Die ,Flut‘ in unseren Köpfen

Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen

,Willkommenskultur‘ und ,besondere bauliche Maßnahmen‘

Wie in Deutschland wird auch in Österreich regelmäßig das Wort des Jahres gewählt, ermittelt von der Forschungsstelle Österreichisches Deutsch der Universität Graz in Kooperation mit der APA (Austria Presse Agentur). 2015 war es ,Willkommenskultur‘. Ebenso wurde über das heimische ,Unwort‘ des betreffenden Jahres abgestimmt: ,Besondere bauliche Maßnahme‘ lautete dieses, eine von der damaligen ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner geäußerte euphemistische Umschreibung für den neu errichteten Maschendrahtzaun an der steirisch-slowenischen Grenze, der die Geflüchteten davon abhalten sollte, Österreich zu betreten. Nur wenige Monate, nachdem der Begriff der ,Willkommenskultur‘ Eingang in den öffentlichen Diskurs in Österreich gefunden hatte, wurde er zunehmend von der Rede über ,Grenzkontrollen‘ – unter die auch oben erwähnte ,besondere bauliche Maßnahme‘ fiel – verdrängt.

Vor 2015 war der Begriff der ,Willkommenskultur‘ in Österreich praktisch unbekannt, während er in Deutschland bereits Karriere in Politik und Medien gemacht hatte. Dort war das Wort schon 2005 in die öffentliche Debatte eingeflossen, ursprünglich als Forderung der Wirtschaft an die Regierungspolitik: „Willkommenskultur zielt vorwiegend auf qualifizierte Neuzuwanderer, die heute aus volks- und betriebswirtschaftlichen Gründen willkommen sind. Sie richtet sich dezidiert nicht an solche, die unwillkommen, aber aus europarechtlichen Gründen ebenfalls zu akzeptieren sind“, erläutert der Historiker Klaus Bade die Hintergründe zu diesem „top-down gestifteten Elitekonzept“. (Bade 2014)star (*7)

Linke Medien in Deutschland standen dem Begriff daher von Beginn an kritisch gegenüber. Unter dem ironischen Titel „Willkommensweltmeister“ kritisiert etwa die Monatszeitung ak – analyse & kritik, wie das verklärte Selbstbild der deutschen Nation als Avantgarde einer neuen ,Willkommenskultur‘ zugleich Gesetzesverschärfungen und repressive Politiken gegen Migrierende sowie zunehmende rassistische Übergriffe überdecke. (Danielzik 2015)star (*8) Aber auch Migrant_innen und People of Color – oft selbst (ehemalige) Geflüchtete und deren Kinder – formulieren Kritik: Nicht nur hinterfrage der Begriff der ,Willkommenskultur‘ die Vorstellung eines homogenisierten nationalen Selbstverständnisses nicht. Vielmehr stütze er diese sogar, da er keine Verbindung zu dem herstelle, was in der Vergangenheit bereits stattgefunden hat: Proteste von Refugees und Kämpfe von Migrant_innen gegen Entrechtung, Marginalisierung und Rassismus und für Bewegungsfreiheit, Aufenthaltsrechte und gesellschaftliche Teilhabe.

 

Temporärer Konsens

,Willkommenskultur‘ ist auch Gegenstand einer im Juli 2017 veröffentlichten Studie (Haller 2017)star (*9) , die vom Medienwissenschaftler Michael Haller von der Universität Leipzig im Auftrag der Otto Brenner Stiftung der IG Metall erstellt wurde. Untersucht wurde darin die Medienberichterstattung in Deutschland zur sogenannten Flüchtlingskrise zwischen Februar 2015 und März 2016. Anhand von Berichten in reichweitenstarken Onlinemedien wie tagesschau.de, spiegel.de und focus.de sowie tagesaktuellen „Leitmedien“ (ebd.: 10)star (*9) wie FAZ, Die Welt und Süddeutsche wurde u. a. ausgewertet, entlang welcher Ereignisse berichtet wurde, wer zum Thema ,Flüchtlinge‘ zu Wort kam und wie das Wort ,Willkommenskultur‘ im medialen und politischen Diskurs zum Konsensbegriff avancierte.*1 *(1)

Ein Fazit der aufwändig angelegten Studie: Die mediale Berichterstattung über die ,Flüchtlingskrise‘ hätte vor allem die Meinungen und Perspektiven der Regierungsparteien, sprich der politischen Eliten, reflektiert, während unmittelbar betroffene Akteur_innen – allen voran Geflüchtete, aber auch Helfer_innen, Aktivist_innen etc. – vergleichsweise selten im O-Ton wiedergegeben wurden. Von einem sehr normativen Verständnis eines „neutral berichtenden Qualitätsjournalismus“ ausgehend, kamen Haller und das Forscher_innenteam jedoch auch zum Schluss, dass die Medien Gegenstimmen (Haller selbst spricht von „besorgten Bürgern“) aus dem öffentlichen Diskurs gedrängt und „zu positiv“ berichtet hätten – und damit zum Verlust des Vertrauens in die Medien beitragen würden. Eine Schlussfolgerung, die nicht unwidersprochen blieb: „Genau genommen ist die eher positive ,Flüchtlings‘-Berichterstattung der ,Ausreißer‘ in einer ansonsten weithin negativen Migrationsberichterstattung“, wie die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Christine Horz (2017)star (*10) von der Ruhr-Universität Bochum konstatiert.

 

star

Arendt, Hannah (1986): Wir Flüchtlinge. In: Knott, Marie Luise (Hg.): Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin: Rotbuch. S. 7–16.

star

Posselt, Gerald (2017): Dimensionen sprachlicher Gewalt, in: uni:view Magazin, 14.02.2017. Online unter: https://medienportal.univie.ac.at/uniview/studium-lehre/detailansicht/artikel/dimensionen-sprachlicher-gewalt

star

Hess, Sabine/Kasparek, Bernd /Kron, Stefanie u.a. (Hg.) (2016): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Berlin: Assoziation A.

star

Albisser, Raphael (2016): ,Flüchtlingsströme‘: Wie Begriffe unser Handeln manipulieren, 10.02.2016. Online unter: www.fluechtlingshilfe.ch/fakten-statt-mythen/beitraege-2016/fluechtlingsstroeme-wie-begriffe-unser-handeln-manipulieren.html

star

Gerda Henkel Stiftung (2015): Migrationsbewegungen sind Seismographen gesellschaftlicher Zustände, Interview mit Manuela Bojadžijev, 15.09.2015. Online unter: http://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/migrationsbewegung

star

Lakoff, George (2003): Metaphor and War, Again, 17.03.2003. Online unter: www.alternet.org/story/15414/metaphor_and_war,_again

star

Bade, Klaus J. (2014): Vortrag: Kulturrassismus und Willkommenskultur, 12.12.2014 Online unter: kjbade.de/wp-content/uploads/2014/12/2014-12-12_Potsdam-Kurzfassung.pdf

star

Danielzik, Chandra-Milena (2015): Willkommensweltmeister dürfen das, in: ak – analyse & kritik, Nr. 610, 17.11.2015. Online unter: https://www.akweb.de/ak_s/ak610/43.htm

star

Haller, Michael (2017): Die ,Flüchtlingskrise‘ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt/Main. Online unter: www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH93_Fluechtingskrise_Haller_2017_07_20.pdf

star

Horz, Christine (2017) : Auf dem Prüfstand: die Studie des Medienwissenschaftlers Michael Haller zur ,Flüchtlingsberichterstattung‘ in deutschen ,Leitmedien‘, 28.08.2017. Online unter: www.neuemedienmacher.de/wp-content/uploads/2017/10/Haller-auf-dem-Pru%CC%88fstand_Horz.pdf

star

Jöris, Lisa (2015): Wider den Begriff ,Flüchtling‘: Zu den Hintergründen eines scheinbar neutralen Begriffes. Diskussionspapier der Heinrich Böll Stiftung Sachsen-Anhalt, 08.10.2015. Online unter: www.boell-sachsen-anhalt.de/2015/10/wider-den-begriff-fluechtling-diskussionspapier

star

Neue Deutsche Medienmacher (o.J.): Glossar. Online unter: http://glossar.neuemedienmacher.de

star

Neue Deutsche Medienmacher (o.J.): Asyl. In: Diess.: Glossar. Online unter: http://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/kategorie/07-asyl

star

Klimpfinger, Viktoria (2015): Warum es wichtig ist, ob wir ,Flüchtling‘ oder ,Refugee‘ sagen, 10.11.2015. Online unter: www.vice.com/de/article/mv4wa3/fluechtling-vs-refugee-begriff-911

star

Varatharajah, Sinthujan (o.J.): Begrifflichkeiten im Kontext von Flucht und Asyl. Online unter: www.kubinaut.de/de/themen/9-kontext-asyl/begrifflichkeiten-im-kontext-von-flucht-und-asyl

star

Schloenhardt, Andreas (2015): Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert, 09.06.2015. Online unter: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

star

Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.) (2016): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung, Wien/Berlin: Mandelbaum Verlag.

star

Pollak, Alexander (2012): Mikl-Leitner und die bösen Schlepper, 22.03.2012, http://derstandard.at/1332323573097/Alexander-Pollak-Mikl-Leitner-und-die-boesen-Schlepper

star

UN (2008): Zusatzprotokoll gegen die Schlepperei von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Online unter: www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar55025anlage3-oebgbl.pdf

star

Trump, Donald J. (2018): These big flows of people are all trying to take advantage of DACA. They want in on the act! Tweet, 1.4.2018. Online unter: https://twitter.com/realDonaldTrump/status/980451798606602241

Dieses breite Einvernehmen währte nur kurz – nämlich bis zu den Ereignissen der Silvesternacht 2015/2016 in Köln, die in der öffentlichen Meinung das Ende der ,Willkommenskultur‘ markierte.

Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll im Volltext zum Nachlesen: www.unhcr.org/dach/at/genfer_fluechtlingskonvention_und_new_yorker_protokoll-2

In der englischen Bezeichnung ,refugee‘ steckt das Wort ,refuge‘, zu Deutsch ,Schutzort‘ oder ,Zuflucht‘.

1997 wurden, angeführt von Italien und Österreich, der Vollversammlung der Vereinten Nationen zwei Entwürfe für neue Übereinkommen vorgestellt, die sich umfassend mit der Bekämpfung und Bestrafung der Schlepperei, insbesondere mit der Schaffung einer international anerkannten Straftat, beschäftigten. Beide Vorschläge wurden später miteinander verbunden und als Zusatzprotokoll in die Entwicklung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aufgenommen. Quelle: www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel

Development, Relief and Education for Alien Minors (Dream) Act

Vina Yun ( 2018): Die ,Flut‘ in unseren Köpfen. Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/die-flut-in-unseren-koepfen/