Die ,Flut‘ in unseren Köpfen

Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen

1943 veröffentlichte die Philosophin Hannah Arendt in der jüdisch-amerikanischen Zeitschrift The Menorah Journal einen Essay mit dem Titel We Refugees. Er entstand zehn Jahre nach Arendts eigener Flucht aus NS-Deutschland und war eine ihrer frühen Veröffentlichungen in englischer Sprache. Lange Zeit ignoriert, wurde er erst 1986 ins Deutsche übersetzt und publiziert. (Arendt 1986)star (*1) Der Text, der die Staatenlosigkeit und damit ,Nichtzugehörigkeit‘ geflüchteter jüdischer Menschen sowie deren (politisches) Selbstverständnis thematisiert, beginnt mit dem Satz: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ,Flüchtlinge‘ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ,Neuankömmlinge‘ oder ,Einwanderer‘.“ (Arendt 1986: 7)star (*1)

Bis heute ist die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbezeichnung, wie sie von Arendt angesprochen wird, für die öffentliche Debatte über geflüchtete Menschen kennzeichnend. Besonders deutlich erscheint dieser Gap in Hinblick auf die mediale Darstellung von Flucht, in der meist andere als Geflüchtete als ,Expert_innen‘ zu Wort kommen und häufig negativ konnotierte, abwertende oder ambivalente Begriffe und Sprachbilder unsere Wahrnehmung ,besetzen‘. Dagegen stellen die Selbstrepräsentation geflüchteter Menschen – und damit auch Räume der Selbstdefinition – in der breiten Medienberichterstattung die Ausnahme dar. In den Medien spiegeln sich jene „Strukturen, Normen und Konventionen der Sprache“ wider, die nicht nur bestimmen, was sich sagen lässt, „sondern auch, wer in Erscheinung zu treten vermag und wer vom Raum des Sprechens ausgeschlossen bleibt“, wie der Sprachphilosoph Gerald Posselt beschreibt. (Posselt 2017)star (*2)

 

Warum Metaphern töten (können)

Alljährlich wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden das Wort des Jahres und kürt damit Begriffe und Wendungen, die die öffentliche Diskussion und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres in besonderer Weise geprägt haben. 2015 lautete das Wort des Jahres in Deutschland: ,Flüchtlinge‘. Es war jenes Jahr, in dem Europa den ,langen Sommer der Migration‘ (siehe zum Thema: Sabine Hess/Bernd Kasparek/Stefanie Kron u.a. 2017)star (*3) erlebte, als hunderttausende Menschen aus den Flüchtlingslagern in der Türkei und Jordanien aufbrachen, das Mittelmeer überquerten und die Zäune und Grenzen der EU überwanden, um hier Aufnahme zu finden.

Im Mainstream der Medien wurden die Berichte über die Geflüchtetenbewegungen des Sommers 2015 durchwegs von einer Katastrophenrhetorik beherrscht. Besonders Begriffe, die mit schicksalshaften Naturgewalten assoziiert werden, erlebten eine Hochkonjunktur: ,Strom‘, ,Welle‘, ,Flut‘, ,(An-)Sturm‘, ,Lawine‘ oder gar ,Tsunami‘ – allesamt Beschreibungen, die Bilder von Gefahr und Zerstörung in den Köpfen heraufbeschwören. Dass es sich bei den auch bildlich meist als ,Masse‘ dargestellten Geflüchteten um Individuen mit unterschiedlichen Biografien und Lebensentwürfen, Handlungswillen und Fähigkeiten handelte, ging allemal verloren, stattdessen fand eine kollektive Verdinglichung und Entmenschlichung statt. (Vgl. Albisser 2016)star (*4)

Manuela Bojadžijev, Migrationsforscherin an der Humboldt-Universität in Berlin, erläutert: „Diskursanalytisch gesprochen handelt es sich um Kollektivsymbole, die sagen möchten, dass hier etwas mit Macht unerwartet und unweigerlich über uns hereinbricht […]. Sie evozieren ein Bedrohungsgefühl und signalisieren, dass gehandelt werden muss. […] Sie sehen hier, wie bereits sprachlich anklingt, was seit Jahren politisch als die einzigen zwei ,Lösungen‘ gehandelt wird: Die Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen über rechtliche Mittel in Kombination mit einer militärischen Grenzabwehrlogistik sowie die – weitaus weniger erfolgreichen – Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz.“ (Gerda Henkel Stiftung 2015)star (*5) Der US-amerikanische Linguist George Lakoff brachte die Bedeutung von politischen Sprachbildern und deren Funktion, auf bestimmte Handlungen einzustimmen und diese vorzubereiten, knapp auf den Punkt: „Metaphors can kill.“ (Lakoff 2003)star (*6)

 

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Arendt, Hannah (1986): Wir Flüchtlinge. In: Knott, Marie Luise (Hg.): Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin: Rotbuch. S. 7–16.

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Posselt, Gerald (2017): Dimensionen sprachlicher Gewalt, in: uni:view Magazin, 14.02.2017. Online unter: https://medienportal.univie.ac.at/uniview/studium-lehre/detailansicht/artikel/dimensionen-sprachlicher-gewalt

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Hess, Sabine/Kasparek, Bernd /Kron, Stefanie u.a. (Hg.) (2016): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Berlin: Assoziation A.

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Albisser, Raphael (2016): ,Flüchtlingsströme‘: Wie Begriffe unser Handeln manipulieren, 10.02.2016. Online unter: www.fluechtlingshilfe.ch/fakten-statt-mythen/beitraege-2016/fluechtlingsstroeme-wie-begriffe-unser-handeln-manipulieren.html

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Gerda Henkel Stiftung (2015): Migrationsbewegungen sind Seismographen gesellschaftlicher Zustände, Interview mit Manuela Bojadžijev, 15.09.2015. Online unter: http://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/migrationsbewegung

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Lakoff, George (2003): Metaphor and War, Again, 17.03.2003. Online unter: www.alternet.org/story/15414/metaphor_and_war,_again

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Bade, Klaus J. (2014): Vortrag: Kulturrassismus und Willkommenskultur, 12.12.2014 Online unter: kjbade.de/wp-content/uploads/2014/12/2014-12-12_Potsdam-Kurzfassung.pdf

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Danielzik, Chandra-Milena (2015): Willkommensweltmeister dürfen das, in: ak – analyse & kritik, Nr. 610, 17.11.2015. Online unter: https://www.akweb.de/ak_s/ak610/43.htm

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Haller, Michael (2017): Die ,Flüchtlingskrise‘ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt/Main. Online unter: www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH93_Fluechtingskrise_Haller_2017_07_20.pdf

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Horz, Christine (2017) : Auf dem Prüfstand: die Studie des Medienwissenschaftlers Michael Haller zur ,Flüchtlingsberichterstattung‘ in deutschen ,Leitmedien‘, 28.08.2017. Online unter: www.neuemedienmacher.de/wp-content/uploads/2017/10/Haller-auf-dem-Pru%CC%88fstand_Horz.pdf

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Jöris, Lisa (2015): Wider den Begriff ,Flüchtling‘: Zu den Hintergründen eines scheinbar neutralen Begriffes. Diskussionspapier der Heinrich Böll Stiftung Sachsen-Anhalt, 08.10.2015. Online unter: www.boell-sachsen-anhalt.de/2015/10/wider-den-begriff-fluechtling-diskussionspapier

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Neue Deutsche Medienmacher (o.J.): Glossar. Online unter: http://glossar.neuemedienmacher.de

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Neue Deutsche Medienmacher (o.J.): Asyl. In: Diess.: Glossar. Online unter: http://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/kategorie/07-asyl

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Klimpfinger, Viktoria (2015): Warum es wichtig ist, ob wir ,Flüchtling‘ oder ,Refugee‘ sagen, 10.11.2015. Online unter: www.vice.com/de/article/mv4wa3/fluechtling-vs-refugee-begriff-911

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Varatharajah, Sinthujan (o.J.): Begrifflichkeiten im Kontext von Flucht und Asyl. Online unter: www.kubinaut.de/de/themen/9-kontext-asyl/begrifflichkeiten-im-kontext-von-flucht-und-asyl

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Schloenhardt, Andreas (2015): Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert, 09.06.2015. Online unter: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

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Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.) (2016): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung, Wien/Berlin: Mandelbaum Verlag.

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Pollak, Alexander (2012): Mikl-Leitner und die bösen Schlepper, 22.03.2012, http://derstandard.at/1332323573097/Alexander-Pollak-Mikl-Leitner-und-die-boesen-Schlepper

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UN (2008): Zusatzprotokoll gegen die Schlepperei von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Online unter: www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar55025anlage3-oebgbl.pdf

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Trump, Donald J. (2018): These big flows of people are all trying to take advantage of DACA. They want in on the act! Tweet, 1.4.2018. Online unter: https://twitter.com/realDonaldTrump/status/980451798606602241

Dieses breite Einvernehmen währte nur kurz – nämlich bis zu den Ereignissen der Silvesternacht 2015/2016 in Köln, die in der öffentlichen Meinung das Ende der ,Willkommenskultur‘ markierte.

Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll im Volltext zum Nachlesen: www.unhcr.org/dach/at/genfer_fluechtlingskonvention_und_new_yorker_protokoll-2

In der englischen Bezeichnung ,refugee‘ steckt das Wort ,refuge‘, zu Deutsch ,Schutzort‘ oder ,Zuflucht‘.

1997 wurden, angeführt von Italien und Österreich, der Vollversammlung der Vereinten Nationen zwei Entwürfe für neue Übereinkommen vorgestellt, die sich umfassend mit der Bekämpfung und Bestrafung der Schlepperei, insbesondere mit der Schaffung einer international anerkannten Straftat, beschäftigten. Beide Vorschläge wurden später miteinander verbunden und als Zusatzprotokoll in die Entwicklung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aufgenommen. Quelle: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

Development, Relief and Education for Alien Minors (Dream) Act

Vina Yun ( 2018): Die ,Flut‘ in unseren Köpfen. Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/die-flut-in-unseren-koepfen/