„Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“

Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft

Kannst du ein Beispiel für ein Projekt nennen, wo das deiner Meinung nach gut gelungen ist?

Graus der Geschichte, das Eröffnungsprojekt der WIENWOCHE 2015. Das war eine Art Persiflage, eine kritische Auseinandersetzung mit nationaler Geschichtsschreibung, mit dem geplanten Haus der Geschichte. Welche Geschichten werden darin erzählt? Welche nicht? Welche Figuren kommen vor? Welche werden wie behandelt? Damit hat sich die Gruppe malmoe auseinandergesetzt, indem sie eine Geisterbahn im Wiener Prater umgebaut hat. Darin kamen verschiedene historische Figuren als Puppen – als ‚Geister der Geschichte‘ – vor, unterlegt wurde das Ganze mit Ton- und audiovisuellen Spuren von Künstler_innen. Vor der Geisterbahn, die drei Tage offen war, gab es immer eine Warteschlange mit Menschen, die extra wegen des Projekts hingekommen sind, und ebenso Menschen, die den Prater besucht hatten. Es funktionierte aufgrund einer sehr einfachen Idee der Umsetzung. Es braucht ein Format, das die Barriere durchbricht zwischen Formen, zwischen Diskursen, zwischen Milieus. Dadurch bricht man auch Gewohnheiten auf.

Ausschnitt aus dem Projekt Graus der Geschichte mit dem FPÖ-Politiker Jörg Haider als ‚Geist der Geschichte‘

Ausschnitt aus dem Projekt Graus der Geschichte mit dem FPÖ-Politiker Jörg Haider als ‚Geist der Geschichte‘ (Foto: © Wienwoche/Drago Palavra)

Mit welchen Grenzziehungen bist du als Kulturarbeiter konfrontiert? Wo siehst du im Moment die massivsten Grenzen, an die du in der Praxis immer wieder stößt?

Die Beschaffenheit der Förderstrukturen. Das betrifft sehr viele Menschen, die in einem weniger etablierten Feld arbeiten. Die Strukturen sind so, dass entweder punktuell eine bestimmte Arbeit gefördert wird oder Gefäße für Projekte wie die WIENWOCHE oder andere Festivals geschaffen werden. Gleichzeitig geht ein Großteil der öffentlichen Kulturförderungen in große Institutionen. In unserem Feld wird es auch in Zukunft schwierig bleiben. Wir haben nicht mehr Geld, de facto wird es nicht mehr werden, und das hat zur Folge, dass kaum Neues gegründet werden kann, dass keine neuen Strukturen entstehen können, in denen mit Entscheidungsfreiheit und Ressourcen experimentiert werden kann. Es ist generell relativ schwierig, Nischen zu finden, Handlungsräume zu finden und selbst welche zu schaffen.

Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit – zwischen großen Einrichtungen bzw. der ‚Hochkultur‘ und freier Kulturarbeit – ist ein viel diskutiertes Thema. Es soll nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden, aber man könnte schon auf Basis programmatischer Entscheidungen evaluieren und sich fragen, warum beispielsweise eine Opernproduktion, die frauenfeindliche Klischees ungebrochen tradiert, immer noch gefördert werden soll.

Absolut. Förderrichtlinien anzupassen und voraussetzungsvoller zu machen und Kulturentwicklungspläne zu erarbeiten, um politisch vorzudefinieren, wohin Förderungen fließen, ist wichtig. Auch zu hinterfragen, was mit den paar Millionen an Förderungen – z.B. bei den Kulturtankern – gemacht wird. Warum passiert das eine, warum das andere nicht oder warum auf diese Weise? Die Unterscheidung zwischen etablierter und freier Szene finde ich schwierig und ist auch nicht immer leicht zu treffen. Und in einem gegebenen Rahmen in einer etablierten Institution zu arbeiten, hat ja auch Vorteile, man hat Ressourcen, andere Möglichkeiten, andere Rahmenbedingungen.

Wo gibt es Durchlässigkeiten oder leicht veränderbare Grenzen?

Beispielsweise in Bezug auf Öffentlichkeit. Es ist sehr viel einfacher geworden, sichtbar und hörbar zu werden. Vor allem auch dann, wenn man mit bestimmten Privilegien – wie Bildung oder einer gewissen Herkunft – ausgestattet ist und repräsentativ ‚etwas hermacht‘.

 

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Höller, Christian/Rancière, Jacques (2007): Entsorgung der Demokratie. Interview mit Jacques Rancière. Online unter www.eurozine.com (10.10.2017).

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Lilienthal, Matthias/Philipp, Claus (2000) (Hg.): Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.

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Pilić, Ivana/Wiederhold, Anne (Hg.) (2015): Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft – Transkulturelle Handlungsstrategien am Beispiel der Brunnenpassage Wien. Bielefeld: transcript.

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Website Gazino Royal. Online unter http://www.wienwoche.org/de/316/gazino_royal_viyana (10.10.2017)

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Website Graus der Geschichte. Online unter http://www.wienwoche.org/de/364/graus_der_geschichte (10.10.2017)

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Website WahlweXel jetzt! Online unter http://www.wahlwexel-jetzt.org/ (10.10.2017)

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Website WIENWOCHE. Online unter http://www.wienwoche.org/de/wienwoche/ (10.10.2017)

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Website Zentrum für politische Schönheit. Online unter https://www.politicalbeauty.de/ (10.10.2017)

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WIENWOCHE 2015/Verein zur Förderung der Stadtbenutzung (Hg.) (2015): Programm WIENWOCHE 2015. Harmonija, na ja … Wien: Rema-Print.

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Yildiz, Erol (2015): Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit. In: Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 19-36.

Der Beitrag erschien erstmals in Bleuler, Marcel/Moser, Anita (Hg.) (2018): ent/grenzen. Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit. Bielefeld: transcript Verlag. Wiederabdruck mit Genehmigung durch den transcript Verlag (2018).

Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen.

Anita Moser, Can Gülcü ( 2018): „Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“. Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/radikalitaet-findet-dort-statt-wo-ich-meine-eigenen-regeln-breche/