Epistemologien des Ästhetischen und Neuperspektivierungen der Wissenschaften
Um 1800 waren die zwei Kulturen Kunst und Wissenschaft noch nicht klar voneinander geschieden und die Gegenstände wie die Formen der Präsentation und Kommunikation des Wissens noch nicht eindeutig verteilt. Die Beiträge in dem von Thomas Lange und Harald Neumeyer herausgegebenen Band „Kunst und Wissenschaft um 1800“ zeigen dementsprechend, dass in dieser Zeit in den vermeintlich getrennten Bereichen prinzipiell vergleichbare Aussagen zu finden sind und dass ihnen Figuren, Argumente und Probleme gemeinsam sind. Um 1800 aber profilierten sich Kunst und Wissenschaft aneinander und etablierten sich als getrennte Disziplinen, sie traten nunmehr in ein neues komplementäres und vornehmlich binäres Verhältnis zueinander. Im Zuge des Prozesses der Ausdifferenzierung wurde der ästhetische und kognitive Weltzugang in ein Konkurrenz- und Ergänzungsverhältnis gebracht. Bereits die ersten Ansätze der Ästhetiktheorie können als Reaktionen auf die Ausdifferenzierung der Disziplinen Mitte des 18. Jhdt. beschrieben werden. Verschiedenste Philosophen reagierten auf die Engführung von Wissenschaft, Erkenntnis und Verstand und arbeiteten strategisch der Abwertung der sinnlichen Erkenntnis entgegen.*6 *(6)
Dieter Mersch problematisiert, dass der Versuch, die Kunst zu einem Wissen aufzuwerten, von Beginn an „durch die Anmaßungen der Vernunft“ mit einer Abwertung verknüpft ist. Die Kunst wird „allein nach der ‚Maß-Gabe’ der Logik oder Diskursivität beurteilt“ (Mersch 2012: 5) (*17)*7 *(7). Die Kunst verhilft dieser Logik entsprechend der Idee zum Leben, sie verleiht ihr gleichsam einen Leib, das heißt sie materialisiert sie, sie stellt sie sinnlich dar. Genau das wird ihr jedoch Mersch zufolge im Regime des Wissens, das sich an der Vernunft orientiert, zum Verhängnis. Denn der Geltungsmodus des Wissens ist das Zutreffen oder Nichtzutreffen. Echtes (theoretisches) Wissen – d.h. ein von Platon und Aristoteles im engeren Sinne verstandenes Wissen (episteme) gehört zur Theorie (theoria). Ein solches liegt vor, wenn streng begründete, zum Beispiel überprüfte (rationale) Aussagen über das Zutreffen (die Wahrheit) einer Behauptung oder eines Behauptungskomplexes gemacht werden können. Je nach Art dieser Überprüfungsinstanzen kann man von empirischem (Tatsachen-)Wissen, abstraktem oder logischem Wissen sprechen. Wissen gilt demnach als eine ‚sichere‘, abgeschlossene und objektive Erkenntnisform. Wissen ist extensional, das heißt auf Gegenstände bezogen (objektiv), es liegt in Form entscheidbarer, das heißt wahrheitsdifferenter Aussagesätze vor und es ist nicht reflexiv.*8 *(8)
Angesichts dieser Tradition und der Problematik des Wissens im dritten Kapitalismus verwundert es nicht, dass es der Wissensbegriff selbst ist, der ins Kreuzfeuer der Kritik gerät. In der Debatte um die künstlerische Forschung wird das mit der künstlerischen Praxis verbundene Wissen vehement von einem propositionalen Wissen, das mit der Wissenschaft verknüpft wird, abgegrenzt (vgl. Jung 2016: 28). (*12) Selma Dubach und Jens Badura beschreiben in diesem Sinne die ästhetische Erkenntnispraxis als eine inhärente Wissensbildung, „bei der anders als im etablierten und vor allem bei dem in den Wissenschaften strikt geforderten Artikulationsmodus, Wissen nicht mittels standardisierter, propositional-theorieförmiger Veröffentlichungsformate nachvollziehbar und überprüfbar gemacht wird. Es manifestiert sich im Prozess des Vollzugs künstlerischer Praxis als ‚Agens‘ eines im Tun aufgehobenen denkenden Forschungsprozesses, und generiert kunstinduzierte Erfahrbarkeit möglicher Weltverhältnisse“ (Dubach/ Badura 2015: 124). (*5) Trotz aller Sympathie für diese Bemühungen bleibt an dieser Perspektive problematisch, dass sie zu einem reduktionistischen Bild von Wissenschaft beiträgt, und vice versa auch die Möglichkeiten eines künstlerischen Wissens einschränkt. Und dass sie den Forschungsprozess auf den kreativen Akt beschränkt, mit anderen Worten auf die künstlerische Produktion und damit auf die Intention und das „Werk“. Übersehen werden damit die Rezeption oder besser die Teilhabe am Wissen*9 *(9) und damit die Performativität von Prozessen der Wissensbildung. Die Theorie der Performativität hat die Vorstellung, eine Äußerung berichte von der Welt rein ’konstativ‘, grundlegend in Frage gestellt und sie stattdessen „als eine wirkende Kraft“ ins Bewusstsein gebracht. Äußerungen – und damit sind nicht allein verbal-sprachliche Artikulationen gemeint –, können als Verkörperungen und Vermittlungen durch Medien gefasst werden. Performative Äußerungen vermögen es, als situiertes Ereignis in die Welt einzugreifen und sie zu verändern (vgl. Hempfer/ Volbers 2011: 9). (*7) Zu einer grundlegenden Neuperspektivierung von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hat auch der ungarisch-britische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi mit seinen Überlegungen zum impliziten Wissen beigetragen. Erkennen ist nach Polanyi ein ganzheitlicher, auf Prinzipien der Gestalttheorie basierender Prozess. Seine 1966 entworfene Konzeption des Wissens umfasst Aspekte, die heute als wesentlich für menschliches Wissen gelten, etwa die Gebundenheit an praktische, institutionelle und situative Momente sowie die Bedeutung des Körpers für Wissensprozesse. Polanyi versteht, dies hat die Wissenschaftstheoretikerin Eva Maria Jung deutlich aufgezeigt, „das implizite Wissen nicht als eine zu propositionalem oder theoretischem Wissen komplementäre Wissensform […], die ausschließlich in den kreativ-künstlerischen Bereich fällt. Er verweist [vielmehr] immer wieder auf Beispiele aus seiner eigenen naturwissenschaftlichen Tätigkeit und betont, dass das implizite Wissen auch in den Naturwissenschaften, ja in allen Wissenschaften verbreitet ist.“ (Jung 2016: 33) (*12)
Mir scheint die Infragestellung des Begriffs des Wissens und die mit ihm einhergehende Polarisierung von Kunst und Wissenschaft der zentrale Punkt, um Forschen als eine Tätigkeit der Teilhabe in einem kritischen Sinn zu konzeptualisieren. Deshalb scheint es mir auch wenig sinnvoll, von einem genuinen Wissen der Künste zu sprechen, die dann implizit oder explizit in Opposition zur Wissenschaft gebracht werden, vielversprechender scheint es mir, spezifische Verfahrensweisen und Praktiken im Regime des Wissens in den Blick zu nehmen, die auch angesichts aktueller Theoriebildungen und politischer Reflexionen zum Wissen interessant sind und die in Kunst wie in der Wissenschaft gleichermaßen angetroffen werden können.*10 *(10) Mein besonderes Interesse in diesem Zusammenhang gilt ästhetischen Praktiken, welche die Performativität von wissensbildenden Prozessen einerseits kenntlich werden lassen und die mit diesen Prozesse verbundenen Dinge und Praktiken nicht in einem bloß vermittlungstechnischen und instrumentellen Sinn vor Augen führen, sondern diese als Medien des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses erfahrbar werden lassen. Hierdurch wird die Rezeption zu einem forschenden Prozess, auch wenn sich dieser nicht notwendig in konkreten Handlungen zeigt. Anders gesagt: Wissen vermittelt sich nicht allein in einem Produkt, sondern ist von einer Teilhabe am Wissen getragen.
Elke Bippus ( 2016): Teilhabe am Wissen. „Part-of Relation“ oder performative Forschung im Feld der Kunst. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/teilhabe-am-wissen/