„Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit.“
Ellen Roters im Interview über anti-diskriminatorische Kulturvermittlung mit Jugendlichen.
Villa Global – „Herkunft ist nur ein Aspekt unter vielen“
Bevor wir auf das Projekt Villa Global eingehen, das bei euch am Jugend Museum stattfindet, möchte ich gern mehr über deinen Hintergrund erfahren. Was hat dich motiviert, in die Kulturvermittlung und die Arbeit an einem Jugendmuseum zu gehen? Gibt es so etwas wie eine Hauptmotivation oder Hauptanliegen für die Arbeit, die du machst?
Ich habe im weitesten Sinne feministische Gesellschaftskritik studiert. Es hieß Erziehungswissenschaften, es gab aber einen feministischen Schwerpunkt. Ich arbeitete lange für Kinderfreizeiten, damals heißen sie noch Integrationsfreizeiten. Wir waren damals in der glücklichen Situation, dass Kinder mit mannigfaltigen Einschränkungen und welche, die anscheinend keine hatten, in einem einigermaßen ausgewogenen Verhältnis gemeinsam in die Ferien fuhren. Dadurch, dass ich schon relativ früh in der Projektleitung war, konnte ich auch das Team zusammenstellen. Wir waren dann ein ziemlich queeres Team. Im Rückblick waren das paradiesische Zustände. Wir waren drei Wochen in einem Wald in Bayern und es gab so viele Unterschiede in dieser Gruppe, dass alle ganz frei in ihrem Ausdruck sein konnten. Das hat sich auch bei den Kindern bemerkbar gemacht. Es gab welche, die fanden am Anfang alles ganz komisch. Es gab Jugendliche, die die Polizei anrufen wollten, als sie mitbekamen, dass Schwule und Lesben im Leitungsteam sind. Wir hatten einen Kollegen dabei, der total gerne Röcke trug oder sich Tücher umband, wenn es heiß war. Er sagte, das sei einfach das Angenehmste, was es gibt, wenn es heiß ist. Das führte dazu, dass am Ende selbst die Jungs, die vorher noch die Polizei anrufen wollten, sich das auch getraut haben. Das ist mein Background. Dann gab es diese Idee, ein Jugendmuseum zu gründen, mit der ganz klaren Intention, vielfältige Zugänge zu schaffen und Kinder und Jugendliche zu den Protagonist*innen zu machen, die im Museum dann auch zu Wort kommen. Das motiviert mich immer noch. Inzwischen sind mehr Facetten in den Blick gekommen, auch antirassistische Arbeit. Es gibt Schulen im Quartier in der Nähe des Museums, wo fast 100 Prozent der Kinder Migrationsgeschichte in ihren Familien haben. Das hat motiviert, das auch in den Blick zu nehmen. Das war zu einer Zeit, wo das überhaupt noch nicht angesagt war. Da gab es diese Frage nicht.
Wann war das ungefähr?
Wir haben vor 20 Jahren angefangen.
Also Ende der 90er Jahre?
Genau. Die Motivation, diese Einrichtung zu etablieren, waren eigentlich die Übergriffe Anfang der 90er kurz nach dem Mauerfall. Dieses „Wir sind das Volk“ hat ausgeblendet, dass zu diesem Volk auch noch andere gehören als die, die weiß und biodeutsch sind – ein schwieriger Begriff, aber er hilft hier die Situation zu beschreiben. In Berlin gab es damals ein Aufbegehren der türkischen Community, die formuliert haben, dass sie auch das Volk sind. Das war völlig aus dem Blick geraten. Dabei war ganz klar, dass es einige gibt, die wirklich abgehängt werden. Bei uns in der Nähe des Museums gab es ein Gebäude, wo es so viel prekäre Verhältnisse und auch Kriminalität gab, dass man wirklich überlegt hatte, das Haus abzureißen. Da wohnten ich weiß nicht wie viele Nationen. Dann hat sich ein Quartiersmanagement herausgebildet und wir haben schnell das Interesse geäußert, Kulturangebote für Kinder und Jugendliche aus dem Quartier machen zu wollen. Dass war der Startpunkt für das, was später die Villa Global geworden ist.
Kannst du beschreiben, was die Villa Global genau war?
Ja, das ist eine Ausstellung. Die erste Ausstellung war genauso aufgebaut wie die, die wir jetzt noch haben, weil es so gut funktioniert hat. Es sind inzwischen vierzehn kleine Räume, du kannst in diese Räume gehen und hast wirklich den Eindruck, du kommst zu jemandem privat nach Hause. Mit den Objekten, die in den Räumen ausgestellt sind, und den Geschichten, die mit ihnen erzählt werden, erfährst du etwas über die jeweilige Person. In der ersten Villa hatten wir tatsächlich sehr stark den Fokus auf Herkunftsländer. Es war zwar immer klar, dass das Leute sind, die hier in Berlin leben, aber irgendwoher kommen. Wir versuchen in den Zimmern Situationen zu schaffen. Wir hatten zum Beispiel einen Raum von Sevgi Yücel, einer unserer Kolleginnen. Sie ist als Sechsjährige mit ihren Eltern in der ersten Gastarbeitergeneration nach Berlin gekommen und in Berlin aufgewachsen. Bei ihr war die Situation, dass sie gerade das Beschneidungsfest ihres Sohnes vorbereitet und auch die Geschichte dahinter erzählt, also warum das für sie so ein wichtiges Fest ist und was da eigentlich passiert.
Marcel Bleuler, Ellen Roters ( 2019): „Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit.“. Ellen Roters im Interview über anti-diskriminatorische Kulturvermittlung mit Jugendlichen.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/um-sich-bestimmten-themen-anzunaehern-brauche-ich-auch-die-gefuehrte-freiheit/