Was will soziale Kunst?
Soziale Kunst hat ihren Ursprung in der klassischen Avantgarde Anfang des letzten Jahrhunderts. Laut dem Kunst- und Literaturwissenschaftler Peter Bürger lag der Anspruch der Avantgarde nicht so sehr in der Zerstörung der Institution Kunst, vielmehr sollte Kunst durch die Avantgarde in Lebenspraxis überführt werden (Bürger 1995: 98). (*4)Bürgers Schlussfolgerung ist jedoch, dass die AvantgardistInnen genau an diesem Anspruch gescheitert seien. Tatsächlich sind ihre einst gesellschaftsrevolutionären und antibürgerlichen Aktionen, Werke und Manifeste nach wenigen Jahren in ihr Gegenteil verkehrt und vom Kunstmarkt einverleibt worden. Der Besitz großer Werke der Dadaisten, Surrealisten, russischer Futuristen oder Konstruktivisten, die einst zu Revolution und gesellschaftlichem Aufbruch aufriefen, sind heute für die, die es sich leisten können, zum Statussymbol und zur Wertanlage geworden. Den avantgardistischen Kunstströmungen nach 1945, die Peter Bürger unter dem Begriff Neoavantgarde zusammenfasst, erging es ähnlich. Bürger zieht rückblickend den Schluss, dass diese zweite Avantgarde von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei.
„Obwohl die Neoavantgarden zum Teil die gleichen Ziele proklamieren, wie die Vertreter der historischen Avantgardebewegungen, kann der Anspruch auf eine Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis innerhalb der bestehenden Gesellschaft nach dem Scheitern der avantgardistischen Intentionen nicht mehr ernsthaft gestellt werden.“ (Bürger 1995: 45) (*4)
Die Argumentation Bürgers wird hier problematisch, da sie die Potentiale einer partiellen Weiterführung der historischen Avantgarde verkennt. Kunst mag es nicht gelingen, im jeweiligen Kontext zur Gänze in Lebenspraxis überführt zu werden, aber es ist ein Fehlschluss, deshalb von einem generellen Scheitern der Intention an sich zu sprechen. Übersehen wird, zu welch unterschiedlichen und komplexen Ausformungen die Avantgarde in der Kunst geführt hat. Vielmehr ist es so, dass die Intention der Avantgarde und Neoavantgarde Kunst in Lebenspraxis zu überführen partiell gescheitert ist. Das bedeutet auch, dass sie partiell gelungen ist. Das Verständnis von Kunst als Prozess und dialogischem konfliktreichen Erfahrungsraum hat sich in der Kunst über weite Strecken durchgesetzt, es ist eigentlich aus einer heutigen Kunstpraxis nicht mehr wegzudenken. Im Rahmen meiner Forschung zeigt sich, dass es aktuellen sozialen Kunstpraxen sogar besser gelingt, Kunst in Lebenspraxis zu überführen als zur Zeit der Avantgarde. Der Grund dafür liegt darin, dass soziale Kunst bescheidener auftritt, die jeweiligen Projekte längerfristig angelegt sind und dadurch besser nachhaltige soziale Prozesse in Gang gesetzt werden können. Im Gegensatz zur Avantgarde, die auf einem emphatischen Bekenntnis zur Revolution fußte, welches sich meist im ästhetischen Schock manifestierte, interveniert soziale Kunst schrittweise in die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft.
Dialog als Methode und Prinzip
Das dialogische Prinzip, welches für soziale Kunstpraxen seit der Avantgarde zentral ist, findet in Grant Kesters Konzept der Dialogical Aesthetics (2004) (*7) eine umfassende kunsttheoretische Fundierung. Kester fasst die jüngere Entwicklung in der zeitgenössischen Kunst, wie jene der KomplizInnenschaft, Allianzenbildung, Partizipation und der Kollaboration als ästhetische Phänomene auf. Kester stellt den durch KünstlerInnen geschaffenen Dialog mit den RezipientInnen und den Projektbeteiligten in den Mittelpunkt des ästhetischen Interesses. Im Gegensatz dazu kritisiert Kester den Diskurs der Moderne, der Ästhetik möglichst unabhängig und unbeeinflusst von Politik und Gesellschaft positioniert hatte.
Ausgehend von Kesters Untersuchungen und von meiner eigenen Erfahrung, sehe ich die besondere Qualität der Dialogischen Kunst darin, dass sie auf eine Beziehung zwischen involvierten BetrachterInnen (Partizipation), am Projekt Beteiligten (Kooperation und Co-Konzeption) und den KünstlerInnen (Mediation und Konzeption) setzt. Der wechselseitige Austausch bildet die ästhetische Erfahrung. Dialogische Kunst ist eine soziale Kunst.
Martin Krenn ( 2016): Das Politische in sozialer Kunst. Intervenieren in soziale Verhältnisse. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/das-politische-in-sozialer-kunst/