Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik
Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?
Die Russische Avantgarde als Vorgeschichte gegenwärtiger Positionierung
Gerade die Beispiele der Aktionskunst zeigen, dass ihre Vertreter durchweg mehr intendieren als ein bloßes l’art pour l’art. Ihre Handlungen sollen aufrütteln, die Aufmerksamkeit auf neuralgische Punkte innerhalb des sozialen und politischen Gefüges lenken und zum Nachdenken anregen. Es werden nicht mehr die tradierten Mittel der Kunst eingesetzt oder wenn, dann in einer unüblichen, häufig brüskierenden Weise. Alltägliche Gesten werden ins Absurde gesteigert und zur Kunst erklärt. Auch wenn eine solche Kunst Züge des Politischen trägt, unterscheidet sie sich davon durch ihre impliziten Absichten. Die Kritik wird nicht einfach nur verbal durch Flugblatt, Transparent oder Aufruf geäußert, sondern in raffinierte Vorgehensweisen eingebunden, in denen sie durch Deformation des Üblichen offenkundig wird.
Doch ist künstlerische Aktion nicht automatisch mit Kritik gleichzusetzen. Das aktionistische Engagement der russischen Avantgardisten war nicht gegen Staat und Gesellschaft gerichtet, sondern unterwarf sich ganz den Zielen der kommunistischen Partei. Im Glauben an eine bessere Gesellschaft stellten die sowjetischen Künstler ihre Aktivitäten den postrevolutionären kommunistischen Bestrebungen zur Verfügung. Neben Entwurfs- und Gestaltungsaufgaben für Verlagswesen und industrielle Produktion waren sie mit der Ausschmückung der Straßen an den Staatsfeiertagen, der Bereitstellung von Dekorationen für Aufmärsche, Umzüge und politische Auftritte wie den gesamten Apparat der Politpropaganda beauftragt. Werke wie Wladimir Tatlins Turm für die III. Internationale (vgl. Bollinger/Medicus 2013) (* 1 ), der am entsprechenden Tag bei einem großen Umzug mitgeführt wurde, oder mit Bildern und Symbolen der Sowjetmacht ausgeschmückte Eisenbahnwagons, die zu Propagandazwecken durch das gesamte Land fuhren, waren mit Blick auf ihre spezifische Aufgabe entworfen.
Die historischen Symbole und Motive dienen wiederum den Künstlern der russischen Gegenwart als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes und der ihrer eigenen künstlerischen Position. Die Rückwendung zur Avantgarde setzt bereits in den 1980er Jahren ein und bestimmt zum einen die sogenannte Retrogarde, bei der in einem Nachvollzug die Traumata des Scheiterns aufgearbeitet werden sollen, zum anderen aber auch mit dem Versuch, dort anzuknüpfen, wo die avantgardistischen Ziele zum Erliegen kamen.
Auch wenn sich die künstlerische Aktion in Russland bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen lässt und auch nach den Avantgardebewegungen mit Aktionen im Außenraum ihre Fortsetzung findet, erregen all diese Manifestationen zu keinem Zeitpunkt öffentliches Aufsehen. Zu denken ist an den Auftritt von Nonna Goriunova und Francisco Infante-Arana im verschneiten Wald, bei dem sie in den 1960er Jahren gezielt gegen das Gebot öffentlicher Körperentblößung opponierten, an das Auftreten von Gruppierungen wie Kollektive Aktion, Medizinische Hermeneutik, Fliegenpilz, Nest, der 1975 von Michail Chernyshov begründete Gruppe Roter Stern, oder an die aus Anatoly Zhigalov und Natalia Abalakova bestehende Gruppe Totart, die mit sozialen Handlungen außerhalb der politischen Sphäre operierte; so animierte Zhigalov beispielsweise 1982 als Wohnblockswart die Bewohner dazu, die Bänke des Areals mit Goldfarbe anzustreichen. Ein weiteres Beispiel sind die Mitkis um Olga und Aleksandr Florenskij. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Avantgardisten – so Osmolovskij (Osmolovskij 2005) (* 7 ) – waren dem Moskauer Underground eher kulturerhaltende als zerstörerische Intentionen eigen, was wiederum zu Widersprüchen führte, da diese Absichten bereits auf einer geistigen Krise gründeten.*2 *( 2 ) (* 7 ) So blieben sie Angelegenheit künstlerischer Gruppierungen, die als vom Übrigen abgeschirmte Gemeinde in ihren eigenen Kreisen operierte. Öffentlich, lautstark und in jeder Hinsicht provokativ werden die von Künstlern initiierten Aktionen erst mit den Moskauer Radikalen zu Beginn der 1990er Jahre.
Die Aktion, während des stalinistischen Regimes und zur Zeit der Sowjetunion aus der offiziellen Kunst vollständig ausgeschlossen, bricht nach der Perestroika mit einer bis dahin nicht gekannten Vehemenz hervor. Selbst die Aktionen westlicher Zirkel sind zu keinem Zeitpunkt mit solcher Kompromisslosigkeit durchgesetzt worden, wie beispielsweise die der Moskauer Radikalen und ihnen nachfolgender Gruppen. Auffallend und ihnen gemeinsam sind Angriffe auf das herrschende System, das für die Verhältnisse verantwortlich gemacht wird.
Aber es geht um mehr als nur eine Stellungnahme im eigenen Land. Vielmehr sieht sich die postsowjetische Szene mit den Gesetzlichkeiten des globalen Kunstmarktes konfrontiert, die im weitgehend abgeschlossenen Raum der Sowjetunion für das Kunstschaffen belanglos waren. Das wirft neue Probleme auf und die Gefahr, die geografische Herkunft, Nation und nationale Eigenschaften der Kunst wie auch ihrer Schöpfer über künstlerische Qualitäten und Anschauungen zu stellen, ist groß. Sie wird relevant, wenn beispielsweise die Präsenz russischer Künstler bei internationalen Ausstellungen durch politische Argumente gerechtfertigt wird und deshalb eher Kontakte zum westlichen Establishment hergestellt werden als zu den Institutionen im eigenen Land. (vgl. Osmolovskij 2005: 681) (* 7 ) Eine traurige Bilanz, wenn daraus folgt, dass die Kunst gar nicht als das wahrgenommen wird, was sie sein will, sondern als Politikum verhandelt wird.
Hinzu kommt, dass die Künstler der 1990er und der nachfolgenden Jahre eine doppelte Enttäuschung erleben: Das ist neben der Erkenntnis vom Scheitern der ersten Avantgarde auch die Desillusionierung von Erwartungen, die während der Perestroika-Zeit geweckt wurden. Das neue Wirtschaftssystem führt nicht zu einer allgemeinen Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern lässt lediglich die Kluft zwischen den Schichten offensichtlich werden. Die Unterschiede zwischen Arm und reich erweisen sich als eklatant und das mit der Putin-Regierung etablierte System als kaum weniger repressiv als das stalinistische.
Viola Hildebrand-Schat ( 2013): Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik. Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/aktionismus-in-der-russischen-gegenwartskunst-zwischen-kultur-und-politik/