„Kunst als Sprache muss nicht den gesellschaftlichen Normen oder Sitten entsprechen“

Zehra Baraçkılıç im Gespräch mit Dilan Şengül

Wenn man mit Diversität arbeiten möchte, dann heißt dies, strukturelle Veränderung mitzugestalten und Sichtbarkeit bzw. Repräsentation, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu schaffen.

Welche konkreten Maßnahmen braucht es, um den Kulturbetrieb gerechter und diverser zu machen? Welche Akteur:innen braucht es? Auf welchen Ebenen braucht es Veränderung?

Es braucht eine dringende strukturelle Veränderung und das bedeutet radikale Veränderungen in den Institutionen. Es ist nicht damit getan, wenn hier und da einmal Künstler:innen ‚aus dem Ausland‘ eingeladen werden oder sie ab und zu kuratieren, um das Image und den Outreach zu fördern. Das größte Problem sind die Strukturen und die damit einhergehenden hierarchisch-strikten Entscheidungs- und Machtpositionen. Migration und Diversität ist in der Geschichte schon viel früher verankert und die Gesellschaft sollte diese abbilden. Warum kann es heute nicht möglich sein, BIPOC mit Wissen und (Praxis-)Erfahrung in den Entscheidungspositionen zu sehen und Raum für Menschen zu schaffen – also Macht umzuverteilen? An weiß geprägten Instituten sind es großteils weiße (weiß gelesene) und somit privilegierte Kurator:innen, die Ausstellungen zu verschiedenen und intersektionellen Identitäten sowie internationaler Kunst leiten, die Theateraufführungen, Musicals usw. kuratieren.

Wenn man mit Diversität arbeiten möchte, dann heißt dies, strukturelle Veränderung mitzugestalten und Sichtbarkeit bzw. Repräsentation, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu schaffen. In diesem Sinne ist es wichtig, Machtverhältnisse und Privilegien zu hinterfragen und offen anzusprechen. Wer sind die Entscheidungsträger:innen? Wie werden die Subventionen verteilt? Wir müssen weg von Diversity im Sinne von Tokenism – hin zu einer Realität, die die wahre Bevölkerung widerspiegelt.

Es ist an der Zeit, vermehrt Raum und Sichtbarkeit für Menschen, die beispielsweise keine weißen Privilegien genießen, zu schaffen – und zwar selbstbestimmt und ohne durch Dominanz geprägte Vorgaben –, die uns einige wirklich grundlegende Wahrheiten über die Gesellschaft, in der wir leben, sagen können. Wir müssen den Prozess beschleunigen, durch den oft verdrängte Menschen sichtbar werden und sich Gehör verschaffen können. Wenn wir das nicht tun, werden sich die Künste weiter von der Gesellschaft weg entfernen.

Was sind für dich gute Beispiele in Hinblick auf Diversität und mehr Gerechtigkeit im Kulturbetrieb?

Institutionen, Universitäten, Arbeitgeber:innen erkennen mittlerweile immer mehr an, dass interne Fortbildungen und Sensibilisierung im Bereich Antirassismus notwendig sind. Wissen aneignen, zuhören, umsetzen und anerkennen sind wichtige Schritte. Nur Projekte und Ausstellungen, die auf diverse Realitäten und deren Geschichte aufmerksam machen, genügen hierbei nicht. Viele Kunst- und Kulturschaffende leisten in verschiedenen Instituten und NGOs tagtäglich ehrenamtliche Arbeit, die nicht angerechnet oder wertgeschätzt wird. Das benötigt drastische Veränderung; Menschen müssen für ihre Expertise entgeltet werden.

Wie nimmst du den Kulturstandort Salzburg wahr?

Ich kenne die Stadt Salzburg gut – es ist ja auch eine Stadt, wo viele kreative Köpfe mit wertvoller Geschichte zusammenkamen und nach wie vor zusammenkommen. Damit meine ich natürlich nicht Mozart. Ich habe Freund:innen und Bekannte, sichtbare BIPOC, die sich in verschiedenen Bereichen in der Stadt engagieren und etwas sehr Wertvolles in der Stadt leisten. Leider werden sie im Kunst- und Kulturbetrieb nicht so repräsentiert. Tourismus alleine macht eine Stadt nicht divers. Nur die Beteiligung an der Struktur selbst, zeigt, dass Menschen eine Sprache haben.

Zehra Baraçkılıç, Dilan Sengül ( 2022): „Kunst als Sprache muss nicht den gesellschaftlichen Normen oder Sitten entsprechen“. Zehra Baraçkılıç im Gespräch mit Dilan Şengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-als-sprache-muss-nicht-den-gesellschaftlichen-normen-oder-sitten-entsprechen/