ent/grenzen

Eine Möglichkeit, aus dem gewohnten, kulturpolitisch kontrollierten und in diesem konkreten Fall auch realsozialistisch beschränkten Rahmen auszubrechen, beschreibt Ina Mertens in ihrem Beitrag zum slowakischen Künstler Július Koller bzw. dessen Alter Ego – dem U.F.O.-nauten. Während für den Künstler also das geografische wie auch politische Gefühl der Eingrenzung omnipräsent war, lebte er zugleich in der Figur des U.F.O.-nauten in einer Welt der allumfassenden, nämlich „galaktischen Entgrenzung“.

Die Willkürlichkeit von Grenzziehungen wird am Beispiel des Dorfes Zemo Nikozi in Südossetien deutlich, welches – gefangen in einem „frozen conflict“ – durch einen Stacheldrahtzaun von traditionellen Verbindungen abgeschnitten und somit wirtschaftlich und sozial isoliert wurde. Das Projekt off/line – initiiert von der Schweizer Stiftung artasfoundation – verfolgt die Idee, durch Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen – aus Georgien wie auch aus Westeuropa – und Menschen aus der Zivilbevölkerung Prozesse des Wiederaufbaus und der Friedensbildung zu fördern. Beim Projekt off/line wird deutlich aufgezeigt, dass man als von außen Kommende_r immer in ein komplexes Differenz- und Hierarchieverhältnis eintritt. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob nicht auch solche künstlerischen Projekte wiederum – wie bei Castro Varela diskutiert – bestimmte Wertvorstellungen transferieren bzw. Machtstrukturen bekräftigen; Marcel Bleuler, Projektleiter und Autor des Beitrages, sieht in einem bewussten Vermeiden einer Zweckorientierung und Zielsetzung eine Option, möglichst offene, partizipative und demokratische Projektstrukturen zu schaffen; zugleich ist diese Ausrichtung des Projektes ein wesentliches Unterscheidungskriterium zu allgemeinen Praktiken internationaler Zusammenarbeit, an die man sich im ersten Moment erinnert fühlen mag.

Anita Moser greift in ihrem Beitrag die Konstruktion von „Wir/Andere“ und die Frage „Wer spricht?“ im Rahmen der kaum überschaubaren Zahl an Kulturprojekten für und mit „Geflüchteten“*2 *(2) auf. In der Flut von künstlerischen Projekten wird das Konstrukt „Wir/Andere“ oftmals nicht abgebaut, vielmehr werden häufig Hierarchien zwischen weißen Künstler_innen bzw. allgemein Bewohner_innen des paradoxen Raums und Menschen mit Grenz- und Fluchterfahrung vielfach fortgeschrieben. Anhand des Theaterstücks Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene, das vom Künstler_innenkollektiv Die schweigende Mehrheit sagt JA! unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen mit Fluchterfahrung auf Basis von Elfriede Jelineks Text Die Schutzbefohlenen erarbeitet wurde, geht Moser dieser Frage der Fortschreibung oder des Abbaus diskriminierender Grenzziehungen nach.

Im zweiten Teil des Bandes kommen Künstler_innen selbst zu Wort, deren Projekte einen Einblick geben, in welcher Bandbreite und Variation Kunst- und Kulturschaffende sich der Thematik der Grenzziehungen annähern: So stellt etwa die Künstler_innengruppe gold extra ihre Computerspiele Frontiers und From Darkness zum Thema Flucht vor und zeigt auf, wie viel Fachwissen und jahrelange Recherche für solche Projekte von Nöten sind – zugleich verdeutlichen sie das Potenzial von Computerspielen als künstlerisches Medium. Als in sich grenzüberschreitend ist auch das Projekt Wild zu bezeichnen, welches Mobilitätsprozesse, Effekte von Bürokratien und Freiheitspotenzialen am Beispielen der Tierwelt durchspielt und somit einen Versuch unternimmt, die Perspektive der eigenen Spezies zu verlassen und zivilisatorische Administrationsmechanismen und Strategien für Mobilität und Migration auf Wildtiere zu übertragen. Weitere Beiträge etwa von Romana Hagyo zu künstlerischen Arbeiten von Maja Bajević oder von Siri Peyer zum durch den holländischen Künstler Renzo Martens initiierten Institute of Human Activities in der Demokratischen Republik Kongo öffnen die Perspektive über den deutschsprachigen Raum hinaus.

Klar ist, dass zu in diesem Sammelband behandelten Aspekten von Raum – etwa im Hinblick auf soziale, politische, kulturelle Grenzziehungen, zu Migration und Flucht – beim Abschluss eines Buches sofort neue Kapitel geschrieben werden können. Mit dem vorliegenden Band gelingt jedoch nicht nur eine theoretische Verortung des komplexen Themas, sondern auch ein Einblick in die kaum überschaubare Anzahl und Bandbreite künstlerischer Projekte in diesem Kontext, welche wiederum von künstlerischer wie auch wissenschaftlicher Seite fundiert und aufschlussreich reflektiert und diskutiert werden. Mein Fazit für dieses Buch – Prädikat: Lesenswert!

Buchcover "ent/grenzen"

Buchcover „ent/grenzen“

Erst im Zuge der zunehmenden europäischen Abschottungspolitik werden Grenzen wieder wahrgenommen, wenn auch für Bewohner_innen des paradoxen Raums in erster Linie nur mit der Konsequenz längerer Staus auf den diversen Autobahnen.

Wie schwer man der Fortschreibung von Machtverhältnissen und Kategorisierungen  entkommt, zeigt Moser schon an der Verwendung der Bezeichnung „Geflüchtete_r“  auf, welche Menschen tendenziell auf ihre Fluchterfahrungen reduziert und zugleich  kategorisiert.

Verena Höller ( 2018): ent/grenzen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/ent-grenzen/