„Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“

Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül

„Ich liebe die Zeit des Verlernens. Alles, was wir bis jetzt gelernt haben, in Frage zu stellen. Alles, was Norm war, neu zu hinterfragen und genau hinzublicken, wie diese Norm entstanden ist, wie blind wir das oftmals akzeptiert haben und wie wir es heute verändern können“, erzählt die seit 1990 in Wien lebende Regisseurin, Dramaturgin und Schauspielerin Aslı Kışlal. Seit nun mittlerweile acht Jahren ist sie die künstlerische Leiterin von diverCITYLAB, einem THEATER-, FILM- und PERFORMANCElabor oder, wie sie es auch gerne beschreibt, einem „kunstpolitischen Projekt getarnt als Schauspielakademie“. Im Gespräch mit Dilan Sengül, welche als ehemalige Studierende den ersten Jahrgang absolviert hat, erzählt sie, wieso die Akademie nun ‚gekillt‘ wird, welche positiven Entwicklungen es im Kunst-und Kulturbetrieb gab und welche Herausforderungen noch bevorstehen. Wie Veränderung gelingen kann, und was dafür unabdingbar ist, beschreibt sie ausgehend von eigenen Erfahrungen.

diverCITYLAB Produktion 2018: tent sweet tent © Olivia Mrzyglod

diverCITYLAB Produktion 2018: tent sweet tent © Olivia Mrzyglod

Was verstehst du unter dem Begriff der Diversität und auf welche Konzepte und theoretischen Bezüge greifst du in der Arbeit zurück?

Ich habe das Gefühl, dass sich jeder aus seinem eigenen Kontext heraus anders mit Diversität befasst. Mein Verständnis von Diversität ist geprägt durch einen postmigrantischen Zugang und das postmigrantische Konzept, in welchem nicht von einem ‚Wir und die Anderen‘, sondern von einem ‚Wir‘ als gesamtgesellschaftliches Konzept ausgegangen wird.

Wir tragen Diversität als diverCITYLAB bereits in unserem Namen, sind uns aber bewusst, dass wir nicht die gesamte Diversität unserer Gesellschaft abbilden können. Mir war es wichtig, da zu beginnen, wo ich eine Expertise mitbringe. Bei uns Arbeitende, Teilnehmende und Studierende bringen ein hohes Maß an Diversität in Bezug auf die ethnische Herkunft und Geschlechtervielfalt mit. Wir haben aber keine disabled Person in einer Leitungsposition und bilden somit, um nur ein Beispiel zu nennen, diesen Aspekt von Diversität nicht ab. Das haben wir noch nicht geschafft, sehen es jedoch als Notwendigkeit an, die verschiedenen Diversitäten unserer Gesellschaft zu thematisieren.

Das ist auch eine Kritik an mich. Bei diverCITYLAB sprechen wir von einer partiellen Diversität. Ziel ist es aber sehr wohl, die verschiedenen Diversitäten unserer Gesellschaft abzubilden. Mein Zugang ist dabei geprägt durch theoretische Ansätze, aber auch durch meine Befindlichkeit und meine Betroffenheit. Projekte kommen oftmals über die eigene Wahrnehmung, durch das eigene Erlebnis und durch das System, das man versucht zu öffnen, zustande. Da spielt immer die Frage der eigenen Möglichkeiten mit. Deshalb auch die Kritik – im Sinne von interner Kritik im Team – dahingehend, dass wir es schaffen müssen, andere Menschen anzusprechen und andere Diversitätskonzepte zu berücksichtigen. Aber ja, das Feld, in dem wir interagieren, ist bereits sehr groß und braucht so viel Kraft, dass wir es bis jetzt nicht schaffen konnten, uns noch mehr zu öffnen. Ich begrüße jegliche Konzepte von Diversität, die auch ihre eigene Betroffenheit zur Sprache bringen, und denke, dass es eine gegenseitige Unterstützung braucht. Dabei lerne ich jeden Tag aufs Neue, wo es noch fehlt, wie viele noch nicht mitbedacht sind oder nicht genannt werden. Das bricht die Norm, das „Normale“, das „Angenommene“, eben das, was bis jetzt gängig und akzeptiert war.

diverCITYLAB Produktion 2022: Escape Patriarchy © Anna de Carlo

diverCITYLAB Produktion 2022: Escape Patriarchy © Anna de Carlo

Aslı Kışlal, Dilan Sengül ( 2022): „Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“. Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/wir-muessen-lernen-die-ungehoerten-stimmen-zu-hoeren/