Die ,Flut‘ in unseren Köpfen

Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen

Flüchtlinge, Geflüchtete und Refugees

Kommen wir nochmals zurück auf den Begriff ,Flüchtling‘. Im Jahr 1951 wurde in Genf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention, verabschiedet. Entstanden in der Nachkriegszeit war es insbesondere für den Schutz von Geflüchteten im Kontext des Zweiten Weltkriegs gedacht, erst seit dem Zusatzprotokoll von 1967 gilt das Abkommen zeitlich und räumlich unbeschränkt. Die Konvention definiert, was der Begriff ,Flüchtling‘ bedeutet: nämlich jede Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann“.*2 *(2)

„Da das Wort Flüchtling durch seine Endsilbe passiv und unterlegen wirkt, bevorzugen es einige, von Geflüchteten zu sprechen, andere wollen durch ,Refugee‘*3 *(3) den Ort des Schutzes statt den Fluchthintergrund in den Vordergrund stellen“, skizziert ein Diskussionspapier der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt die Problematik des Begriffs. (Jöris 2015)star (*11) Tatsächlich sind im Deutschen Wörter mit dem Suffix „-ling“ oft negativ konnotiert, darüber hinaus „werden Menschen durch die Bezeichnung ,Flüchtling‘ auf einen Teil ihrer Biografie reduziert“, wie die Neuen Deutschen Medienmacher, ein deutschlandweiter Zusammenschluss von Journalist_innen mit und ohne Migrationsgeschichte, in ihrem Glossar (Neue Deutsche Medienmacher o.J.)star (*12) festhalten. Auch Begriffe wie ,Asylbewerber_in‘ sieht die Initiative kritisch, da er irreführend sei – schließlich bestehe in Deutschland Grundrecht auf Asyl: „Menschen bewerben sich nicht um Grundrechte, sie haben sie einfach.“ (Neue Deutsche Medienmacher o.J.)star (*13)

Alternativen zu den Begriffen ,Flüchtling‘ und ,Asylbewerber_in‘ können sein: ,Asylsuchende‘, ,Geflüchtete‘, ,Geflohene‘, ,Vertriebene‘ oder ,Schutzsuchende‘. Das grundsätzliche Problem, nämlich dass es sich dabei um Fremdbezeichnungen handelt, die unterschiedliche Fluchthintergründe und -erfahrungen homogenisieren und die Betroffenen als Hilfeempfänger_innen imaginieren statt als autonome, handelnde Subjekte, bleibt jedoch bestehen. Zugleich lässt sich in den letzten Jahren in deutschsprachigen aktivistischen Kontexten die Verwendung des Begriffs ,Refugee‘ als (Selbst-)Bezeichnung im Sinne einer widerständigen Praxis und in bewusster Abgrenzung zum Wort ,Flüchtling‘ beobachten.

 

,Wirtschaftsflüchtling‘ und Migrant*in

Obgleich die Genfer Flüchtlingskonvention als das wichtigste Dokument für den Geflüchtetenschutz gilt und bis heute von 145 Staaten ratifiziert wurde, berücksichtigt sie aktuelle Kontexte von Fluchtursachen wie etwa Umweltkatastrophen oder Armut nicht. Auch Gründe wie Binnenflucht und Vertreibung sind hier nicht abgedeckt. „Paradox erscheint vor diesem Hintergrund der deutsche abschätzige Begriff ,Wirtschaftsflüchtling‘“, so das Diskussionspapier der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt. „[W]er aus ökonomischen Gründen migriert, ist doch nach der Genfer Definition gar kein ,echter Flüchtling‘, oder? Die Evaluation von Fluchtgründen liefert vor allem eins: die Grundlage für eine Unterscheidung in ,echte‘, ,legitime‘ und ,illegitime‘ Geflüchtete.“ Die Dichotomisierung in ,Flucht(migration)‘ und ,(Wirtschafts-)Migration‘ erschwert jede weitergehende Differenzierung. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt zwischen Flucht und Migration unterschieden werden kann, wenn es praktisch kaum mehr legale Möglichkeiten der Zuwanderung in die EU gibt. „,Flüchtling‘ ist mehr ein Stempel, der Migrierenden aufgedrückt wird, als eine inhaltlich differenzierte Kategorie. Als Bezeichnung für einen rechtlichen Status wird er von der Bürokratie des Aufnahmelandes verteilt“, heißt es weiter im Diskussionspapier. Ein Stempel, der wesentlich über die Zukunft in der Aufnahmegesellschaft bestimmt – denn „damit wird die Vergangenheit zum Identitätsmerkmal, das man nicht ablegen kann.“ (Klimpfinger 2015)star (*14)

Doch nicht alle teilen diese Meinung, werden doch die spezifischen Erfahrungen geflüchteter Menschen immer wieder nivelliert oder aberkannt, wie der Autor Sinthujan Varatharajah kritisch einwirft. Flüchtlinge würden „oft fälschlicherweise als Migrant*innen bezeichnet. Das hat Konsequenzen. Durch eine solche Wortwahl werden Asylbewerber*innen ihre Fluchthintergründe und die einschneidenden Erfahrungen, die sie im Asylsystem machen, abgesprochen. Doch macht es auch heute noch einen Unterschied aus, ob man* in Deutschland als Migrant*in oder als geflüchtete Person ankommt.“ (Varatharajah o.J.)star (*15) Die Abkehr vom paternalistischen Begriff des ,Flüchtlings‘ und dessen Ersetzung durch den Begriff des_der ,Geflüchteten‘ sei vor allem für weiße Menschen zu einem synonymen Ausdruck für antirassistisches Handeln geworden. „Natürlich stimmt es, dass antirassistische Praxis viel mit Sprachgebrauch und Sprachsensibilität zu tun hat, doch schützt ein weniger rassistisches Vokabular niemals vor dem Potential, selbst rassistisch handeln zu können.“(Ebd.)star (*15) Varatharajahs Kritik lenkt somit die Aufmerksamkeit auf eine wichtige Frage: Wie lässt sich Solidarität mit geflüchteten bzw. migrierten Menschen formulieren, bei der sie als politische Subjekte dieser Kämpfe die Erzähler_innen bleiben und nicht zu Erzählten werden?

 

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Dieses breite Einvernehmen währte nur kurz – nämlich bis zu den Ereignissen der Silvesternacht 2015/2016 in Köln, die in der öffentlichen Meinung das Ende der ,Willkommenskultur‘ markierte.

Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll im Volltext zum Nachlesen: www.unhcr.org/dach/at/genfer_fluechtlingskonvention_und_new_yorker_protokoll-2

In der englischen Bezeichnung ,refugee‘ steckt das Wort ,refuge‘, zu Deutsch ,Schutzort‘ oder ,Zuflucht‘.

1997 wurden, angeführt von Italien und Österreich, der Vollversammlung der Vereinten Nationen zwei Entwürfe für neue Übereinkommen vorgestellt, die sich umfassend mit der Bekämpfung und Bestrafung der Schlepperei, insbesondere mit der Schaffung einer international anerkannten Straftat, beschäftigten. Beide Vorschläge wurden später miteinander verbunden und als Zusatzprotokoll in die Entwicklung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aufgenommen. Quelle: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

Development, Relief and Education for Alien Minors (Dream) Act

Vina Yun ( 2018): Die ,Flut‘ in unseren Köpfen. Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/die-flut-in-unseren-koepfen/