„Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“

Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft

Als Beispiele ‚radikaler Grenzüberschreitungen‘ hast du auch Projekte genannt, in denen Kunst benutzt wird, um damit Politik zu machen, etwa indem bewusst Gesetze übertreten werden, was jedoch aufgrund des Kunstkontexts keine rechtliche Verfolgung nach sich zieht.

Alles, was wir sehen, erleben, analysieren, findet in wahnsinnig widersprüchlichen, ambivalenten Verhältnissen statt. Damit zu arbeiten – und beispielsweise ein Gesetz zu brechen, um etwas sichtbar zu machen –, ist eine Möglichkeit politischer Kulturarbeit. Das Projekt WahlweXel jetzt! gab vom Wahlrecht ausgeschlossenen Menschen die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben. Das geschah in Form öffentlicher Diskussionen und einer Tauschaktion des Briefwahlformulars zwischen den Wahlberechtigten und den Nichtberechtigten. Das war ein Verstoß gegen das Wahlgeheimnis, was in den Medien auch skandalisiert wurde und zu parlamentarischen Anfragen führte, aber als Kunstprojekt deklariert genoss die eigentlich politische Grenzüberschreitung einen gewissen Schutz.

das Bild zeigt Personen mit gelben Luftballons die am Projekt Wahlwexel teilnahmen

Am 25. September 2013 spazierten rund 300 WahlweXler_innen vom Wiener Kulturzentrum WUK zum nächstgelegenen Postkasten, um die Wahlkarten einzuwerfen (Foto: © WIENWOCHE/Drago Palavra)

Ein fast schon historisches Kunstprojekt zur repressiven österreichischen und europäischen Migrationspolitik ist die Containeraktion Bitte liebt Österreich von Christoph Schlingensief, die 2000 im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand (vgl. Lilienthal/Philipp 2000).star (*2) Die Aktion wurde von Rechten wie Linken massiv kritisiert. Wie beurteilst du das Projekt? Sind da Grenzen überschritten worden, die nicht überschritten hätten werden dürfen?

In dem Projekt sind unterschiedlichste Grenzen überschritten worden. Ich sehe es – im Gegensatz zu vielen anderen, mit denen ich mich darüber ausgetauscht habe, auch jenen, die den Container damals im Rahmen der Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung gestürmt und besetzt haben – im Rückblick betrachtet insgesamt recht positiv. Es hat damals viele Menschen, die auf unterschiedliche Art und mit je eigener Perspektive am Thema Asyl- und Migrationspolitik interessiert waren, in Konflikt miteinander gebracht, mit Äußerungen und Protesten dagegen und dafür. Das hat sehr gut funktioniert. Und vielleicht funktioniert so ein Projekt auch nur dann, wenn man in manchen Punkten weniger Sensibilität aufbringt, also in Bezug auf die Rollen und Entscheidungen, wer und was wie repräsentiert ist, auf die Selbstdarstellungspraxis von Schlingensief und die der involvierten Akteur_innen, in Bezug auf die Frage, wer im Rahmen des Projekts sprechen kann und wer nicht.

Es ist ein Projekt, das undemokratisches Verhalten und demokratiepolitische Konflikte inszenierte und Vertreter_innen entgegengesetzter Positionen als Darsteller_innen involvierte, aber nicht unbedingt in Strukturen hineingewirkt hat.

Ich würde nicht sagen, dass das Projekt gar nicht in Strukturen hineingewirkt hat. Es ist ein Referenzpunkt für alle geworden, die Projekte zur Migrations- und Grenzpolitik machen. Das Zentrum für politische Schönheit, um eines der jüngeren Beispiele zu nennen, ist ja sehr stark von Schlingensief beeinflusst. Natürlich hat sein Projekt an den Strukturen der Grenzpolitik nichts verändert, aber es hat sicher ein paar Menschen politisiert, dahingehend vielleicht, dass sie sich Fragen wie ‚Wer darf hier sprechen und wer nicht?‘ stellten.

 

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Höller, Christian/Rancière, Jacques (2007): Entsorgung der Demokratie. Interview mit Jacques Rancière. Online unter www.eurozine.com (10.10.2017).

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Lilienthal, Matthias/Philipp, Claus (2000) (Hg.): Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.

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Pilić, Ivana/Wiederhold, Anne (Hg.) (2015): Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft – Transkulturelle Handlungsstrategien am Beispiel der Brunnenpassage Wien. Bielefeld: transcript.

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Website Gazino Royal. Online unter http://www.wienwoche.org/de/316/gazino_royal_viyana (10.10.2017)

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Website Graus der Geschichte. Online unter http://www.wienwoche.org/de/364/graus_der_geschichte (10.10.2017)

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Website WahlweXel jetzt! Online unter http://www.wahlwexel-jetzt.org/ (10.10.2017)

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Website WIENWOCHE. Online unter http://www.wienwoche.org/de/wienwoche/ (10.10.2017)

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Website Zentrum für politische Schönheit. Online unter https://www.politicalbeauty.de/ (10.10.2017)

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WIENWOCHE 2015/Verein zur Förderung der Stadtbenutzung (Hg.) (2015): Programm WIENWOCHE 2015. Harmonija, na ja … Wien: Rema-Print.

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Yildiz, Erol (2015): Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit. In: Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 19-36.

Der Beitrag erschien erstmals in Bleuler, Marcel/Moser, Anita (Hg.) (2018): ent/grenzen. Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit. Bielefeld: transcript Verlag. Wiederabdruck mit Genehmigung durch den transcript Verlag (2018).

Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen.

Anita Moser, Can Gülcü ( 2018): „Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“. Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/radikalitaet-findet-dort-statt-wo-ich-meine-eigenen-regeln-breche/