„Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“
Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft
„Der Konflikt ist der wesentliche Kern einer freien und offenen Gesellschaft“, betont der US-amerikanische Bürgerrechtler Saul D. Alinsky bereits 1971 in seinem Buch Rules for Radicals. Auf diese Aussage und das Motto „Harmonija, na ja …“ Bezug nehmend, lud das Kulturfestival WIENWOCHE 2015 unter der Koleitung von Can Gülcü Kulturschaffende ein, zu „stören, um zu verändern!“ (vgl. WIENWOCHE 2015: 3). (*10) Diese Perspektive auf künstlerisch-kulturelle Praxis als Möglichkeit produktiver Störung lässt sich mit einem agonistischen Demokratieverständnis in Verbindung bringen. Demzufolge bilden Widerstreit und Dissens die unerlässliche Basis einer Demokratie, wobei insbesondere künstlerische Praktiken differente Perspektiven aktivieren, in den hegemonialen Diskurs intervenieren und Räume des Widerstands schaffen können (vgl. Mouffe 2014: 136). (*3) Kunst müsse die Logik des Konsenses irritieren, so Jacques Rancière, worin auch ihr politisches Potenzial liege. Dabei sei anzuerkennen, dass die Kunst ihre eigene Politik habe, deren „Form der Wirksamkeit […] primär im Verwischen von Grenzen [besteht], in der Neuaufteilung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven“ (Höller/Rancière 2007: o.S.). (*1)
Das Verwischen von Grenzen, Aufzeigen neuer Perspektiven und Möglichkeiten, vor allem aber auch Momente der Unsicherheit und des Konflikts spielen in Gülcüs Verständnis von politischer Kulturarbeit eine wesentliche Rolle. In einer von Ungleichheiten geprägten Gesellschaft gehe es im Grunde immer darum, wie er im folgenden Gespräch betont, „diejenigen, die Ausschlüsse produzieren, mit denjenigen, die von Ausschlüssen betroffen sind, in ein Verhältnis zu setzen. Und das kann, solange die Ausschlüsse passieren, nur ein konfliktreiches Verhältnis sein.“ Radikalität beginnt für ihn als Kulturarbeiter dort, wo man auch in Konflikt mit sich selbst gerät, eigene Grenzen überschritten werden, es anfängt wehzutun.
Geboren in Bursa in der Türkei, arbeitet Gülcü seit geraumer Zeit in Österreich als Kulturschaffender, Lehrbeauftragter und Aktivist an den Schnittstellen verschiedener Kunstformen und politisch-partizipativer Kulturarbeit mit Fokus auf politischen und sozialen Machtverhältnissen. Er war u.a. gemeinsam mit Katharina Morawek Teil des Leitungsteams der Shedhalle Zürich, einem Produktions- und Vermittlungsort, an dem sich Kunst, diskursives Vorgehen und politisches Engagement kreuzen. Von 2012 bis 2015 leitete er gemeinsam mit Radostina Patulova und Petja Dimitrova (bis 2014) die WIENWOCHE. Das seit 2012 jährlich im September zu verschiedenen Ausschreibungsthemen stattfindende Kulturfestival experimentiert mit der Verschmelzung von kreativen Praktiken und Aktivismus und versteht Kulturarbeit als ein Einmischen in gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten – mit dem Ziel, diese sichtbar zu machen und voranzutreiben. Dabei sollen künstlerische und kulturelle Praxen erweitert und für alle in der Stadt lebenden sozialen Gruppen zugänglich gemacht werden (vgl. Website WIENWOCHE). (*8) Anhand unterschiedlicher im Kontext der WIENWOCHE umgesetzter Projekte sprach Gülcü beim Symposium Bis dahin und (nicht) weiter? Künstlerisch-kulturelle Befragungen von Grenzen in Salzburg im November 2016 über politisch engagierte Kunst und Kulturarbeit als Formen radikaler Grenzüberschreitungen. Anknüpfend an diesen Vortrag fand das folgende Gespräch statt.*1 *(1)
Anita Moser, Can Gülcü ( 2018): „Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“. Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/radikalitaet-findet-dort-statt-wo-ich-meine-eigenen-regeln-breche/