Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017
Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten
In der Sitzung vom 29. Mai 2017 widmeten sich Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela dem Konzept des Verlernens, das in Wechselwirkung mit den Kategorien Wissen, Macht und Lernen steht. In diesem Zusammenhang thematisierten sie auch das ambivalente Verhältnis zwischen postkolonialer Theorie und Aufklärung.
Postkoloniale Wissensproduktion bzw. die Politik der Gegenhegemonie, so Dhawan und Castro Varela, wird als eine Ablehnung der Aufklärung gedeutet. Hinzu kommt, dass Postkolonialismus unter Kritik steht, da er sich an Konzepten der Aufklärung bedient.
Spivak hat eine Analogie hergestellt, die den Zusammenhang zwischen den problematischen Methoden der Aufklärung und ihren positiven Ergebnissen bildlich erklärt – als Kind, das einer Vergewaltigung entspringt („Child of rape“), stellt sie fest (vgl. z.B. Spivak 2015). (*11) Ein positives Ergebnis kann die Gewalt nicht rechtfertigen, die Gewalt muss als Gewalt benannt werden. Ogette (2017: 38) (*10) nennt die Aufklärung ein „furchtbar zweischneidiges Schwert“. Sie zitiert Kants Feststellung: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die N[…] sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. (…) Die N[…] von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.“ (ebd.) (*10) Daran anschließend stellt Ogette fest, dass die Aufklärung zwar das Rüstzeug für die politische und soziale Gleichberechtigung liefert, allerdings gleichzeitig Menschen lediglich als eine Variante des Tierischen sieht.
„Man kann nicht direkt ,Ja‘ zum System sagen“, meinte Dhawan. „Es ist eher ein kompliziertes ‚Ja‘“. „Es gibt kein unkontaminiertes Wissen, denn Kolonialismus ist gleichzeitig sowohl die Zerstörung von Wissen als auch die Aneignung desselben.“ Sehr viel Wissen wurde während des Kolonialismus angeeignet, in Europa zu Theorien geformt, und dann wiederum in die Welt exportiert. Dhawan erklärte in diesem Zusammenhang, dass unserer heutigen Gesellschaft viel Wissen durch Priester zugänglich gemacht wurde. Demnach weisen lateinamerikanische Linguist*innen heute noch darauf hin, dass sie ohne Jesuiten keinen Zugang zu indigenen Sprachen hätten finden können.
Diese Tradition der Wissensaneignung und Formung durch weiße WissenschafterInnen ist noch heute als Kontinuität des Kolonialismus zu erkennen, nämlich in der Frage, wer wen als legitimes Subjekt der Wissensproduktion anerkennt.
Dilara Akarçeşme ( 2017): Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017. Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/die-night-school-bei-den-wiener-festwochen-2017/