Der Widerstand gegen das gesellschaftlich erzwungene Funktionieren

Wie beeinflussen crip und queer times unser Denken, Fühlen und Bewegen? Welches spezifische Wissen wohnt diesen heterogenen Zeitlichkeiten inne? Der Wiener Choreograph, Performer und Theoretiker Michael Turinsky setzt sich intensiv mit dem als -behindert- markierten Körper auseinander. Er definiert Crip Choreography „[…] as a critical artistic practice that takes its departure from the singularity of lived experience, its spatial and temporal, affective and libidinal facticity.” (Turinsky o.J.a: o.S.)star (*1) Themen wie Affekt und Repräsentation, Stille, Langsamkeit und Wiederholung, Vibration und Puls werden im Workshop bewegend und fühlend, denkend und redend befragt.

Der Performer, Choreograph und Theoretiker Michael Turinsky lebt und arbeitet in Wien. 1998 bis 2005 studierte er Philosophie an der Universität Wien. Als Performer arbeitete er unter anderem mit Barbara Kraus in Fuck all that shit und mit Doris Uhlich in Ravemachine. Für Ravemachine erhielten sie 2017 den Nestroy-Spezialpreis. Zudem konnte Michael Turinsky schon mehrmals seine choreografische Arbeit unter Beweis stellen, unter anderem mit Heteronomous male (2012) und My body, your pleasure (2014). Zu seinen letzten Arbeiten zählen Second Skin – Turn the beat around (2016), Second Skin – Master of Ceremony (2016) und REVERBERATIONS (2018). Nebenbei hielt er Vorträge und Workshops an verschiedenen Universitäten, etwa an der Universität Salzburg oder auch in New York am College Art Association. Er ist noch aktiv vertreten mit Performances und Choreographien am Tanzquartier in Wien.

Am 13. Juni 2019 durften wir (der Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg und des Mozarteum Salzburg, sowie die Musik- und Tanzwissenschaften der Universität Salzburg) Michael Turinsky am Unipark Nonntal willkommen heißen. Der Workshop und das darauf folgende Gespräch im Rahmen des W&K-Forums wurden von Persson Perry Baumgartinger und Julia Ostwald konzeptualisiert und organisiert.

Der Workshop Doing Crip and Queer Times erhielt regen Andrang. Zahlreiche Teilnehmer_innen fanden ihren Weg in den Tanzsaal der Musik- und Tanzwissenschaften im Unipark Nonntal. Michael Turinsky begegnete uns gleich mit seiner herzlichen und offenen Art und machte nicht Halt davor, uns „ins kalte Wasser“ zu schmeißen – wie er es ausdrückte.  Die erste Aufgabe war es, sich zu zweit auf einen Gegenstand zu konzentrieren und zu improvisieren. Alle Handlungen sollten sich nur auf den Gegenstand und nicht aufeinander beziehen. Keine leichte Aufgabe, kommt man doch in der einen oder anderen Weise nicht darum herum, miteinander zu kommunizieren, beziehungsweise kann man sich nicht gegenseitig ignorieren. Michael Turinsky scheute sich nicht, sich mit einzubauen und sich mit uns am Boden ‚herumzukugeln‘. Man spürte, dass er mit seinem Körper im Einklang war – ihn so akzeptierte, wie er ist. Das war sehr beeindruckend und inspirierend. Nach einem Austausch der Teilnehmenden und einer Einführung in Crip Choreography folgte der ruhige Teil des Workshops. Hier konnte man sich voll und ganz entspannen und auf sich und seinen Körper konzentrieren – ihn näher kennenlernen. Durch konzentrierte Atemübungen und langsame, bewusste Bewegungen konnte man in diesem Part des Workshops Zeit für sich nehmen und die Übungen im eigenen Tempo ausführen.

Der letzte Teil war extravagant. Hier stellte uns Michael Turinsky Crip Voguing vor. Ein Tanzstil der durch die Langsamkeit und das Übertreiben von Bewegungen und Posen gekennzeichnet ist und wirklich ‚schräg‘ anzusehen ist. Aber das machte umso mehr Spaß und man fühlte sich dadurch ‚cool‘ und selbstbewusst. Perfekt, um sich auch mal im Alltag selbst aufzubauen. Der Workshop war ein spannender Mix aus verschiedenen Elementen von DanceAbility, Crip Voguing sowie Crip Choreography und der Selbst-/Erfahrung von Langsamkeit. Überraschend war für viele Teilnehmer_innen die Erkenntnis, dass „tanzen“ eigentlich ziemlich viel Lärm machen kann. Für viele war „der Tanz“ verbunden mit „Elitetänzen“ wie Ballett, die lautlos zu sein haben – auch heute noch.

Im Gespräch mit Michael Turinsky, welches von Persson Perry Baumgartinger im Rahmen des W&K-Forums Thinking about Crip and Queer Times geführt wurde, ging es besonders um das Thema Zeitlichkeit beziehungsweise Langsamkeit. Hier stellte Michael Turinsky gleich zu Beginn fest, dass Zeit und Zeitlichkeit für Menschen unterschiedlich sind. Er zum Beispiel braucht durch seine physische Einschränkung oft länger, um in den Tag starten zu können, und plant viele Ausflüge und Reisen schon im Vorhinein akribisch. Auch generell im Alltag muss man oft viel vorausdenken. In seiner choreographischen Arbeit baut er diese „andere“ Zeitlichkeit mit ein. Für ihn ist „das Material der Choreographie organisiert getaktet“, wie er im Gespräch formulierte. Außerdem stellt er sich oft die Frage, was seine eigene Zeitlichkeit mit dem Problem der Organisation von Bewegung beim Tanz bewirkt. Auch zum Thema „Improvisation“ meint er, dass diese etwas komplett Freies und vor allem auch Neues sein sollte und man darauf achten muss, nicht wieder etwas Kommerzielles zu erschaffen. Was gar nicht so einfach ist, da wir alle von gesellschaftlichen Normen und Handlungen vorgeprägt sind, weshalb seiner Meinung nach die üblichen Improvisationen in der Regel keine Improvisationen sind. Die Diskussion und seine Standpunkte veranschaulichte er mit Beispielen aus seiner Arbeit: REVERBERATIONS und My body, your pleasure.

Zum Schluss zeigte Turinsky uns aus My body, your pleasure einen Ausschnitt, in welchem die Performer_innen von totaler Ordnung mit synchronen Bewegungen zu einer Orgie explodieren. Die Orgie wird im Laufe der Handlung immer aggressiver und die Schauspieler_innen beginnen, auch die umher stehenden Kartonkisten zu zerstören. Michael Turinsky beschreibt die gesamte Choreographie als „[…] fast schon kindliche[s] Spiel auf eine polymorphe, eben vielförmige Lust, die zwar prekär sein mag, aber an keinen besonderen Ort, keine besondere, herausragende Form, keinen besonderen Körper oder Körperteil gebunden bleiben muss.“ (Turinsky o.J.b: o.S.) Beim W&K-Forum trat die Frage auf, ob Gewalt in seinen Arbeiten thematisiert werde. Michael antwortete daraufhin, dass nicht Gewalt, aber Aggression in seinen Arbeiten zum Thema gemacht werden – wie in My body, my pleasure. Diese lässt er jedoch nicht alleine auftreten, sondern oft in Kombination mit einem Gegenstück. Hierbei zählte Michael Turinsky verschiedene Konstellationen der Gewalt auf, welche zum Beispiel verknüpft sind mit Trauer oder Faszination.

Der Tag lässt sich zusammenfassend als aufregend, anstrengend, spannend, entspannend und als inspirierend beschreiben. Michael Turinsky hat mit seinen Erfahrungen, seinem unglaublichen Körpergefühl, seinem umfangreichen theoretischen Wissen und vor allem durch seine sympathische, herzliche Art begeistert und beeindruckt. Hoffentlich beehrt er uns bald wieder!

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Turinsky, Michael (o.J.a): Unterricht, Wien. Online unter http://www.michaelturinsky.org/de/unterricht.html (Zugriff am 03.07.2019).

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Turinsky, Michael (o.J.b): My body, your pleasure, Wien. Online unter http://www.michaelturinsky.org/de/my-body-your-pleasure.html (Zugriff am 03.07.2019).

Raphaela Schatz ( 2019): Der Widerstand gegen das gesellschaftlich erzwungene Funktionieren. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/der-widerstand-gegen-das-gesellschaftlich-erzwungene-funktionieren/