„Recht auf Stadt“ – mehr als nur ein guter Slogan
Mit der Forderung nach einem Recht auf die Stadt wird in Anlehnung an die Überlegungen von Henri Lefebvre ein allgemeingültiger Anspruch auf den Nichtausschluss von städtischen Ressourcen und Dienstleistungen – oder allgemeiner: die Qualitäten des Städtischen – erhoben. In seinem Text Le droit à la ville beschreibt Henri Lefebvre am Beispiel von Paris die kapitalistische Stadt, insbesondere ihre sozioökonomische Segregation und die damit einhergehenden Entfremdungserscheinungen wie die „Tragik der banlieusards“, die in weit vom Zentrum entfernte „Wohnghettos“ vertrieben wurden (Lefebvre 1973: 121) (* 24 ).
Das Recht auf die Stadt ist dabei nicht als ein juristisch einklagbarer Rechtsanspruch zu verstehen, sondern steht für die Legitimationskraft einer moralischen Ökonomie der Selbstermächtigung und eine Klammer zur Kooperation verschiedener stadtpolitischer Akteure (Meyer 2009) (* 27 ). Zugleich werden mit einem Recht auf die Stadt Visionen für eine andere, emanzipative und gerechtere Stadtentwicklung formuliert. Städtische Utopien sind dabei nicht als Masterplan für eine bessere Stadtentwicklung zu sehen, sondern eher als ein Anforderungskatalog an konkrete Stadtentwicklungsprojekte und Stadtpolitiken. Das Recht auf die Stadt orientiert sich ökonomisch an einer Umverteilung zu Gunsten der benachteiligten, ausgegrenzten und diskriminierten Gruppen in der Stadt, kulturell an der Anerkennung und Berücksichtigung von Differenz und unterschiedlichen Zugangsweisen zum Städtischen sowie politisch an der Ermöglichung zur Mitgestaltung städtischer Entwicklungen für alle Gruppen der Stadt. Als Forderung vor dem Hintergrund der fordistischen Stadtplanung des Nachkriegsfrankreichs entwickelt, bietet das Konzept eine geeignete Orientierung in den städtischen Konflikten im Neoliberalismus (Harvey 2008) (* 14 ).
Vor diesem Hintergrund stellt er die Forderung nach einem Recht auf die Stadt als kollektive Wiederaneignung des städtischen Raumes durch buchstäblich an den Rand gedrängte Gruppen auf. Lefebvres Aufruf, das Recht auf die Stadt zu ergreifen und die Stadt zu verändern, bezieht sich dabei gleichzeitig auf die Stadt als physische Form und die mit ihr in Wechselwirkung stehenden sozialen Verhältnisse und Praktiken. Gemeint sind damit alle Formen des diskursiven und instrumentellen Entwurfs künftiger städtischer Entwicklungen. Ein Recht auf die Stadt – so ließe sich dieses Verständnis zusammenfassen – beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu den politischen und strategischen Debatten über die künftigen Entwicklungspfade.
Vor dem Hintergrund der fordistischen Stadtentwicklung von Paris benennt Lefebvre zunächst das Recht auf Zentralität und das Recht auf Differenz als die zentralen Bestandteile eines Rechts auf die Stadt. Das Recht auf Zentralität steht für den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastrukturen und des Wissens. Das Recht auf Differenz deutet die Stadt als Ort des Zusammenkommens, des sich Erkennens und Anerkennens und der Auseinandersetzung. In anderen stadtsoziologischen Debatten ist von der “Integrationsmaschine Stadt“ die Rede, die aus der Fähigkeit, Verschiedenartigkeiten zu verdichten, einen individuellen und gesellschaftlichen Mehrwert produziert. Eine dritte Ebene des Rechts auf die Stadt orientiert sich an den utopischen Versprechungen des Städtischen und reklamiert ein Recht auf die schöpferischen Überschüssen des Urbanen. Hintergrund dabei sind die Erfahrungen des fordistischen Klassenkompromisses, der in den funktionalen, modernen Stadtplanungen „unbefriedigende Lösungen für die sozialen Grundbedürfnisse“ hervorbrachte. So wurde etwa das Recht auf Wohnung in den Projekten des Massenwohnungsbaus nur unter dem Verlust anderer städtischer Qualitäten bedient. Insbesondere die Stadt als offener Raum des kulturellen Austausches und der Kommunikation war – so die Argumentation von Lefebvre – in den Wohnungsbauprojekten nicht zu finden.
Seit den späten 1990er Jahren wurde Lefebvres Forderung sowohl in der Geographie und Stadtforschung als auch in sozialen Bewegungen vielfach wieder aufgenommen (Mayer 2009) (* 27 ). Hintergrund ist nun weniger als bei Lefebvre die fordistische Stadt der Moderne, als vielmehr die neoliberale Stadt, die mit neuen Produktionsweisen in Verbindung steht, eine neue Gestalt annimmt und neue Ausschlüsse produziert. Für die dauerhaft ökonomisch Ausgeschlossenen oder die aus gentrifizierten Innenstädten verdrängten BewohnerInnen, aber auch für die wachsende Zahl der von restriktiven Zuwanderungspolitiken betroffenen MigrantInnen und Illegalisierten stellt sich die Frage nach der Teilhabe an der Stadtgesellschaft und ihren Ressourcen in sehr unmittelbarer Weise.
Die Attraktivität des Recht auf Stadt-Konzeptes für Protestmobilisierungen lässt sich vor allem auf seine Vieldeutigkeit zurückführen. Das Recht auf Stadt lässt sich nicht auf einen individuellen Rechtsanspruch im juristischen Sinne verkürzen (Marcuse 2009: 193) (* 26 ), sondern ist gesellschaftliche Utopie und kollektive Forderung zugleich. Das Recht auf Stadt skizziert Vorstellungen einer besseren Welt und gibt Anregungen für die Wunschproduktion sozialer Bewegungen – zugleich werden mit dem Recht auf Stadt meist konkrete Forderungen verbunden, die oft mit umsetzbaren Reformstrategien verbunden werden (Harvey 2008: 37 ff.) (* 14 ).
Andrej Holm ( 2013): Recht auf die Stadt – Soziale Bewegungen in umkämpften Räumen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/recht-auf-die-stadt-soziale-bewegungen-in-umkampften-raumen/