„Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“
Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft
„Der Konflikt ist der wesentliche Kern einer freien und offenen Gesellschaft“, betont der US-amerikanische Bürgerrechtler Saul D. Alinsky bereits 1971 in seinem Buch Rules for Radicals. Auf diese Aussage und das Motto „Harmonija, na ja …“ Bezug nehmend, lud das Kulturfestival WIENWOCHE 2015 unter der Koleitung von Can Gülcü Kulturschaffende ein, zu „stören, um zu verändern!“ (vgl. WIENWOCHE 2015: 3). (*10) Diese Perspektive auf künstlerisch-kulturelle Praxis als Möglichkeit produktiver Störung lässt sich mit einem agonistischen Demokratieverständnis in Verbindung bringen. Demzufolge bilden Widerstreit und Dissens die unerlässliche Basis einer Demokratie, wobei insbesondere künstlerische Praktiken differente Perspektiven aktivieren, in den hegemonialen Diskurs intervenieren und Räume des Widerstands schaffen können (vgl. Mouffe 2014: 136). (*3) Kunst müsse die Logik des Konsenses irritieren, so Jacques Rancière, worin auch ihr politisches Potenzial liege. Dabei sei anzuerkennen, dass die Kunst ihre eigene Politik habe, deren „Form der Wirksamkeit […] primär im Verwischen von Grenzen [besteht], in der Neuaufteilung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven“ (Höller/Rancière 2007: o.S.). (*1)
Das Verwischen von Grenzen, Aufzeigen neuer Perspektiven und Möglichkeiten, vor allem aber auch Momente der Unsicherheit und des Konflikts spielen in Gülcüs Verständnis von politischer Kulturarbeit eine wesentliche Rolle. In einer von Ungleichheiten geprägten Gesellschaft gehe es im Grunde immer darum, wie er im folgenden Gespräch betont, „diejenigen, die Ausschlüsse produzieren, mit denjenigen, die von Ausschlüssen betroffen sind, in ein Verhältnis zu setzen. Und das kann, solange die Ausschlüsse passieren, nur ein konfliktreiches Verhältnis sein.“ Radikalität beginnt für ihn als Kulturarbeiter dort, wo man auch in Konflikt mit sich selbst gerät, eigene Grenzen überschritten werden, es anfängt wehzutun.
Geboren in Bursa in der Türkei, arbeitet Gülcü seit geraumer Zeit in Österreich als Kulturschaffender, Lehrbeauftragter und Aktivist an den Schnittstellen verschiedener Kunstformen und politisch-partizipativer Kulturarbeit mit Fokus auf politischen und sozialen Machtverhältnissen. Er war u.a. gemeinsam mit Katharina Morawek Teil des Leitungsteams der Shedhalle Zürich, einem Produktions- und Vermittlungsort, an dem sich Kunst, diskursives Vorgehen und politisches Engagement kreuzen. Von 2012 bis 2015 leitete er gemeinsam mit Radostina Patulova und Petja Dimitrova (bis 2014) die WIENWOCHE. Das seit 2012 jährlich im September zu verschiedenen Ausschreibungsthemen stattfindende Kulturfestival experimentiert mit der Verschmelzung von kreativen Praktiken und Aktivismus und versteht Kulturarbeit als ein Einmischen in gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten – mit dem Ziel, diese sichtbar zu machen und voranzutreiben. Dabei sollen künstlerische und kulturelle Praxen erweitert und für alle in der Stadt lebenden sozialen Gruppen zugänglich gemacht werden (vgl. Website WIENWOCHE). (*8) Anhand unterschiedlicher im Kontext der WIENWOCHE umgesetzter Projekte sprach Gülcü beim Symposium Bis dahin und (nicht) weiter? Künstlerisch-kulturelle Befragungen von Grenzen in Salzburg im November 2016 über politisch engagierte Kunst und Kulturarbeit als Formen radikaler Grenzüberschreitungen. Anknüpfend an diesen Vortrag fand das folgende Gespräch statt.*1 *(1)
Mit künstlerischer und kultureller Arbeit Gewohntes und Gelerntes infrage stellen
Bei deinem Vortrag in Salzburg hast du politische Kunst als jene Art von künstlerischer Arbeit beschrieben, die nichts Geringeres im Sinn hat, als am gesellschaftlichen Wandel zum Wohl aller teilzuhaben, weshalb sich insbesondere die Mächtigen dafür interessieren. Kannst du diese Aussage präzisieren?
Die Idee des ‚Zum-Wohl-Aller‘ geht auf einen spezifischen ideologischen Blickwinkel zurück. Gesellschaftlicher Wandel zum Wohl aller meint aus meiner Perspektive, die Gesellschaft dahingehend zu beeinflussen oder zu transformieren, dass alle Zugang zu allen Ressourcen haben, alle gleiche Rechte haben, alle die gleiche Möglichkeit, sich zu artikulieren, und dabei spielt auch künstlerische und kulturelle Arbeit eine Rolle. Damit meine ich aber nicht eine belehrende Form künstlerischer Arbeit, die nur Inhalte vermitteln will, sondern sehr wohl auch politische Arbeiten, die Konflikte auslösen wollen, die Gewohntes und Gelerntes infrage stellen.
Also Politik im Sinne von Jacques Rancière, der darunter den Dissens über eine auf dem Ausschluss der Anteillosen basierende Ordnung versteht? Eine Politik, die – wie er betont – nicht darauf zu beschränken ist, die Ausgeschlossenen in die Gesellschaft zu integrieren, sondern bei der es vielmehr ganz grundsätzlich darum geht, das Problem des Ausschlusses sichtbar zu machen.
Ja, das ist das, was ich mit Konflikt meine. Letztlich geht es darum zu sagen, es gibt ein Missverhältnis, wobei die Sichtbarmachung allein nicht genügt. Sichtbarmachung ist ein Teil der politischen Arbeit, aber im Grunde geht es darum, diejenigen, die Ausschlüsse produzieren, mit denjenigen, die von Ausschlüssen betroffen sind, in ein Verhältnis zu setzen. Und das kann, solange die Ausschlüsse passieren, nur ein konfliktreiches Verhältnis sein. Im Grunde ist es ein Kampf um die Bühne, auf der wir gleichberechtigt sprechen können. Gleichberechtigt sprechen im politischen Sinne heißt, gleichberechtigt entscheiden zu können. Die Sichtbarmachung allein ist ‚schön‘, aber ich behaupte, dass die allermeisten Menschen ohnehin wissen, welche Ausschlussverhältnisse in der Gesellschaft da sind, zu diesen sehr wohl auch stehen – und damit ihre Superiorität behaupten möchten. Zu zeigen, welche Ausschlüsse es gibt, wie rassistisch, sexistisch oder homophob eine Gesellschaft ist, reicht einfach nicht. Der Konflikt, von dem ich spreche, ist auch kein künstlerischer oder kultureller, es ist ein politischer, da es um die Ressource Macht geht.
Über die reine Repräsentationskritik hinausgehend hat politische Kulturarbeit also auch konkrete Schritte zu setzen, die in die Strukturen hineinwirken?
Ja, aber ich würde sagen, dass es bei Institutionen, die nicht in ihrer Entstehung bereits das Ziel verfolgen, eine gewisse in der Gesellschaft vorhandene Breite zu repräsentieren, nicht leicht ist. Dazu wäre eine Neugründung notwendig. Beispielsweise in einem bürgerlichen Theater über Repräsentationspolitiken Ausschlüsse zu thematisieren, ändert nichts an den Strukturen. Es ist immer noch so, dass, wenn auch mal eine Schwarze Schauspielerin auf der Bühne steht, die zweite Migrantin im Haus wahrscheinlich die Putzfrau oder die Buchhalterin ist. Es geht um eine grundlegende Veränderung von Institutionen, der Strukturen, des Personals – und das ist wie bei allen Rechten, nichts, das man geschenkt bekommt. Ich halte nichts von Geschenken der Diversitätspolitik. Rechte erkämpft man sich. Und das ist eine Frage von Strategien, auch von künstlerischen und kulturarbeiterischen Strategien.
Zu diesen Strategien zählen die von dir im Vortrag angesprochenen ‚radikalen Grenzüberschreitungen‘. Was ist darunter zu verstehen?
Damit meine ich Grenzüberschreitungen, die mir und anderen wehtun. Indem ich mich in eine Art von ‚Gefahr‘ begebe, über das Gewohnte und Bekannte hinausgehe, indem ich mich in eine Situation bringe, in der mir etwas entgleitet und ich meine eindeutige Position nicht mehr behalten kann. Indem ich mich z.B. an einen Ort begebe, wo ich nicht die ‚Hoheit‘ habe und ich derjenige bin, der völlig von außen kommt. Oder indem ich Menschen zum Gespräch einlade, die eine ganz andere Meinung vertreten als ich, die sexistische und rassistische Aussagen machen. Ich versuche, sie zwar zu konfrontieren, aber auch ihre Positionen auszuhalten und Teil der Arbeit werden zu lassen, auch wenn es wehtut. Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Gesetze und Regeln breche.
Es geht also um Unsicherheiten? Darum, sich für Unsicherheiten zu öffnen, diese sichtbar zu machen und ihnen Platz einzuräumen?
Ja, das sind auch die Räume, wo politisches Handeln möglich wird.
Und wo etwas Neues entstehen kann.
Genau. In einer Gesprächssituation mit Menschen, die nicht meine politische Formierung haben und aus ganz anderen Kontexten kommen, könnte ich immer wieder auf Begriffe, Formulierungen, Praxen hinweisen, die meinem Verständnis nach ‚nicht richtig‘ sind. Aber das bringt nicht so viel, weil auf so einer Basis kein gemeinsames Nachdenken und keine gemeinsamen Projekte möglich sind. Es geht nicht darum, jemanden zu sich herzuholen, sondern sich auf jemanden hin zu bewegen – und das bedeutet auch, auszuhalten, unsicher zu sein, sich zu ärgern und das nicht gleich zu formulieren. Es kann auch bedeuten, über eigene Geschmacksgrenzen zu gehen.
Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Es ist ja nicht so, dass ich wahnsinnig auf türkische Volksmusik stehe. Bei der WIENWOCHE hatten wir aber viele Veranstaltungen mit türkischer Volksmusik, Pop, traditioneller Musik, immer jedoch in einem Bruch mit Formaten, die ganz anders funktionieren. Es ist in Ordnung, als privilegierter, gebildeter ‚Kulturhackler‘ und Festivalleiter, was ja eine sehr ambivalente Mischung ist, sich selbst und den Gästen etwas anzubieten, das kein Privileg und kein symbolisches Kapital bringt, sondern etwas davon wegnimmt. Bei Gazino Royal, einer Abschlussveranstaltung der WIENWOCHE, standen Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft vielfach als ‚kulturfern‘ bezeichnet werden und hier vor 40 Jahren angekommen sind – also Gastarbeiter_innen –, auf der Bühne und sangen Musik von früher. Dazwischen gab es eine Moderation, die viel politischer war als das Konzert selbst, die den ‚Integrationsschmäh‘ und damit auch einen Bruch hineinbrachte. Als ‚kulturfern‘ werden ja oft Leute bezeichnet, die einfach eine andere Kulturproduktion haben, die viele aus der Mehrheitsgesellschaft gar nicht erreicht. In einem türkeistämmigen Milieu schauen sich Menschen sehr viele Serien an – darin werden über drei Stunden höchst verwobene Geschichten erzählt. D.h., sie konsumieren sehr viel Kultur, jedoch nicht in den Theatern, weil dort offenbar nicht die Geschichten erzählt werden, die sie interessieren. Da muss man sich fragen, ob die Theater was falsch machen. Sind sie zu teuer, zu unverständlich, zu uninteressant, zu wenig an anderen Kulturtechniken interessiert? Wenn von ‚Kulturferne‘ die Rede ist, geht es immer auch um Fragen der Wertigkeit, also welche Formen von Kultur mehr wert sind als andere.
Als Beispiele ‚radikaler Grenzüberschreitungen‘ hast du auch Projekte genannt, in denen Kunst benutzt wird, um damit Politik zu machen, etwa indem bewusst Gesetze übertreten werden, was jedoch aufgrund des Kunstkontexts keine rechtliche Verfolgung nach sich zieht.
Alles, was wir sehen, erleben, analysieren, findet in wahnsinnig widersprüchlichen, ambivalenten Verhältnissen statt. Damit zu arbeiten – und beispielsweise ein Gesetz zu brechen, um etwas sichtbar zu machen –, ist eine Möglichkeit politischer Kulturarbeit. Das Projekt WahlweXel jetzt! gab vom Wahlrecht ausgeschlossenen Menschen die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben. Das geschah in Form öffentlicher Diskussionen und einer Tauschaktion des Briefwahlformulars zwischen den Wahlberechtigten und den Nichtberechtigten. Das war ein Verstoß gegen das Wahlgeheimnis, was in den Medien auch skandalisiert wurde und zu parlamentarischen Anfragen führte, aber als Kunstprojekt deklariert genoss die eigentlich politische Grenzüberschreitung einen gewissen Schutz.
Ein fast schon historisches Kunstprojekt zur repressiven österreichischen und europäischen Migrationspolitik ist die Containeraktion Bitte liebt Österreich von Christoph Schlingensief, die 2000 im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand (vgl. Lilienthal/Philipp 2000). (*2) Die Aktion wurde von Rechten wie Linken massiv kritisiert. Wie beurteilst du das Projekt? Sind da Grenzen überschritten worden, die nicht überschritten hätten werden dürfen?
In dem Projekt sind unterschiedlichste Grenzen überschritten worden. Ich sehe es – im Gegensatz zu vielen anderen, mit denen ich mich darüber ausgetauscht habe, auch jenen, die den Container damals im Rahmen der Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung gestürmt und besetzt haben – im Rückblick betrachtet insgesamt recht positiv. Es hat damals viele Menschen, die auf unterschiedliche Art und mit je eigener Perspektive am Thema Asyl- und Migrationspolitik interessiert waren, in Konflikt miteinander gebracht, mit Äußerungen und Protesten dagegen und dafür. Das hat sehr gut funktioniert. Und vielleicht funktioniert so ein Projekt auch nur dann, wenn man in manchen Punkten weniger Sensibilität aufbringt, also in Bezug auf die Rollen und Entscheidungen, wer und was wie repräsentiert ist, auf die Selbstdarstellungspraxis von Schlingensief und die der involvierten Akteur_innen, in Bezug auf die Frage, wer im Rahmen des Projekts sprechen kann und wer nicht.
Es ist ein Projekt, das undemokratisches Verhalten und demokratiepolitische Konflikte inszenierte und Vertreter_innen entgegengesetzter Positionen als Darsteller_innen involvierte, aber nicht unbedingt in Strukturen hineingewirkt hat.
Ich würde nicht sagen, dass das Projekt gar nicht in Strukturen hineingewirkt hat. Es ist ein Referenzpunkt für alle geworden, die Projekte zur Migrations- und Grenzpolitik machen. Das Zentrum für politische Schönheit, um eines der jüngeren Beispiele zu nennen, ist ja sehr stark von Schlingensief beeinflusst. Natürlich hat sein Projekt an den Strukturen der Grenzpolitik nichts verändert, aber es hat sicher ein paar Menschen politisiert, dahingehend vielleicht, dass sie sich Fragen wie ‚Wer darf hier sprechen und wer nicht?‘ stellten.
Im Grenzraum zwischen Politik und ‚echter‘ Kunst
Ich möchte auf die von dir angesprochenen ‚Geschenke der Diversitätspolitik‘ zu sprechen kommen. Wie würdest du in diesem Zusammenhang die WIENWOCHE positionieren?
Zweischneidig. Ich würde sagen, die WIENWOCHE ist ein klassisches Diversitätsprojekt, also das, was ich kritisiere. Die Stadt Wien als Fördergeber kann sich damit repräsentativ schmücken und sagen, dass in Wien neben diesen und jenen Projekten auch die WIENWOCHE stattfindet und damit das ‚Segment Migration‘ abgedeckt ist. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass die WIENWOCHE konkrete Handlungsspielräume eröffnet. Sie ist eine Institution in dem Sinn, dass sie für einen bestimmten Zeitraum zugesicherte finanzielle Mittel hat. Die Frage ist aber, was passiert mit dem Wissen, das die WIENWOCHE generiert, mit der Professionalisierung einzelner Personen – der Künstler_innen, der Menschen, die in der Produktion arbeiten, der Leiter_innen. Nicht symbolisch, sondern ernst gemeinte Diversitätspolitik würde bedeuten, dass alle diese Menschen in anderen Institutionen landen, weil man sie da händeringend sucht. Das passiert aber nicht, weil die kulturpolitische Annäherung an solche Projekte die ist, dass sie symbolisch-repräsentativ sein sollen und nicht ein Zwischenschritt hin zu einer Veränderung der Institutionen selbst. Wenn man Brüche in der gewöhnlichen institutionellen Praxis haben möchte, muss man auch die entsprechenden Menschen in die Institutionen holen. Es ist zwar nicht so, dass ‚eine lesbische Frau mit Migrationshintergrund‘ besseres Theater macht als ein ‚weißer,*2 *(2) alter Mann‘. Das wäre wahnsinnig schematisch. Aber es macht einen Unterschied, ob Personen, die Diskriminierungserfahrungen haben oder die aus anderen Kämpfen kommen, etwas zu sagen haben oder nicht. Die Person macht ihren Job vermutlich einfach anders.
WIENWOCHE als Vorzeigeprojekt der Stadt Wien bestätigt gewissermaßen, dass jedes System seine Brüche, Differenzen, Abweichungen produziert, duldet oder auch fördert, sie gleichzeitig aber auch vereinnahmt und dadurch in ihrem ‚widerständigen‘ Potenzial schwächt.
Bei der WIENWOCHE haben wir auch selbst unsere eigenen Brüche produziert, was diese Vereinnahmung vielleicht erschwert hat. Wir waren von Anfang an nicht sehr daran interessiert, dass unsere Projekte in den Medien im Feuilleton als Kunstprojekte diskutiert werden. Uns war wichtig, dass die Projekte in der Chronik, im Stadtleben landen – und zwar mit ihrer politischen Aussage. Damit übernimmt man als Kultureinrichtung eine Aufgabe, die vielleicht oft nicht als ihre eigentliche angesehen wird. Statt Einzelpositionen sichtbar zu machen oder repräsentativ bestimmte Personen in den Vordergrund zu ‚spülen‘, war uns wichtig, auf verschiedene Konfliktthemen in der Gesellschaft hinzuweisen und diese in jenen Foren, die eher wahrgenommen werden, repräsentiert zu wissen. Dadurch nimmt man sich natürlich etwas, z.B. dass man im künstlerischen Feld ernst genommen wird.
Du sprichst damit die Grenzen zwischen Kunst und Politik in Hinblick auf ihre feldspezifischen Anerkennungs- und Legitimierungsmodi an. Politik arbeitet mit klaren Forderungen, Kunst hingegen mit Komplexität und Abstraktion. Politische Wirksamkeit spießt sich mitunter mit Regeln der Anerkennung im Kunstfeld.
Genau das ist das Spannungsfeld, gleichzeitig aber auch das Spannende. WIENWOCHE ist immer wieder mit Kritik bedacht worden, etwa dass es sich um eine ‚DIY-Birkenstock-WIENWOCHE mit Mitmachaktivitäten‘ handle, aber ‚echte‘ Kunst in den ‚echten‘ Kultureinrichtungen stattfände. Das hat natürlich mit Abwertung zu tun. So einer Kritik ist aber wahnsinnig schwer zu entgegnen aus dem gesellschaftspolitischen Selbstverständnis der WIENWOCHE heraus mit ihrem Anspruch an spezifische Produktionsbedingungen trotz wenig Geld: nämlich Eigenproduktionen über einen längeren Zeitraum zu entwickeln, mit ordentlich bezahlten Mitwirkenden, mit dem Ziel, künstlerisch Interessierte ebenso wie gesellschaftstheoretisch und politisch Interessierte anzusprechen. Dahin zu kommen, das Maximum an ‚künstlerischer Qualität‘ und das Maximum an diskursiver Durchschlagskraft in einem Gleichgewicht zu halten, war das Anliegen. Es ging nie um Sichtbarkeit oder Repräsentationspolitik in dem Sinne, dass nun auch Migrant_innen, LGBTIQ, Schwarze Aktivist_innen Kulturarbeit machen, sondern vielmehr darum, Strategien auszuprobieren, mit denen wir in gesellschaftliche Diskurse intervenieren können.
Kannst du ein Beispiel für ein Projekt nennen, wo das deiner Meinung nach gut gelungen ist?
Graus der Geschichte, das Eröffnungsprojekt der WIENWOCHE 2015. Das war eine Art Persiflage, eine kritische Auseinandersetzung mit nationaler Geschichtsschreibung, mit dem geplanten Haus der Geschichte. Welche Geschichten werden darin erzählt? Welche nicht? Welche Figuren kommen vor? Welche werden wie behandelt? Damit hat sich die Gruppe malmoe auseinandergesetzt, indem sie eine Geisterbahn im Wiener Prater umgebaut hat. Darin kamen verschiedene historische Figuren als Puppen – als ‚Geister der Geschichte‘ – vor, unterlegt wurde das Ganze mit Ton- und audiovisuellen Spuren von Künstler_innen. Vor der Geisterbahn, die drei Tage offen war, gab es immer eine Warteschlange mit Menschen, die extra wegen des Projekts hingekommen sind, und ebenso Menschen, die den Prater besucht hatten. Es funktionierte aufgrund einer sehr einfachen Idee der Umsetzung. Es braucht ein Format, das die Barriere durchbricht zwischen Formen, zwischen Diskursen, zwischen Milieus. Dadurch bricht man auch Gewohnheiten auf.
Mit welchen Grenzziehungen bist du als Kulturarbeiter konfrontiert? Wo siehst du im Moment die massivsten Grenzen, an die du in der Praxis immer wieder stößt?
Die Beschaffenheit der Förderstrukturen. Das betrifft sehr viele Menschen, die in einem weniger etablierten Feld arbeiten. Die Strukturen sind so, dass entweder punktuell eine bestimmte Arbeit gefördert wird oder Gefäße für Projekte wie die WIENWOCHE oder andere Festivals geschaffen werden. Gleichzeitig geht ein Großteil der öffentlichen Kulturförderungen in große Institutionen. In unserem Feld wird es auch in Zukunft schwierig bleiben. Wir haben nicht mehr Geld, de facto wird es nicht mehr werden, und das hat zur Folge, dass kaum Neues gegründet werden kann, dass keine neuen Strukturen entstehen können, in denen mit Entscheidungsfreiheit und Ressourcen experimentiert werden kann. Es ist generell relativ schwierig, Nischen zu finden, Handlungsräume zu finden und selbst welche zu schaffen.
Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit – zwischen großen Einrichtungen bzw. der ‚Hochkultur‘ und freier Kulturarbeit – ist ein viel diskutiertes Thema. Es soll nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden, aber man könnte schon auf Basis programmatischer Entscheidungen evaluieren und sich fragen, warum beispielsweise eine Opernproduktion, die frauenfeindliche Klischees ungebrochen tradiert, immer noch gefördert werden soll.
Absolut. Förderrichtlinien anzupassen und voraussetzungsvoller zu machen und Kulturentwicklungspläne zu erarbeiten, um politisch vorzudefinieren, wohin Förderungen fließen, ist wichtig. Auch zu hinterfragen, was mit den paar Millionen an Förderungen – z.B. bei den Kulturtankern – gemacht wird. Warum passiert das eine, warum das andere nicht oder warum auf diese Weise? Die Unterscheidung zwischen etablierter und freier Szene finde ich schwierig und ist auch nicht immer leicht zu treffen. Und in einem gegebenen Rahmen in einer etablierten Institution zu arbeiten, hat ja auch Vorteile, man hat Ressourcen, andere Möglichkeiten, andere Rahmenbedingungen.
Wo gibt es Durchlässigkeiten oder leicht veränderbare Grenzen?
Beispielsweise in Bezug auf Öffentlichkeit. Es ist sehr viel einfacher geworden, sichtbar und hörbar zu werden. Vor allem auch dann, wenn man mit bestimmten Privilegien – wie Bildung oder einer gewissen Herkunft – ausgestattet ist und repräsentativ ‚etwas hermacht‘.
„Die machtvollere Position abgeben heißt: macht einmal!“
Sprechen wir noch über Benennungspraktiken. ‚Migrant_in‘ wird zum Teil als oppositionelle Selbstbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber verwendet. Wie hältst du es mit diesem Begriff oder anderen wie ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘, ‚migrantische Kulturarbeit‘ etc.? Durch Benennungen werden Subjekte und Phänomene immer auch auf eine spezifische Art markiert und ‚geandert‘. Wie kann oder soll beispielsweise im Kulturbereich gesprochen werden?
Ich habe kein Rezept dafür, es kommt auf den Kontext an. Ich verwende die Begriffe immer ganz unterschiedlich und manchmal ist es mir, ehrlich gesagt, auch egal. Den Begriff ‚Migrant_in‘ verwende ich sehr wohl, ‚Migrationshintergrund‘ verwende ich kaum, denn je nach Umfeld und Machtverhältnissen, in denen ich mich bewege, ist dieser Hintergrund meistens auch der Vordergrund. Ethnische Zuschreibungen versuche ich zu vermeiden. Im Grunde diskutieren wir – wenn wir von Inter- und Transkulturalität sprechen – immer das Österreichischsein, sogenannte ‚Normalität‘, also was es heißt, österreichisch zu sein. Ich verwende in verschiedenen Zusammenhängen auch pejorative Begriffe wie ‚Tschusch‘, ‚Kanake‘, als Scherz unter Freund_innen ebenso wie auch hier und da, um zu provozieren. In den Kulturdebatten der letzten Jahre hat sich hier viel geändert.
Womit ich aber wirklich aufmerksam sein will, ist der neue Identitarismus, also mit Selbstdefinitionen wie ‚People of Color‘ oder eben auch ‚Migrant_in‘ so zu argumentieren, dass es den Anschein macht, Identität sei monolithisch und immer schon gegeben und nicht auch und vor allem Ergebnis ökonomischer Verhältnisse. Man kann von Menschen sprechen, die armutsbetroffen sind oder geringeren Bildungszugang haben. Das können ja Migrant_innen wie Nicht-Migrant_innen sein. Ein ‚weißer alter Mann‘ kann genauso keinen Zugang zum Landestheater haben. Er kann in verschiedener Hinsicht machtvollere Positionen haben, in vielen aber auch nicht. Verallgemeinernde Zuschreibungen sagen noch nichts über dieses Verhältnis aus. Wir müssen über Klassenverhältnisse reden, über die sehr viel weitergetragen wird. Darüber, wen man meint, wenn man von ‚Migrant_in‘ spricht. Privilegierte Migrant_innen wie mich? Oder den ‚Jugobuben‘ aus einem sogenannten Problembezirk? Wir sind oft einfach sehr unpräzise und müssen schauen, worum es konkret geht. Man bleibt in einer Wolke der Zuschreibungen, der Verallgemeinerungen und verschleiert sehr viele Machtverhältnisse.
María do Mar Castro Varela sprach in ihrem Vortrag in Salzburg davon, dass sie vor allem einen Bedarf in der Entwicklung von ‚Grenzwissen‘ sieht, Wissen der Menschen, die in den ‚Borderlands‘ leben und weder von der einen, noch von der anderen Seite anerkannt werden. Sie betonte das Potenzial von hybrider Identität und Migration als Möglichkeit zur Befreiung von der ‚Heimat‘ im Sinne des Konzepts eines geografisch fixierten Orts. Auch der Migrationsforscher Erol Yildiz (2015) (*11) betont das positive Potenzial von Prozessen der Entortung und Neuverortung, Mehrfachzugehörigkeiten, (Grenz-)Biografien und daraus entstehenden postmigrantischen Räumen bzw. Transtopien im Sinne von Zwischenräumen. Wie und wo siehst du diese Potenziale – im politischen Sinn, aber auch persönlich?
Sowohl das ‚Grenzwissen‘ wie das ‚Postmigrantische‘ sind die Normalität. Dabei muss man nicht selbst migriert sein. Es ist da und findet in Räumen der Begegnung statt – im öffentlichen Raum, in einem Wohnviertel, im Wohnhaus, in der Schule, in der Arbeit. Sie sind eine Chance, fehlen aber auch einem Teil der Bevölkerung. Dass ich in einem Land wie Österreich, in dem seit über 50 Jahren Menschen aus der Türkei in einer relativ beachtlichen Zahl leben, fast immer erklären muss, wie man meinen Namen ausspricht, ist nicht mein Defizit. Das ist das Defizit der Gesellschaft, die weder das Bedürfnis nach noch die Möglichkeiten für Begegnungen mit Menschen anderer Herkünfte hatte. Unterschiedliches ‚Grenzwissen‘, kulturelles, inter- oder transkulturelles Wissen ist in Stadtteilen, wo verschiedene Menschen mit nicht so großen ökonomischen Unterschieden zusammenleben, normal. Dieses Wissen fehlt einem Teil der Bevölkerung – und wie es vermittelt werden könnte, ist wirklich ein schwieriges Thema.
Die Wiener Brunnenpassage (vgl. Pilić/Wiederhold 2015) (*4) ist so ein Vermittlungsort. Haben künstlerisch-kulturelle Orte dieser Art ein besonderes Potenzial in Hinblick auf die Gestaltung solcher Begegnungsräume?
Ja, weil sie unterschiedliche Menschen erreichen können. Die Brunnenpassage ist wirklich ein außerordentliches Projekt, in der Form einmalig. Mit sehr wenigen Ressourcen geschieht dort sehr viel. Wenn man aus dem Kulturfeld hinausgeht, kann man sagen, dass das gesamte Bildungssystem so ein Begegnungsraum ist. Aber noch mal zurück zur Kultur: Ich wüsste nicht, warum nicht auch das Volkstheater, das Landestheater, das Burgtheater oder das Kino um die Ecke solche Räume sein können. Der Punkt ist, dass das Wissen, das die Brunnenpassage, die WIENWOCHE und verschiedene andere Projekte, die in Nischen arbeiten, generieren, in die Institutionen einfließen muss. Es geht noch nicht einmal darum, dass dieses Wissen in die Gesellschaft reinfließt, sondern dass die Institutionen selbstkritisch danach fragen müssen, was ihnen fehlt. In Gesprächen mit Kulturpolitiker_innen und Kulturschaffenden fällt auf, wie sehr die Menschen über andere sprechen und kaum über sich selbst. Allein der Versuch, mit Menschen mit anderen Herkünften zu arbeiten, reicht für viele, um zu sagen, ‚Ich bin eh schon auf der richtigen Seite‘.
Was man aus der Brunnenpassage lernen kann, ist, dass es notwendig ist, unterschiedlichste Menschen in die Arbeit und in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Von außen und teilweise von oben zu versuchen, Grenzen zu durchbrechen und Durchlässigkeiten zu schaffen, funktioniert einfach nicht. Wenn das Wissen nicht von Anfang an in eine Institution mit- und eingebracht wird, muss sie wahnsinnig viel verlernen und lernen. Das ist eine Frage der Ressourcen, aber vielleicht auch eine Frage des Zurücktretens und Sagens, jemand anders macht das vielleicht besser als ich.
Also auch eine Frage der Reflexion privilegierter Positionen und des Abgebens von Privilegien, wie es Gayatri Spivak als eine der ersten postkolonialen Theoretiker_innen von Angehörigen der weißen Mehrheitsgesellschaft, aber auch von Elitemigrant_innen gefordert hat? Du bezeichnest dich als ‚Elitemigrant‘. Inwieweit gibst du Privilegien ab? Wie kann ich als weiße Universitätsangestellte Privilegien abgeben?
Man kann Machtpositionen abgeben. Die machtvollere Position abgeben heißt: macht einmal! Also Vertrauen haben, sich selbst rausnehmen, Rahmenbedingungen schaffen, in denen andere Menschen sich zurechtfinden können, zur Entwicklung eines Projekts mit Laien oder Menschen in der Professionalisierungsphase zusammenarbeiten statt mit professionellen Künstler_innen. D.h. aber auch, dass man selbst oft viel mehr Arbeit hat, dass man für ein Projekt viel mehr Zeit braucht, dass man Dinge tut, die nicht so toll sind – z.B. an Budgets für die Projekte anderer arbeitet oder ‚Hilfsarbeiten‘ übernimmt. Privilegien abgeben heißt, sich für etwas einzusetzen, Dinge zu tun, die weniger Spaß machen, die in Hinblick auf die eigene Karriere weniger bringen.
Anita Moser, Can Gülcü ( 2018): „Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche.“. Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/radikalitaet-findet-dort-statt-wo-ich-meine-eigenen-regeln-breche/