Social Hacking: Listige Eingriffe in Wissens- und Raumordnungen

Projekt 2: normal ?!

Die zweite Kooperation führte Jugendliche aus einer psychiatrischen Einrichtung bei Wilhelmshaven nach Oldenburg. Anlass für die Projektarbeit war die Ausstellung „RECORD > AGAIN. 40 Jahre Videokunst.de Teil 2“, die im Frühjahr 2010 im Edith-Ruß-Haus zu sehen war.*6 *(6)
Die Arbeit „Arbeit-Ordnung-Freizeit“ der Künstler_innengruppe Telewissen war Teil dieser Ausstellung. Die Installation, bei der auf drei Monitoren Videoaufnahmen zu den Begriffen Arbeit, Ordnung, Freizeit gezeigt wurden, stellte ein Reportage-ähnliches Vorgehen und die Untersuchung des Alltäglichen vor. Diese Arbeit wurde 1972 im Ruhrgebiet als eine Form von Gegenberichterstattung gedreht und gab alltägliche Situationen in langen Einstellungen mit O-Ton wieder. Diese Arbeit brachte zwei Therapeutinnen der Jugendgruppe und mich auf die Idee, mit den Jugendlichen den alltäglichen Begriff „normal“ zu untersuchen und dafür Videobilder zu finden.

Die Entscheidung für dieses Wort hatte zwei Gründe: Die Videokunstarbeiten, die vor allem in den 1970er Jahren produziert worden waren, testeten viele Grenzen „normalen“ Verhaltens aus: Dieter Roth las Scheiße-Gedichte, Ulrike Rosenbach spuckte mit Milch scheinbar die Betrachter_innen an, Beuys boxte auf der documenta für direkte Demokratie. Und: Angesichts der pathologisierenden Bedeutung, über die das Anormale in einem psychiatrischen Zusammenhang verfügt, ist die Verhandlung der Grenze zwischen dem, was als normal und als nicht-normal bezeichnet wird, brisant und lebensnah. Aber auch alltäglich.

Das Projekt wurde an zwei Terminen im Edith-Ruß-Haus und mit begleitender und kontinuierlicher Unterstützung der Therapeutinnen durchgeführt. Beim ersten Termin machte sich das junge Reportageteam auf zur Erkundung des A/Normalen in der Innenstadt von Oldenburg. Sie entwickelten zunächst Interventionen; sie führten das Gegenteil von „normalem“ Verhalten in der Öffentlichkeit auf: So balancierte eines der Mädchen über das Geländer einer Brücke statt den üblichen gepflasterten Weg zu nehmen. Dieser ungewöhnliche Weg wurde inklusive Reaktionen der Passant_innen mit der Kamera aufgezeichnet. Zwei der Teilnehmer_innen bewegten sich auf allen Vieren durch die Fußgängerzone. Eine weitere Szene wurde in einem Laden für Wanderausstattung gedreht, wo eine der Teilnehmer_innen einen Diebstahl nachstellte. Hier geriet die Bestimmung des Normalen an die Grenze der legalen Normen.

In dem Zeitraum zwischen dem ersten und zweiten Treffen führte die Gruppe in ihrem Umfeld, d.h. vor allem unter Mitarbeiter_innen der therapeutischen Einrichtung, Umfragen zum Normalen durch. Bestechend war die Gleichförmigkeit der Antworten. Normal war für die meisten Befragten, morgens früh aufzustehen, um zu arbeiten und abends in Bett zu gehen. Auf Außenaufnahmen bildete das ländliche Idyll die Szenerie.
Das fertig geschnittene Video der Gruppe, die sich den Namen BWJ (Besonders Wohlerzogene/ Beeindruckend Wunderschöne Jugendliche) gab, wurde dann am Museumstag in der Ausstellung, die den Anstoß für die Erkundung des Normalen gegeben hatte, gezeigt.

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Nanna Lüth (2003): queens of kunstvermittlung, in: NGBK 2003, S. 64.

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O.V. (o.J.): „Wir über uns“: www.kunstcoop.de. Online unter: http://www.kunstcoop.de/

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Dialogforum IV Kultur (2014): Wohin geht die Reise? Kulturelle Bildung des Bundes am 10. Juni 2014, Podewil, Berlin. http://www.kultur-bildet.de/termin/dialogforum-iv-berlin

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do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita (2009): Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus. In: Mörsch, Carmen und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Berlin. S.339-353, hier S. 347 und 352.

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Lüth, Nanna (2012): Butter bei die Fische! Kritische künstlerische Kunstvermittlung als Social Hack. In: Buschkühle u.a. (Hg.), Künstlerische Kunstpädagogik. Gießen. S. 337-349.

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Mörsch, Carmen (2009): Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen. Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation. In: Mörsch, Carmen und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): KUNST- VERMITTLUNG 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Zürich. S. 9-33.

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Sturm, Eva (2005): Vom Schnüffeln, vom Schießen und von der Vermittlung. Sprechen über zeitgenössische Kunst, Vortrag am O.K-Centrum für Gegenwartskunst, 6.6.2005. Online unter: http://www.artmediation.org/sturm.html

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Douglas, Mary (1986/1991): How Institutions Think: Enttäuschte Erwartungen, bestätigte Befürchtungen: Kunstcoop© in der „Ordnung der Diskurse“, in: NGBK 2003, S: 76-91, besonders S. 82.

Die Mitglieder von Kunstcoop©: Ana Bilankov, Susanne Bosch, Beate Jorek, Maria Linares (bis 2002), Nanna Lüth, Bill Masuch, Carmen Mörsch und Ulrike Stutz. Vgl. NGBK (Hg.), Kunstcoop© – Künstlerinnen machen Kunstvermittlung, Berlin 2003.

Die Vermittlung musste jährlich neu beantragt werden und war im Zuge der Förderung berichtpflichtig: Besucher_innenzahlen mussten dargestellt werden.

Wir hatten uns bemüht, auch Frauen zu erreichen, leider ohne Erfolg.

Bevor es zur Aufnahmebehörde für Asylbewerber_innen wurde, war das Kloster bis in die 1980er Jahre als psychiatrische Anstalt genutzt worden. Vgl. http://www.radiobremen.de/fernsehen/buten_un_binnen/video61620-popup.html

Damit meine ich anspruchsvollere Projekte, die besonders versuchen, auf einzelne Gruppen einzugehen und sich beispielsweise weniger um Publikumszahlen kümmern.

Das ist das typische Merkmal dekonstruktiver Kunstvermittlung, die Carmen Mörsch als „relativ geschützten Bereich des Probehandelns unter komplexen Bedingungen“ bezeichnet hat.

Nanna Lüth ( 2015): Social Hacking: Listige Eingriffe in Wissens- und Raumordnungen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 06 , https://www.p-art-icipate.net/social-hacking-listige-eingriffe-in-wissens-und-raumordnungen/