„Sind wir institutionell für diverses Handeln richtig aufgestellt?“

Anne Wiederhold-Daryanavard und Stephan Pauly im Gespräch mit Elisabeth Bernroitner

In diesem Interview sprechen Anne Wiederhold-Daryanavard, Künstlerische Leitung der Brunnenpassage, und Stephan Pauly, Intendant des Wiener Musikvereins, mit Elisabeth Bernroitner, über den Diversitätsbegriff, notwendige Maßnahmen für mehr Diversität im Kulturbetrieb, die Aufgabe der Kulturpolitik sowie die Erfahrungen innerhalb der Strategischen Partnerschaft der Brunnenpassage mit dem Musikverein. Das Interview ist Teil des Textbeitrages Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien von Elisabeth Bernroitner und Ivana Pilić.*1 *(1)

Was verstehen Sie jeweils persönlich unter dem Begriff Diversität?

Anne Wiederhold-Daryanavard (AW): Der Diversitätsbegriff existiert nun seit einigen Jahren endlich in unserer Gesellschaft und auch im Kultursektor wird wahrgenommen, dass es dabei nicht nur um Migration geht, sondern dass dieser intersektional zu betrachten ist. Das heißt Sprache, Geschlecht, Religion, Klasse, Bildungshintergrund, aber natürlich auch persönliche Vorlieben, körperliche Verfassung, Alter – all diese Kriterien sind wichtig zu betrachten, wenn wir im Kulturbereich über Diversität sprechen. Und wir sprechen in der Brunnenpassage häufig auch über einen diversitätskritischen Ansatz, das heißt, wir versuchen sehr wachsam damit umzugehen.

Stephan Pauly (SP): In Bezug auf den Diversitätsbegriff empfinde ich mich und auch uns als Haus als Lernende. Und was ich über Diversität gelernt habe, ist, dass die verengte Sicht auf Fragen von Migration und Herkunft viel zu kurz greift und es multiple Gründe gibt, warum es dazu kommen kann, dass Menschen von Kulturangeboten aktiv ausgeschlossen sind – beispielsweise finanzielle Mittel, die jeweilige Bildungsbiografie, Sprachkenntnisse, der Wohnort und die Entfernung zum Musikverein oder natürlich Fragen der gesundheitlichen Konstitution. Dieser multiperspektivische Begriff von Diversität macht die Bemühungen um gesellschaftliche Öffnung, um mehr Diversität schön und schwierig zugleich. Schön, weil man dadurch als Mensch (und nicht nur als Kulturprofi) vertieft lernt, dass jeder Mensch Zugang zu Kultur haben muss, ungeachtet der persönlichen Prägung einer Person aus all diesen multiplen Facetten. Aber genau das macht Diversifizierung gleichzeitig schwieriger, weil natürlich die Möglichkeiten und auch die Aufgaben damit unendlich groß sind: An wen soll man sich wenden, für wen soll man was produzieren, oder besser: mit wem?

Wo sehen Sie im Kultursektor Handlungsbedarf und welche Akteur:innen braucht es? Wer fehlt auf den Bühnen und in den Konzerthäusern dieser Stadt?

SP: Ich würde die Antwort aufteilen: auf der Bühne, hinter der Bühne und vor der Bühne. Die Welt der klassischen Musik ist eine sehr kleine Welt und sie ist oft sehr kommerziell bestimmt. Es ist auch ein Markt, in dem man sich bewegt, und der Markt bestimmt sehr stark mit, wer auf den Bühnen auftritt. Da kommen natürlich Aspekte von Vielfalt zu kurz. Wir versuchen im Musikverein, verstärkt diesen Mechanismen gegenüber sensibel zu sein, wir versuchen sehr stark darauf zu achten, dass auch auf der Bühne eine erhöhte Diversität möglich ist. Hinter der Bühne, also in unserer Institution, haben wir ebenfalls mit einem Diversifizierungsprozess begonnen. In einem institutionellen Prozess haben wir überlegt, wo im Personal ein Mangel an Diversität oder möglicherweise auch eine sehr große Fülle an Diversität vorhanden ist. In der ersten institutionellen Selbstanalyse unter der Begleitung von Ivana Pilić haben wir realisiert, dass die Diversität, wenn man sich bewusst macht, wer im eigenen Haus arbeitet, viel höher ist, als wir eigentlich dachten. Im Publikum, also vor der Bühne, gibt es in den klassischen Konzerten immer noch einen deutlich spürbaren Mangel an Diversität, der von unserem Programm und von der Kommunikation beeinflusst wird. Deswegen ist ja so ein Projekt wie „Wiener Stimmen“, das von der Brunnenpassage kuratiert wird, so wichtig für uns, weil das eine Möglichkeit ist, durch diverse Künstler:innen auf der Bühne auch ein anderes Publikum anzusprechen. Dahingegen gibt es aber Programm-Bereiche im Musikverein, in denen die Diversität des Publikums sehr hoch ist, beispielsweise in den ungewöhnlichen Programmen, die wir in den 4 Neuen Sälen präsentieren, oder natürlich in unserem Education-Bereich, bei der Musikvermittlung. Damit hat der Musikverein bereits vor 30 Jahren begonnen, vor Corona hatten wir jede Saison ca. 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Kinder-, Jugend- und Familienprogramm. Das heißt, in diesem Bereich waren wir hinsichtlich Diversität im Publikum immer schon sehr gut aufgestellt und sind es auch weiterhin.

Der Beitrag samt Interview wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 350-363. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

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Anne Wiederhold-Daryanavard, Stephan Pauly, Elisabeth Bernroitner ( 2022): „Sind wir institutionell für diverses Handeln richtig aufgestellt?“. Anne Wiederhold-Daryanavard und Stephan Pauly im Gespräch mit Elisabeth Bernroitner. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/sind-wir-institutionell-fuer-diverses-handeln-richtig-aufgestellt/