Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik
Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?
Zur Auffassung von kulturellem Widerstand
2002 erscheint mit dem Cultural Resistance Reader ein von Stephen Duncombe herausgegebener Sammelband zu Formen des Widerstands, die weniger aus einem konkreten Anlass resultieren, als sich gegen grundsätzliche Gegebenheiten richten, und die sich über kulturelle Praktiken, Verhaltensformen oder auch demonstrative und provokative Manifestationen äußern. Die multidisziplinären sowie aus unterschiedlichen historischen Epochen stammenden Beiträge in Duncombes Sammelband zeugen von einem weiten Kultur– sowie Widerstandsbegriff. Allein die Unterschiedlichkeit des Kontextes wie auch der Motivationen lässt einen zu eng gefassten Kulturbegriff für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, kulturelle Widerständigkeit, fragwürdig erscheinen. Kultur ist mitnichten das, was innerhalb institutionalisierter Bahnen verläuft und sich eindeutig als Darbietung aus Musik, Kunst oder darstellenden Künsten beschreiben lässt. Kultur entwickelt überall und zu jeder Zeit neu ihre eigenen Formen und lässt sich nicht ein für alle Mal mit einem festgefügten Begriff umschreiben. Im Gegenteil geht es auch darum, dass Kultur sich immer wieder neue Freiheiten erringt, die neue Denk– und Gestaltungsräume ermöglichen. Nur so ist Fortschritt überhaupt denkbar. Befreit von Einschränkungen und Dominanz der herrschenden Gepflogenheiten erweisen sich die neuen Ausdrucksformen als eine Herausforderung, die ebenso dazu verleitet, sie als Quertreiberei abzuweisen wie auch als Chance für Änderungen zu begreifen. Da sich das Widerständige in jedem Fall gegen das Vorhandene richtet, lassen sich kulturelles und politisches Aufbegehren nicht immer scharf gegeneinander abgrenzen. Zu sehr spielen politische Entscheidungen in kulturelle Zusammenhänge hinein, wie auch umgekehrt kulturelle Praktiken auf die Politik Einfluss nehmen.
In Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion richtete sich der Widerstand gegen die herrschende Kunstpolitik, die allen Kunstschaffenden mit dem Sozialistischen Realismus vorschrieb, welche Form und welche Inhalte die Werke haben durften. Da bei einem Verstoß mit Sanktionierungen brutalster Art zu rechnen war, fanden sämtliche Ereignisse der inoffiziellen Szene in Privaträumen, an unbeobachteten Orten, zum Teil außerhalb der Städte statt. Beispiele sind die Aktion im Wald von Nonna Goriunova und Lev Nussbaum oder die Reisen aus der Stadt unter der Leitung von Andreij Monastirskij seit Mitte der 1970er Jahre, bei denen die Kunstaktionen außerhalb Moskaus ausgeführt wurden. Auch wenn all diese Aktionen sich scheinbar heimlich und im Versteckten abspielten, waren sie doch als Kritik gegen die herrschende Doktrin gemeint. Allein schon die Tatsache, dass die Künstler*1 *( 1 ) nicht öffentlich hervortreten konnten, enthält einen Teil dieser Kritik.
Nach 1990 beginnen Künstler mit Aufsehen erregenden Aktionen an die Öffentlichkeit zu treten. Für ihre Auftritte wählen sie Orte wie den Roten Platz oder das Gelände vor dem Weißen Haus. Ihre Kritik richtet sich offen, mit anstößigen Worten und Gesten gegen die aktuelle Situation und die für sie verantwortlichen Politiker. Es sind zunächst die sogenannten Moskauer Radikalen, dann Gruppen wie Woina und Pussy Riot, aber auch das Kollektiv Что делать? (Chto delat?), zu Deutsch „Was tun?“, das 2003 in St. Petersburg von Dmitry Vilensky ins Leben gerufen wurde und neben Künstlern auch Theoretiker, Philosophen, Kritiker und Schriftsteller einschließt.
Viola Hildebrand-Schat ( 2013): Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik. Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/aktionismus-in-der-russischen-gegenwartskunst-zwischen-kultur-und-politik/