen der Stadtverwaltung gab, ihnen eine neue Bleibe zu besorgen.

Für die Präsentation, die am 17. Juni, kurz vor dem offiziellen Räumungstermin der ZAAB stattfinden sollte, bereitete ich eine Pressemitteilung vor. Unter anderem war darin zu lesen: „Zu hören sind Montagen von Geräuschen aus Blankenburg, Klangspuren von einem Ort, der sich durch die anstehende Schließung schon verändert hat und in den Anfang Juli vermutlich zunächst Stille einkehren wird. So schwierig die Lebensbedingungen dort waren, ist die Situation jetzt – wenigstens für die Bewohner, deren weitere Unterbringung immer noch nicht gesichert ist – noch problematischer.“

Da das Edith-Ruß-Haus eine städtische Einrichtung ist, musste ich den Text über das Presseamt genehmigen lassen. Er wurde in dieser Form nicht frei gegeben. Ich stand vor der Entscheidung, die Veranstaltung gar nicht zu bewerben oder den kritischen Passus über die ungesicherte Zukunft der meisten dort untergebrachten Flüchtlinge zu streichen. Da das Problem sowieso öffentlich diskutiert wurde, setzte ich darauf, dass alleine die Tatsache, dass der Ort Blankenburg und die teilnehmenden Flüchtlinge erwähnt wurden, den problematischen Kontext aufrufen würde. Also verbreitete ich den gekürzten Pressetext. Die Präsentation war gut besucht. Eine halbe Stunde lang wurden Soundcollagen mit einer Fotoserie von den Busfahrten unter dem Titel „Pfau und Lappan“ im Seminarraum des Edith-Ruß-Hauses für Medienkunst aufgeführt, gefolgt von einer Diskussion. Zwei der Teilnehmer nutzten die Veranstaltung, um bei der anschließenden Feier neue Kontakte zu knüpfen. Gerade dass einige der Beteiligten auch nicht an dieser Veranstaltung teilnahmen, sah ich als konsequente Folge unserer Zusammenarbeit. Das Zentrum war außer Kraft gesetzt, die eigene Perspektive mittels Medien verdeutlicht, sodass die persönliche Anwesenheit ohne eigenes Interesse eine Unterordnung unter die Logik der Institution bedeutet hätte.

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Nanna Lüth (2003): queens of kunstvermittlung, in: NGBK 2003, S. 64.

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O.V. (o.J.): „Wir über uns“: www.kunstcoop.de. Online unter: http://www.kunstcoop.de/

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Dialogforum IV Kultur (2014): Wohin geht die Reise? Kulturelle Bildung des Bundes am 10. Juni 2014, Podewil, Berlin. http://www.kultur-bildet.de/termin/dialogforum-iv-berlin

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do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita (2009): Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus. In: Mörsch, Carmen und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Berlin. S.339-353, hier S. 347 und 352.

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Lüth, Nanna (2012): Butter bei die Fische! Kritische künstlerische Kunstvermittlung als Social Hack. In: Buschkühle u.a. (Hg.), Künstlerische Kunstpädagogik. Gießen. S. 337-349.

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Mörsch, Carmen (2009): Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen. Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation. In: Mörsch, Carmen und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): KUNST- VERMITTLUNG 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Zürich. S. 9-33.

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Sturm, Eva (2005): Vom Schnüffeln, vom Schießen und von der Vermittlung. Sprechen über zeitgenössische Kunst, Vortrag am O.K-Centrum für Gegenwartskunst, 6.6.2005. Online unter: http://www.artmediation.org/sturm.html

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Douglas, Mary (1986/1991): How Institutions Think: Enttäuschte Erwartungen, bestätigte Befürchtungen: Kunstcoop© in der „Ordnung der Diskurse“, in: NGBK 2003, S: 76-91, besonders S. 82.

Die Mitglieder von Kunstcoop©: Ana Bilankov, Susanne Bosch, Beate Jorek, Maria Linares (bis 2002), Nanna Lüth, Bill Masuch, Carmen Mörsch und Ulrike Stutz. Vgl. NGBK (Hg.), Kunstcoop© – Künstlerinnen machen Kunstvermittlung, Berlin 2003.

Die Vermittlung musste jährlich neu beantragt werden und war im Zuge der Förderung berichtpflichtig: Besucher_innenzahlen mussten dargestellt werden.

Wir hatten uns bemüht, auch Frauen zu erreichen, leider ohne Erfolg.

Bevor es zur Aufnahmebehörde für Asylbewerber_innen wurde, war das Kloster bis in die 1980er Jahre als psychiatrische Anstalt genutzt worden. Vgl. http://www.radiobremen.de/fernsehen/buten_un_binnen/video61620-popup.html

Damit meine ich anspruchsvollere Projekte, die besonders versuchen, auf einzelne Gruppen einzugehen und sich beispielsweise weniger um Publikumszahlen kümmern.

Das ist das typische Merkmal dekonstruktiver Kunstvermittlung, die Carmen Mörsch als „relativ geschützten Bereich des Probehandelns unter komplexen Bedingungen“ bezeichnet hat.

Nanna Lüth ( 2015): Social Hacking: Listige Eingriffe in Wissens- und Raumordnungen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 06 , https://www.p-art-icipate.net/social-hacking-listige-eingriffe-in-wissens-und-raumordnungen/