Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik
Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?
Kultureller Widerstand – zur Frage der Grenze von Kunst und Politik
Steven Duncombes Anthologie zum kulturellen Widerstand liefert das Material, um die im postsowjetischen Russland aufkommenden neuen Kunstformen zu deuten. Von Künstlern und Intellektuellen initiiert und als Kunst deklariert, richtet sich das Vorgehen in einem das Publikum ungefragt und unvermittelt einbeziehenden Gestus an die Öffentlichkeit jenseits von offiziellen Initiativen oder gar Parteien.
Die Grenze zwischen politischer und künstlerischer Manifestation ist dabei nicht immer klar zu benennen, da politischer und kultureller Diskurs ein System von Zeichen und Symbolen teilen. Digitalisierung und Virtualität sind Faktoren, die die postindustrielle Gesellschaft bestimmen und aufgrund der Schnelligkeit bei der Umsetzung tragen sie weiter dazu bei, die Unterschiede von Kunst und Politik aufzuheben. Immerhin bedienen sich beide der gleichen Mechanismen, planen mit den gleichen Systemen und haben die gleiche Unverbindlichkeit.
Das Kunstschaffen im Zeitalter des Dekonstruktivismus sieht sich mit der Behauptung konfrontiert, dass alles schon in irgendeiner Form vorhanden sei, es unmöglich oder sinnlos geworden sei, Neues schaffen zu können. Neue Bedeutung könne daher nur mehr durch Appropriation oder Reinszenierung gewonnen werden. Die Gruppe Chto delat? beruft sich auf das politisch konnotierte Schaffen der Avantgarde, deren Ziele von den marxistischen Idealen einer sozialistischen Gesellschaft geleitet waren, zeigt aber am Scheitern der Avantgarde, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht allein mittels der marxistisch-leninistischen Prinzipien bewirkt werden könne, solange nicht auch das menschliche Handeln mit seiner ganzen Subjektivität als ein wesentlicher Teil berücksichtigt werde. Nun stemmt sich aber die Macht des Kollektivs gegen die Subjektivität und legt den Fokus auf die kollektive Aktion. Die Gruppe unternimmt erst gar nicht den Versuch, Kunst losgelöst von Funktionalität zu sehen. Kunst sei, ebenso wie alles andere, was aus menschlicher Aktivität hervorgeht, auf ihren Tauschwert hin zu bewerten (vgl. Penzin/Vilensky 2009) (* 8 ). Auch die aus der Avantgarde hervorgehende Vorstellung, dass Kunst ganz im Leben aufzugehen habe, kann heutzutage nicht mehr ernst genommen werden.
Hatten die russischen Produktionisten in der Kunst ein Instrument zur Konstruktion des Lebens gesehen, hatte der italienische Operaismo der 1960er Jahre auf die Formierung eines neuen sozialen Subjekts gehofft, so hat doch inzwischen die Entwicklung des Kapitalismus in der Totalität des Kapitals gezeigt, dass jegliche Form von Subjektivität aporetisch bleibt.
So müssen angesichts der gewandelten Verhältnisse auch die marxistische Theorie und ihre Anwendbarkeit in einer gewandelten Gesellschaft neu hinterfragt, die marxistischen Gedanken neu interpretiert und auf ihre Gültigkeit hin geprüft werden. Marx’ Theorie war eine Antwort auf die Ausweitung des Kapitals und die Vereinnahmung neuer Märkte. Die Antwort bestand im Aufruf nach Solidarität der Enteigneten: Arbeiter, Bauern, Intellektuelle, ungeachtet von Ethnie, Religion oder Nation. Die Globalisierung erfordert eine Aktualisierung der Theorie mit gleichem universellen Anspruch wie dem der Internationalen, wobei ihre intellektuelle Radikalisierung schnell an Fundamentalismus grenzt und mit explosiven Äußerungen einhergeht, wie das Beispiel der Moskauer Radikalen, aber auch die Auftritte der Gruppe Chto delat? zeigen.
Viola Hildebrand-Schat ( 2013): Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik. Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/aktionismus-in-der-russischen-gegenwartskunst-zwischen-kultur-und-politik/