Im Gehen

Eine der Städte im Heute, in denen die gelebte Zukunft in aller Dichte bereits in der Gegenwart begonnen hat, ist Hongkong. Dieser Zukunft und ihren Auswirkungen auf die Körper und die Subjekte bin ich im Frühjahr 2011 nachgegangen. „Ich wohnte in der Boundary Street. Die Namen der Stadt speichern, wie die Vergangenheit mit dem Raum umgegangen ist. Die raumpolitischen Konstellationen der Vergangenheit laufen in der heutigen Benutzung als zeitliches Parallelereignis in den Schritten des Alltags mit. Die Boundary Street war im 19. Jahrhundert die Grenze, der südliche Teil war britisch, der nördliche Teil chinesisch, bis 1898, dann für 99 Jahre britisch bis 1997. Die Straße war keine Straße, sondern eine aus Bambus gebildete Grenze, eine Barrikade, nicht Transport, sondern dessen Verhinderung. Straßen und Grenzen erzählen staatliche Logiken, laufen als raumgewordene Gouvernmentalität durch die Körper und Bewegungen der Stadtbewohner_innen. Wenn wir uns auf ihnen bewegen, bewegen wir uns in den hegemonialen Gesetzen, die der Raum artikuliert. Wir bewegen uns aber auch in unseren eigenen Artikulationen, die wir als Stadt erzeugen.“ (Krasny 2011: 20)star (* 4 ) Die Gegenwart läuft mit ihren Transformationen durch die Subjekte der Stadt Hongkong. Die Körper gehen mit, die Körper protestieren, die Körper passen sich an die veränderten Zustände an. Die Transformation der Körper in den Urbanisierungsprozessen ist ungeschriebene Geschichte. Es lässt sich nicht erfassen, nur imaginieren. Die Lage der Subjekte lässt sich analysieren. Die Lage der Körper in ihren Adaptierungen an die Transformationslogiken ist wesentlich komplexer für die Analyse. Die Körper sind voller Resilienz, sie adaptieren, sie leisten Widerstand, sie verändern. Urban Renewal verändert das Verhältnis zwischen den Subjekten, den Körpern und ihrer Stadt Hongkong. Die Urban Renewal Authority, 2001 gegründet, hat die Aufgabe der Koordinierung der Aktivitäten, die Abriss alter Bausubstanz, Neubau, die Re-Housing und Kompensation der Bewohner_innen, Mieter_innen, Besitzer_innen betreffen. Wurde das Land vom Meer „reclaimed“, zurückgefordert, zurückgewonnen, so werden die über 30 Jahre alten Gebäude „resumed“, wiedererlangt. Seit 2001 gibt es einen intensiven Politisierungsprozess um das Recht auf Wohnen in Hongkong, aktivistische und künstlerische Aktivitäten, Gründung von Concern Groups und solidarischen Nachbarschaftsaktionen. Die Forderungen auf das Recht auf Stadt, das Recht auf die eigene Stadtgeschichte nahmen exponentiell zu.

Die vier Familien, mit denen die Walks stattfanden, wohnten in Sham Shui Po und wurden vor zwei Jahren „relocated“. Die für die Walks angewandte Methode bestand aus dem Mit-Gehen, dem Sprechen entlang des Weges. Durch diese Methode fanden die Artikulationen des Alltags Ausdruck, die im Alltag oft unausgesprochen bleiben, subaltern durch ihr Verschwiegenwerden. Die Artikulationen wurden relational in den Parametern der Stadtentwicklung und der Stadtgeschichte gelesen. Sham Shui Po ist traditionell einer der ärmsten Bezirke der achtzehn Hongkonger Bezirke.

Hong Kong Walk

Hong Kong Walk

Einer der vier Wege begann in der neuen Wohnung von Mr. Lee. Die Wohnung war in einem Public Housing Estate, namens Harmonie II. Sui Keung Lee hatte seine Automechaniker-Garage/Wohnung als Treffpunkt für die selbstorganisierten Abendessen der Concern Group genutzt. Sein aktivistisches Engagement führte ihn und seine Frau zu vielen neuen sozialen Verbindungen, das Netzwerk der Nachbar_innen erweiterte sich um Künstler_innen, Aktivist_innen, Forscher_innen. Bevor wir den Weg begannen, zeigte er seine aktivistischen Memorabilien, Flyer, Zeitungsausschnitte, Fernsehinterviews. Wiewohl die neue Wohnung von der alten Nachbarschaft eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt war, bleiben die Verbindungen aufrecht. Mr. Lee hatte keine Garage mehr. Deshalb war er regelmäßig in der alten Nachbarschaft anzutreffen, da er seine Arbeit räumlich dezentralisieren musste, auf das Netzwerk der Nachbarschaft aufteilen, sein Werkzeugkoffer war unter der Abwasch im kleinen Gemüseladen untergebracht, der Parkplatz vor dem Gemüseplatz wurde zum Autoreparierarbeitsplatz, die Garage gegenüber manchmal zu seinem Arbeitsplatz. Er teilte die Arbeit dann mit den anderen. Die Arbeit als Mechaniker kam zu ihm, über sein altes Klientennetz, über seine neuen sozialen Beziehungen aus dem aktivistischen Umfeld. Der Prozess des Urban Renewal führte für Mr. Lee und Mrs. Lee zu einer politischen und aktivistischen Resubjektivierung, zu unerwarteten sozialen Beziehungen. Ihre Stimmen wurden öffentlich wahrgenommen. Der Radius in der Stadt erweiterte sich. Mr. Lee wurde zu einem nomadischen Arbeitssubjekt, das neoliberale Kennzeichen der Ich-AG verknüpfte mit dem Geselligen, dem Teilen, dem politischen Engagement. Mrs. Lee wollte die Auswahl, das Gustieren im Wet Market nicht missen. Die sozialen Begegnungen, die Gespräche mit den Besitzerinnen der kleinen Geschäfte waren ihr Sozialleben. Im Estate war sie einsam. Deshalb nahm sie den langen, mit ihrem kleinen Kind beschwerlichen Weg in Kauf. In die sozialen Beziehungen in der Stadt investierte sie. Ohne diese wäre sie isoliert gewesen (vgl. Krasny 2011: 21f.)star (* 4 ).

Mein Mit-Gehen bringt die Subjekte der Stadt zum Sprechen. In ihrem Sprechen artikuliert sich die Wirkung urbaner Transformationsprozesse und deren Eingeschriebenwerden in die Lebensläufe der Subjekte. Die Stadt geht durch die Subjekte. Die Transformation der Stadt erzeugt Transformationen der Subjekte, genetivus subjectivus und genetivus objectivus, die Stadt bewirkt, dass sich Subjekte verändern, Subjekte bewirken, dass sich die Stadt verändert. Der Maßstab der Veränderungen verbindet die makro- und mikropolitischen Ebenen. Während der britischen Kolonialregierung Hongkongs hieß der Leiter der Regierung Governor, nach 1997 wurde eine neue Position geschaffen, mit dem Namen Chief Executive of Hongkong, der durch ein von der Volksrepublik China bestimmtes Wahlkomitee gewählt wird. Die Logik des Spätkapitalismus, die im Begriff des Chief Executive ihre Verkörperung findet, bildet eine Personalunion mit der Politik der Volksrepublik China, die durch das Verfahren der Wahl ihre Durchführung findet. Gehe ich mit den Subjekten der Gegenwart des Jahres 2011 durch ihre Stadt in Transformation, so artikulieren sie, wie das Regiertwerden und der großmaßstäbliche Stadtumbau zur Metropole der effizienten Dichte die Leben der Einzelnen bestimmend durchzieht.

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Donald, James (1999): Imagining the Modern City. Minneapolis: University of Minnesota Press.

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Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik, Berlin: Merve Verlag.

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Keiller, Patrick (2012): The Possibility of Life’s Survival on the Planet, London: Tate Publishing.

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Krasny, Elke (2011): Hong Kong City Telling. Reclaimed. Redeveloped. Resumed. Resubjectivated. In: Urbane Räume: Zwischen Verhandlung und Verwandlung. Kulturrisse, Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik, Heft 2/2011, Wien: IG Kultur Österreich.

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Krasny, Elke (2008): Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien, Wien: Metro Verlag.

Veredelung von Geweben.

Elke Krasny ( 2013): Im Gehen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/im-gehen/