Die ,Flut‘ in unseren Köpfen

Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen

1943 veröffentlichte die Philosophin Hannah Arendt in der jüdisch-amerikanischen Zeitschrift The Menorah Journal einen Essay mit dem Titel We Refugees. Er entstand zehn Jahre nach Arendts eigener Flucht aus NS-Deutschland und war eine ihrer frühen Veröffentlichungen in englischer Sprache. Lange Zeit ignoriert, wurde er erst 1986 ins Deutsche übersetzt und publiziert. (Arendt 1986)star (*1) Der Text, der die Staatenlosigkeit und damit ,Nichtzugehörigkeit‘ geflüchteter jüdischer Menschen sowie deren (politisches) Selbstverständnis thematisiert, beginnt mit dem Satz: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ,Flüchtlinge‘ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ,Neuankömmlinge‘ oder ,Einwanderer‘.“ (Arendt 1986: 7)star (*1)

Bis heute ist die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbezeichnung, wie sie von Arendt angesprochen wird, für die öffentliche Debatte über geflüchtete Menschen kennzeichnend. Besonders deutlich erscheint dieser Gap in Hinblick auf die mediale Darstellung von Flucht, in der meist andere als Geflüchtete als ,Expert_innen‘ zu Wort kommen und häufig negativ konnotierte, abwertende oder ambivalente Begriffe und Sprachbilder unsere Wahrnehmung ,besetzen‘. Dagegen stellen die Selbstrepräsentation geflüchteter Menschen – und damit auch Räume der Selbstdefinition – in der breiten Medienberichterstattung die Ausnahme dar. In den Medien spiegeln sich jene „Strukturen, Normen und Konventionen der Sprache“ wider, die nicht nur bestimmen, was sich sagen lässt, „sondern auch, wer in Erscheinung zu treten vermag und wer vom Raum des Sprechens ausgeschlossen bleibt“, wie der Sprachphilosoph Gerald Posselt beschreibt. (Posselt 2017)star (*2)

 

Warum Metaphern töten (können)

Alljährlich wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden das Wort des Jahres und kürt damit Begriffe und Wendungen, die die öffentliche Diskussion und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres in besonderer Weise geprägt haben. 2015 lautete das Wort des Jahres in Deutschland: ,Flüchtlinge‘. Es war jenes Jahr, in dem Europa den ,langen Sommer der Migration‘ (siehe zum Thema: Sabine Hess/Bernd Kasparek/Stefanie Kron u.a. 2017)star (*3) erlebte, als hunderttausende Menschen aus den Flüchtlingslagern in der Türkei und Jordanien aufbrachen, das Mittelmeer überquerten und die Zäune und Grenzen der EU überwanden, um hier Aufnahme zu finden.

Im Mainstream der Medien wurden die Berichte über die Geflüchtetenbewegungen des Sommers 2015 durchwegs von einer Katastrophenrhetorik beherrscht. Besonders Begriffe, die mit schicksalshaften Naturgewalten assoziiert werden, erlebten eine Hochkonjunktur: ,Strom‘, ,Welle‘, ,Flut‘, ,(An-)Sturm‘, ,Lawine‘ oder gar ,Tsunami‘ – allesamt Beschreibungen, die Bilder von Gefahr und Zerstörung in den Köpfen heraufbeschwören. Dass es sich bei den auch bildlich meist als ,Masse‘ dargestellten Geflüchteten um Individuen mit unterschiedlichen Biografien und Lebensentwürfen, Handlungswillen und Fähigkeiten handelte, ging allemal verloren, stattdessen fand eine kollektive Verdinglichung und Entmenschlichung statt. (Vgl. Albisser 2016)star (*4)

Manuela Bojadžijev, Migrationsforscherin an der Humboldt-Universität in Berlin, erläutert: „Diskursanalytisch gesprochen handelt es sich um Kollektivsymbole, die sagen möchten, dass hier etwas mit Macht unerwartet und unweigerlich über uns hereinbricht […]. Sie evozieren ein Bedrohungsgefühl und signalisieren, dass gehandelt werden muss. […] Sie sehen hier, wie bereits sprachlich anklingt, was seit Jahren politisch als die einzigen zwei ,Lösungen‘ gehandelt wird: Die Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen über rechtliche Mittel in Kombination mit einer militärischen Grenzabwehrlogistik sowie die – weitaus weniger erfolgreichen – Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz.“ (Gerda Henkel Stiftung 2015)star (*5) Der US-amerikanische Linguist George Lakoff brachte die Bedeutung von politischen Sprachbildern und deren Funktion, auf bestimmte Handlungen einzustimmen und diese vorzubereiten, knapp auf den Punkt: „Metaphors can kill.“ (Lakoff 2003)star (*6)

 

,Willkommenskultur‘ und ,besondere bauliche Maßnahmen‘

Wie in Deutschland wird auch in Österreich regelmäßig das Wort des Jahres gewählt, ermittelt von der Forschungsstelle Österreichisches Deutsch der Universität Graz in Kooperation mit der APA (Austria Presse Agentur). 2015 war es ,Willkommenskultur‘. Ebenso wurde über das heimische ,Unwort‘ des betreffenden Jahres abgestimmt: ,Besondere bauliche Maßnahme‘ lautete dieses, eine von der damaligen ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner geäußerte euphemistische Umschreibung für den neu errichteten Maschendrahtzaun an der steirisch-slowenischen Grenze, der die Geflüchteten davon abhalten sollte, Österreich zu betreten. Nur wenige Monate, nachdem der Begriff der ,Willkommenskultur‘ Eingang in den öffentlichen Diskurs in Österreich gefunden hatte, wurde er zunehmend von der Rede über ,Grenzkontrollen‘ – unter die auch oben erwähnte ,besondere bauliche Maßnahme‘ fiel – verdrängt.

Vor 2015 war der Begriff der ,Willkommenskultur‘ in Österreich praktisch unbekannt, während er in Deutschland bereits Karriere in Politik und Medien gemacht hatte. Dort war das Wort schon 2005 in die öffentliche Debatte eingeflossen, ursprünglich als Forderung der Wirtschaft an die Regierungspolitik: „Willkommenskultur zielt vorwiegend auf qualifizierte Neuzuwanderer, die heute aus volks- und betriebswirtschaftlichen Gründen willkommen sind. Sie richtet sich dezidiert nicht an solche, die unwillkommen, aber aus europarechtlichen Gründen ebenfalls zu akzeptieren sind“, erläutert der Historiker Klaus Bade die Hintergründe zu diesem „top-down gestifteten Elitekonzept“. (Bade 2014)star (*7)

Linke Medien in Deutschland standen dem Begriff daher von Beginn an kritisch gegenüber. Unter dem ironischen Titel „Willkommensweltmeister“ kritisiert etwa die Monatszeitung ak – analyse & kritik, wie das verklärte Selbstbild der deutschen Nation als Avantgarde einer neuen ,Willkommenskultur‘ zugleich Gesetzesverschärfungen und repressive Politiken gegen Migrierende sowie zunehmende rassistische Übergriffe überdecke. (Danielzik 2015)star (*8) Aber auch Migrant_innen und People of Color – oft selbst (ehemalige) Geflüchtete und deren Kinder – formulieren Kritik: Nicht nur hinterfrage der Begriff der ,Willkommenskultur‘ die Vorstellung eines homogenisierten nationalen Selbstverständnisses nicht. Vielmehr stütze er diese sogar, da er keine Verbindung zu dem herstelle, was in der Vergangenheit bereits stattgefunden hat: Proteste von Refugees und Kämpfe von Migrant_innen gegen Entrechtung, Marginalisierung und Rassismus und für Bewegungsfreiheit, Aufenthaltsrechte und gesellschaftliche Teilhabe.

 

Temporärer Konsens

,Willkommenskultur‘ ist auch Gegenstand einer im Juli 2017 veröffentlichten Studie (Haller 2017)star (*9) , die vom Medienwissenschaftler Michael Haller von der Universität Leipzig im Auftrag der Otto Brenner Stiftung der IG Metall erstellt wurde. Untersucht wurde darin die Medienberichterstattung in Deutschland zur sogenannten Flüchtlingskrise zwischen Februar 2015 und März 2016. Anhand von Berichten in reichweitenstarken Onlinemedien wie tagesschau.de, spiegel.de und focus.de sowie tagesaktuellen „Leitmedien“ (ebd.: 10)star (*9) wie FAZ, Die Welt und Süddeutsche wurde u. a. ausgewertet, entlang welcher Ereignisse berichtet wurde, wer zum Thema ,Flüchtlinge‘ zu Wort kam und wie das Wort ,Willkommenskultur‘ im medialen und politischen Diskurs zum Konsensbegriff avancierte.*1 *(1)

Ein Fazit der aufwändig angelegten Studie: Die mediale Berichterstattung über die ,Flüchtlingskrise‘ hätte vor allem die Meinungen und Perspektiven der Regierungsparteien, sprich der politischen Eliten, reflektiert, während unmittelbar betroffene Akteur_innen – allen voran Geflüchtete, aber auch Helfer_innen, Aktivist_innen etc. – vergleichsweise selten im O-Ton wiedergegeben wurden. Von einem sehr normativen Verständnis eines „neutral berichtenden Qualitätsjournalismus“ ausgehend, kamen Haller und das Forscher_innenteam jedoch auch zum Schluss, dass die Medien Gegenstimmen (Haller selbst spricht von „besorgten Bürgern“) aus dem öffentlichen Diskurs gedrängt und „zu positiv“ berichtet hätten – und damit zum Verlust des Vertrauens in die Medien beitragen würden. Eine Schlussfolgerung, die nicht unwidersprochen blieb: „Genau genommen ist die eher positive ,Flüchtlings‘-Berichterstattung der ,Ausreißer‘ in einer ansonsten weithin negativen Migrationsberichterstattung“, wie die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Christine Horz (2017)star (*10) von der Ruhr-Universität Bochum konstatiert.

 

Flüchtlinge, Geflüchtete und Refugees

Kommen wir nochmals zurück auf den Begriff ,Flüchtling‘. Im Jahr 1951 wurde in Genf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention, verabschiedet. Entstanden in der Nachkriegszeit war es insbesondere für den Schutz von Geflüchteten im Kontext des Zweiten Weltkriegs gedacht, erst seit dem Zusatzprotokoll von 1967 gilt das Abkommen zeitlich und räumlich unbeschränkt. Die Konvention definiert, was der Begriff ,Flüchtling‘ bedeutet: nämlich jede Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann“.*2 *(2)

„Da das Wort Flüchtling durch seine Endsilbe passiv und unterlegen wirkt, bevorzugen es einige, von Geflüchteten zu sprechen, andere wollen durch ,Refugee‘*3 *(3) den Ort des Schutzes statt den Fluchthintergrund in den Vordergrund stellen“, skizziert ein Diskussionspapier der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt die Problematik des Begriffs. (Jöris 2015)star (*11) Tatsächlich sind im Deutschen Wörter mit dem Suffix „-ling“ oft negativ konnotiert, darüber hinaus „werden Menschen durch die Bezeichnung ,Flüchtling‘ auf einen Teil ihrer Biografie reduziert“, wie die Neuen Deutschen Medienmacher, ein deutschlandweiter Zusammenschluss von Journalist_innen mit und ohne Migrationsgeschichte, in ihrem Glossar (Neue Deutsche Medienmacher o.J.)star (*12) festhalten. Auch Begriffe wie ,Asylbewerber_in‘ sieht die Initiative kritisch, da er irreführend sei – schließlich bestehe in Deutschland Grundrecht auf Asyl: „Menschen bewerben sich nicht um Grundrechte, sie haben sie einfach.“ (Neue Deutsche Medienmacher o.J.)star (*13)

Alternativen zu den Begriffen ,Flüchtling‘ und ,Asylbewerber_in‘ können sein: ,Asylsuchende‘, ,Geflüchtete‘, ,Geflohene‘, ,Vertriebene‘ oder ,Schutzsuchende‘. Das grundsätzliche Problem, nämlich dass es sich dabei um Fremdbezeichnungen handelt, die unterschiedliche Fluchthintergründe und -erfahrungen homogenisieren und die Betroffenen als Hilfeempfänger_innen imaginieren statt als autonome, handelnde Subjekte, bleibt jedoch bestehen. Zugleich lässt sich in den letzten Jahren in deutschsprachigen aktivistischen Kontexten die Verwendung des Begriffs ,Refugee‘ als (Selbst-)Bezeichnung im Sinne einer widerständigen Praxis und in bewusster Abgrenzung zum Wort ,Flüchtling‘ beobachten.

 

,Wirtschaftsflüchtling‘ und Migrant*in

Obgleich die Genfer Flüchtlingskonvention als das wichtigste Dokument für den Geflüchtetenschutz gilt und bis heute von 145 Staaten ratifiziert wurde, berücksichtigt sie aktuelle Kontexte von Fluchtursachen wie etwa Umweltkatastrophen oder Armut nicht. Auch Gründe wie Binnenflucht und Vertreibung sind hier nicht abgedeckt. „Paradox erscheint vor diesem Hintergrund der deutsche abschätzige Begriff ,Wirtschaftsflüchtling‘“, so das Diskussionspapier der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt. „[W]er aus ökonomischen Gründen migriert, ist doch nach der Genfer Definition gar kein ,echter Flüchtling‘, oder? Die Evaluation von Fluchtgründen liefert vor allem eins: die Grundlage für eine Unterscheidung in ,echte‘, ,legitime‘ und ,illegitime‘ Geflüchtete.“ Die Dichotomisierung in ,Flucht(migration)‘ und ,(Wirtschafts-)Migration‘ erschwert jede weitergehende Differenzierung. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt zwischen Flucht und Migration unterschieden werden kann, wenn es praktisch kaum mehr legale Möglichkeiten der Zuwanderung in die EU gibt. „,Flüchtling‘ ist mehr ein Stempel, der Migrierenden aufgedrückt wird, als eine inhaltlich differenzierte Kategorie. Als Bezeichnung für einen rechtlichen Status wird er von der Bürokratie des Aufnahmelandes verteilt“, heißt es weiter im Diskussionspapier. Ein Stempel, der wesentlich über die Zukunft in der Aufnahmegesellschaft bestimmt – denn „damit wird die Vergangenheit zum Identitätsmerkmal, das man nicht ablegen kann.“ (Klimpfinger 2015)star (*14)

Doch nicht alle teilen diese Meinung, werden doch die spezifischen Erfahrungen geflüchteter Menschen immer wieder nivelliert oder aberkannt, wie der Autor Sinthujan Varatharajah kritisch einwirft. Flüchtlinge würden „oft fälschlicherweise als Migrant*innen bezeichnet. Das hat Konsequenzen. Durch eine solche Wortwahl werden Asylbewerber*innen ihre Fluchthintergründe und die einschneidenden Erfahrungen, die sie im Asylsystem machen, abgesprochen. Doch macht es auch heute noch einen Unterschied aus, ob man* in Deutschland als Migrant*in oder als geflüchtete Person ankommt.“ (Varatharajah o.J.)star (*15) Die Abkehr vom paternalistischen Begriff des ,Flüchtlings‘ und dessen Ersetzung durch den Begriff des_der ,Geflüchteten‘ sei vor allem für weiße Menschen zu einem synonymen Ausdruck für antirassistisches Handeln geworden. „Natürlich stimmt es, dass antirassistische Praxis viel mit Sprachgebrauch und Sprachsensibilität zu tun hat, doch schützt ein weniger rassistisches Vokabular niemals vor dem Potential, selbst rassistisch handeln zu können.“(Ebd.)star (*15) Varatharajahs Kritik lenkt somit die Aufmerksamkeit auf eine wichtige Frage: Wie lässt sich Solidarität mit geflüchteten bzw. migrierten Menschen formulieren, bei der sie als politische Subjekte dieser Kämpfe die Erzähler_innen bleiben und nicht zu Erzählten werden?

 

Fluchthilfe oder Schlepperei?

Ein anderes Begriffspaar, das die gegenwärtigen Debatten über Flucht/Migration wesentlich prägt, ist das der ,Fluchthilfe‘ und ,Schlepperei‘. Gewissenlose Schlepper, die Profit aus der Not flüchtender Menschen schlagen – dieses Bild bestimmt für viele das Verständnis aktueller Flucht- und Migrationsbewegungen: „Flüchtlinge in Seenot im Mittelmeer, zusammengepferchte Menschen in Frachtcontainern, überfüllte Flüchtlingsboote auf dem Weg nach Australien und hilflose Kinder, die massenweise von Lateinamerika in die USA geschleust werden, dominieren seit Langem die Berichterstattung zu diesen Themen.“ (Schloenhardt 2015)star (*16)

Schlepperei gilt gemeinhin als organisiertes Verbrechen, als kriminelle Industrie, die mit Waffenschmuggel, Terrorismus und Drogenhandel auf einer Stufe zu stehen scheint. Tatsache ist allerdings, dass für viele Flüchtende Schlepper die einzige Möglichkeit darstellen, nach Europa bzw. in sichere Zielländer zu gelangen. (Literaturtipp zum Thema:  Anderl/Usaty 2016)star (*17) „Das wachsende Wohlstandsgefälle in der Welt und die vielen gewalttätigen Konflikte in den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge erklären, warum zu Beginn des 21. Jahrhunderts so viele Menschen ihre Hoffnungen auf Schlepper setzen“, so der Rechtswissenschaftler Andreas Schloenhardt. (2015)star (*16) „Schlepper werden dort in Anspruch genommen, wo eine legale Flucht nicht möglich ist oder wo Transitrouten in Zielländer verbaut sind“, bemerkt auch Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch, in einem Kommentar auf DerStandard.at. „Je dichter die Tore der Festung Europa geschlossen werden, desto dringender brauchen Flüchtlinge den Dienst von Schleppern.“ (Pollak 2012)star (*18) Schlepperei bzw. Fluchthilfe ist also Resultat einer restriktiven Aufnahmepolitik der Zielländer, nicht deren Ursache.

Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs war in Westeuropa im Allgemeinen von ,Fluchthilfe‘ die Rede, und während des Kalten Krieges galt diese für Menschen aus dem Osten in den Westen noch als ,ehrenhaft‘. Dass ,Fluchthilfe‘ zur ‚Schlepperei‘ umgedeutet und zur Straftat wurde, ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, als Europas Behörden ihre Grenzpolitik zunehmend aufeinander abstimmten. Aus Fluchthelfer_innen wurden ,Schlepper‘ und ,Schleuser‘, nachdem in den 1990er-Jahren die Schlepperei durch völkerrechtliche Verträge umfassend kriminalisiert worden war.*4 *(4) Im internationalen Recht wird Schlepperei definiert als „die Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Staat, dessen Staatsangehörige sie nicht ist oder in dem sie keinen ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen“. (UN 2008)star (*19) Davor galten etwa in Deutschland noch richterliche Urteile, die Fluchthilfe als Dienstleistung begriffen, für die man sehr wohl entlohnt werden durfte: So urteilte etwa der deutsche Bundesgerichtshof 1977, dass Fluchthelfer einen einklagbaren Vergütungsanspruch haben.

 

Verschieben von Diskursen

Das Beispiel des ,langen Sommers der Migration‘ zeigt, wie es – zumindest für eine kurze Zeit – gelang, eine Verschiebung im jüngsten öffentlichen Diskurs herbeizuführen, indem der Begriff der ,Schlepperei‘ durch den der ,Fluchthilfe‘ ersetzt bzw. verdrängt wurde. Nachdem im August 2015 Medien von der ,Flüchtlingstragödie bei Parndorf‘ berichtet hatten – 71 Menschen, die in einem Kühllastwagen von Ungarn nach Österreich einreisen wollten, kamen dabei qualvoll ums Leben und wurden Tage später auf der Autobahn in der burgenländischen Gemeinde Parndorf gefunden –, reagierte die Politik mit einem „Fünf-Punkte-Plan“ gegen Schlepper, die u. a. verstärkte Grenzkontrollen zu Ungarn und Strafverschärfungen gegen Schlepper vorsah. Schlepper, so schien es, waren das größte Problem in der ,Flüchtlingsdebatte‘. Im September 2015 rief die Initiative ‚Konvoi Budapest Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge‘ über soziale Medien dazu auf, Geflüchtete in Privatautos und -bussen von Ungarn nach Österreich und Deutschland zu bringen. Für einen Moment wurde die Diskussion, was ,legal‘ oder ,illegal‘ ist, wer ein_e ,Schlepper_in‘ ist oder nicht, verdrängt von der Frage: Was ist notwendig und legitim?

Wie sich der Blick auf das, was ,zulässig‘ ist, ändern kann, lässt sich auch an einem Beispiel der Associated Press (AP), der größten internationalen Nachrichtenagentur, ablesen. 2013 kündigte die AP an, künftig den Terminus ,illegal immigrant‘ (,illegale_r Migrant_in‘) nicht mehr zu verwenden und stattdessen konkrete Handlungen (wie etwa den Grenzübertritt ohne Papiere), jedoch keine Personen mehr als ,illegal‘ zu beschreiben. Hintergrund dieser Entscheidung war die in den USA schwelende Debatte über den Begriff und das Verständnis von ,Illegalität‘, die von José Antonio Vargas ins Rollen gebracht wurde. Der von den Philippinen stammende Journalist und Filmemacher war 1993 als Jugendlicher zu seinen Großeltern in die USA gereist und lebte fortan ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in den Staaten. Vargas gehört zu den ,Dreamers‘, wie die als Kinder ohne Papiere in die USA gekommenen Zuwander_innen genannt werden. Die Bezeichnung leitet sich von einer Gesetzesinitiative zum Schutz von minderjährigen Migrant_innen ab*5 *(5), unter dem entsprechenden Dekret des ehemaligen Präsidenten Barack Obama wurden fast 800.000 ,Dreamers‘ geduldet und durften im Land bleiben. Donald Trump erklärte 2017 das Schutzprogramm jedoch für beendet. In einem Tweet erklärte der amtierende US-Präsident, „große Fluten von Menschen“ (Trump 2018)star (*20) – gemeint sind vor allem Zuwander_innen aus Mexiko – versuchten, das Programm auszunutzen.

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Arendt, Hannah (1986): Wir Flüchtlinge. In: Knott, Marie Luise (Hg.): Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin: Rotbuch. S. 7–16.

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Posselt, Gerald (2017): Dimensionen sprachlicher Gewalt, in: uni:view Magazin, 14.02.2017. Online unter: https://medienportal.univie.ac.at/uniview/studium-lehre/detailansicht/artikel/dimensionen-sprachlicher-gewalt

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Hess, Sabine/Kasparek, Bernd /Kron, Stefanie u.a. (Hg.) (2016): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Berlin: Assoziation A.

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Albisser, Raphael (2016): ,Flüchtlingsströme‘: Wie Begriffe unser Handeln manipulieren, 10.02.2016. Online unter: www.fluechtlingshilfe.ch/fakten-statt-mythen/beitraege-2016/fluechtlingsstroeme-wie-begriffe-unser-handeln-manipulieren.html

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Lakoff, George (2003): Metaphor and War, Again, 17.03.2003. Online unter: www.alternet.org/story/15414/metaphor_and_war,_again

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Bade, Klaus J. (2014): Vortrag: Kulturrassismus und Willkommenskultur, 12.12.2014 Online unter: kjbade.de/wp-content/uploads/2014/12/2014-12-12_Potsdam-Kurzfassung.pdf

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Danielzik, Chandra-Milena (2015): Willkommensweltmeister dürfen das, in: ak – analyse & kritik, Nr. 610, 17.11.2015. Online unter: https://www.akweb.de/ak_s/ak610/43.htm

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Haller, Michael (2017): Die ,Flüchtlingskrise‘ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt/Main. Online unter: www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH93_Fluechtingskrise_Haller_2017_07_20.pdf

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Horz, Christine (2017) : Auf dem Prüfstand: die Studie des Medienwissenschaftlers Michael Haller zur ,Flüchtlingsberichterstattung‘ in deutschen ,Leitmedien‘, 28.08.2017. Online unter: www.neuemedienmacher.de/wp-content/uploads/2017/10/Haller-auf-dem-Pru%CC%88fstand_Horz.pdf

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Jöris, Lisa (2015): Wider den Begriff ,Flüchtling‘: Zu den Hintergründen eines scheinbar neutralen Begriffes. Diskussionspapier der Heinrich Böll Stiftung Sachsen-Anhalt, 08.10.2015. Online unter: www.boell-sachsen-anhalt.de/2015/10/wider-den-begriff-fluechtling-diskussionspapier

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Neue Deutsche Medienmacher (o.J.): Glossar. Online unter: http://glossar.neuemedienmacher.de

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Neue Deutsche Medienmacher (o.J.): Asyl. In: Diess.: Glossar. Online unter: http://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/kategorie/07-asyl

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Varatharajah, Sinthujan (o.J.): Begrifflichkeiten im Kontext von Flucht und Asyl. Online unter: www.kubinaut.de/de/themen/9-kontext-asyl/begrifflichkeiten-im-kontext-von-flucht-und-asyl

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Schloenhardt, Andreas (2015): Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert, 09.06.2015. Online unter: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

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Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.) (2016): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung, Wien/Berlin: Mandelbaum Verlag.

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Pollak, Alexander (2012): Mikl-Leitner und die bösen Schlepper, 22.03.2012, http://derstandard.at/1332323573097/Alexander-Pollak-Mikl-Leitner-und-die-boesen-Schlepper

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UN (2008): Zusatzprotokoll gegen die Schlepperei von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Online unter: www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar55025anlage3-oebgbl.pdf

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Trump, Donald J. (2018): These big flows of people are all trying to take advantage of DACA. They want in on the act! Tweet, 1.4.2018. Online unter: https://twitter.com/realDonaldTrump/status/980451798606602241

Dieses breite Einvernehmen währte nur kurz – nämlich bis zu den Ereignissen der Silvesternacht 2015/2016 in Köln, die in der öffentlichen Meinung das Ende der ,Willkommenskultur‘ markierte.

Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll im Volltext zum Nachlesen: www.unhcr.org/dach/at/genfer_fluechtlingskonvention_und_new_yorker_protokoll-2

In der englischen Bezeichnung ,refugee‘ steckt das Wort ,refuge‘, zu Deutsch ,Schutzort‘ oder ,Zuflucht‘.

1997 wurden, angeführt von Italien und Österreich, der Vollversammlung der Vereinten Nationen zwei Entwürfe für neue Übereinkommen vorgestellt, die sich umfassend mit der Bekämpfung und Bestrafung der Schlepperei, insbesondere mit der Schaffung einer international anerkannten Straftat, beschäftigten. Beide Vorschläge wurden später miteinander verbunden und als Zusatzprotokoll in die Entwicklung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aufgenommen. Quelle: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

Development, Relief and Education for Alien Minors (Dream) Act

Vina Yun ( 2018): Die ,Flut‘ in unseren Köpfen. Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/die-flut-in-unseren-koepfen/