„Kunst als Sprache muss nicht den gesellschaftlichen Normen oder Sitten entsprechen“
Zehra Baraçkılıç im Gespräch mit Dilan Şengül
„Kunst ist die einzige Sprache, in der mir keine*r sagen darf, wie ich sie zu sprechen habe oder welcher Norm sie entsprechen muss. Die Sprache der Kunst, die ich sprechen möchte, ist antirassistisch“, erzählt die Medienkünstlerin Zehra Baraçkılıç im Gespräch mit Dilan Şengül.
Die in Oberösterreich aufgewachsene Künstlerin mit türkischen und kurdischen Wurzeln teilt ihren Werdegang und formuliert klar, wo es im Kunst-und Kulturbetrieb dringend Veränderung braucht und wie dies, fernab von Tokenism, auch gelingen kann.
Du bist als Künstlerin tätig. Wie hast du dich dafür entschieden? Wie war dein Weg zu diesem Beruf?
Wenn mich jemand fragt, wie, wann, wo ich meine ersten Berührungspunkte mit der Kunst hatte, antworte ich meist: Es war der gelbe Kassettenrecorder mit Mikrofonanschluss. In meiner Erinnerung habe ich die Sprache/n der Kunst viel früher entdeckt, als mir tatsächlich bewusst war. Ich war, glaube ich, sechs Jahre alt, als mein Vater einsah, dass ich mich nicht für das Gleiche wie andere Kinder interessierte. Ich bekam einen Kassettenrecorder, mit dem ich zum ersten Mal mit dem angebundenen Mikrofon meine Stimme aufnahm und sie auch zum ersten Mal hören durfte. Ich war begeistert. Ich hatte sofort den Bedarf, dieses der ganzen Welt vorzuführen. Meine Welt bestand aus einem kleinen Dorf im Mühlviertel/OÖ, wo gerade mal zehn Häuser zu entdecken waren. Ich klopfte an die Tür der Nachbar:innen und führte schlicht und einfach Interviews.
Im Laufe der Zeit habe ich erfahren, dass das Interesse an der Kunst nicht von heute auf morgen kam, sondern dies schon in der Familie durch Silber- und Schmuck- sowie Keramik- und Glasproduktion existierte. Meine Familie war in Bezug auf meine Interessen und meine Schul- und Universitätslaufbahn, die mit vielen Hindernissen und Diskriminierungen einhergingen, eine sehr große Unterstützung.
Wie verlief denn die Schulzeit für dich?
Schule sollte ein sicherer Ort für alle Kinder und Jugendlichen sein, wo sie sich weiterbilden können und in ihren Interessen gefördert werden. Am Land war die Grundschule ein Ort, wo ich viel lernen und viel umsetzen konnte. Ich war ich. Ich durfte Wände mit meiner Kunst bemalen, ich durfte meine künstlerischen Arbeiten ausstellen, die Bücherei war meine Heimat. Leider hörte dieses Ich-sein-können in der städtischen Oberstufe auf. Es war ein Ort, wo ich mich verloren hatte, mich selbst nicht wiederfinden konnte, weil ich nicht ich selbst sein durfte.
Kunst ist die einzige Sprache, wo mir keine*r sagen darf, wie ich sie zu sprechen habe oder welcher Norm sie entsprechen muss.
Als ich dann, nach vielen Hürden, an die Uni kam, hatte ich das Gefühl, dass es ein Ort war, an dem ich wieder aufatmen durfte; auch wenn der Universitätsbereich stark weiß geprägt ist und überwiegend weiße Kunst und weiße Literatur wiedergibt. Ich hatte viele weiße, vorwiegend männliche, Studienkolleg:innen und Professor:innen. Nichtsdestotrotz bekam ich und schuf ich mir kreative Räume. Räume, um Dinge neu zu hinterfragen und neu zu definieren. Bestehendes Wissen neu zu ordnen, auf neue Räume zu deuten, und andere dabei mitzunehmen. Es war sozusagen ein „back to who I am and can be“. Kunst ist die einzige Sprache, wo mir keine*r sagen darf, wie ich sie zu sprechen habe oder welcher Norm sie entsprechen muss. Die Sprache der Kunst muss antirassistisch sein. Kunst als Sprache muss nicht den gesellschaftlichen Normen oder Sitten entsprechen. Sie kann ein Sprachrohr für Künstler:innen sein.
Ich kann mich noch sehr gut an meine Arbeitsmappe und das Aufnahmeverfahren erinnern, bei dem mich die Kommission fragte, warum ich denn bei einem der Werke aufgehört hatte, es zu vervollständigen. Ich erklärte, dass ich aufgehört hatte zu zeichnen, weil meine Emotionen die höchste Priorität hatten und somit das Werk auch „unvollendet“ bleiben konnte. Die Antwort des Professors war: „Eine interessante Herangehensweise!“. Ich hatte Eindruck in diesem Sinne hinterlassen.
Artwork: light of emotions
Und was machst du aktuell? Bist du aktuell auch als Künstlerin tätig?
Ich habe mich entschieden, eine Zeit lang auch in anderen Feldern wie im Bereich des Projektmanagement und der Workshop-Facilitation zu Rassismuskritik im Kunst- und Bildungsbereich tätig zu sein, Erfahrungen zu sammeln, um mein Outreach- und Organisations-Know-how in der Praxis zu vertiefen und mir eine Palette an Expertisen anzueignen. Aktuell beschäftige ich mich als Künstlerin mit dem Thema Emotionen und Transgenerationalität.
Zehra Baraçkılıç, Dilan Sengül ( 2022): „Kunst als Sprache muss nicht den gesellschaftlichen Normen oder Sitten entsprechen“. Zehra Baraçkılıç im Gespräch mit Dilan Şengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-als-sprache-muss-nicht-den-gesellschaftlichen-normen-oder-sitten-entsprechen/