„Ich sehe meine Arbeit als eine Irritation im Alltag weißer Subjekte.“

Ein Gespräch mit Carla Bobadilla über Kunstvermittlung als anti-diskriminatorische Praxis.

Wir führen dieses Gespräch im Anschluss an einen Workshop, in dem es um die Entwicklung von kritischen Materialien für die Kunst- und Kulturvermittlung ging. Was ist dein subjektives Interesse an der Entwicklung solcher Materialien? Welche Themen, Inhalte oder Motivationen sind für dich ausschlaggebend?

Die Tatsache, dass ich ursprünglich von einer anderen Kultur komme, mit dieser kulturellen Prägung nach Wien gekommen bin und mich als Person in Wien ganz neu erfinden musste, prägt meine künstlerische Praxis und dementsprechend auch meine Kunstvermittlungspraxis. Dieses Neuerfinden war zum Teil sehr schwierig. Wie möchte ich mich in der Öffentlichkeit bewegen? Wie möchte ich gesehen werden? Welche Strategien entwickle ich für mich, um mich in dieser neuen Welt zu positionieren? Gleichzeitig geht es auch darum, wie diese Strategien jetzt nicht nur für mich funktionieren können, sondern auch für andere Personen. Daraus ist diese Praxis entstanden, die nicht rein Kunst und auch nicht nur rein Vermittlung ist. Es ist eine Praxis, die sehr feministisch und auch sehr von postkolonialen und dekolonialen Theorien geprägt ist. Meine Hauptmotivation ist, dass ich die Erfahrungen, die ich als migrantisches Subjekt gehabt und gewonnen habe, an Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich, weitergeben kann, sodass ich ihren Weg in irgendeiner Form erleichtern kann. Es hat zwar jede Person einen eigenen Weg, aber trotzdem geht es um die Entwicklung emanzipatorischer Tools zur Selbstermächtigung und zur Anerkennung dessen, was ich als migrantisches Subjekt in dieser Gesellschaft bin.

Du richtest dich also eher an Personen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie du selbst, und nicht so sehr an Menschen, die durch deine Arbeit überhaupt erst mit den Erfahrungen eines migrantischen Subjekts in Kontakt kommen könnten?

Das ist eine sehr interessante Frage. Meine erste Überlegung war, als ich mein Feld von der bildenden Kunst zur Kunstvermittlung gewechselt habe, dass ich mit Menschen arbeiten möchte, die aus genau so einer Situation wie ich kommen. Das waren die ersten drei, vier Jahre: 2009 bis 2012. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich für diese Arbeit eine ganz andere Ausbildung bräuchte, die ich nicht habe und ich nicht weiß, ob ich mir diese Ausbildung jetzt aneignen will. Die Frage stellte sich wegen der Zeitnot, die ich als Künstlerin in meinem damaligen akademischen Arbeitsfeld hatte. Also habe ich mich gefragt: Was kann ich an dem Ort bewegen, wo ich bin? Wer sind meine Adressat*innen? So bin ich von Subjekten, die genau die gleichen Erlebnisse haben wie ich, zu Mehrheitsangehörigen gewechselt, die zum Teil als Studierende zu mir kommen. Ich unterrichte an der Akademie der bildenden Künste am IKL (Anm.: Institut für das künstlerische Lehramt). Die Studierenden, die zu mir kommen, sind grundsätzlich Mehrheitsangehörige. Der Prozentanteil an migrantischen Menschen ist wirklich sehr niedrig. Da ist eher meine Rolle, Herzen und Köpfe aufzumachen und einen Brechpunkt reinzukriegen. Du hast es heute sehr schön den irritierenden Moment genannt. Davor war meine Idee, meine Erfahrung zur Verfügung zu stellen für eine Emanzipation oder eine Anerkennung, was migrantische Subjekte sind. Jetzt sehe ich meine Arbeit mehr als eine Irritation im Alltag weißer Subjekte. Was passiert, wenn die Person, die vor mir steht, gebrochenes Deutsch spricht? Was passiert, wenn die Person, die vor mir steht, eine Ausbildung hat, die keine europäische Ausbildung ist? Allein die Tatsache, dass ich vor ihnen stehe, ist ein irritierender Faktor.

Geht es vor einer Gruppe von Mehrheitsangehörigen darum, für Ausschluss und Vielfalt zu sensibilisieren? Sind diese Begriffe für deine Praxis wichtig?

Es sind natürlich wichtige Begriffe, aber es begrenzt sich da. Wie sieht denn Vielfalt in einer Klasse am IKL aus? Was ist da die Vielfalt? Ist die Vielfalt, dass die Leute nicht nur aus Wien kommen, sondern aus den Bundesländern? Dass die Leute aus verschiedenen Bildungshintergründen kommen? Wenn das die Vielfalt ist, dann sehe ich das bei mir in der Klasse sehr klar. Was passiert in einer Klasse, wo du Menschen unterrichtest, die am Land auf dem Bauernhof aufgewachsen sind oder erst in die Hauptschule gegangen sind und dann mit Umwegen die Matura gemacht haben, um nach Wien zu kommen und Kunsterziehung zu lernen? Oder die, die eine Hauptschule besucht haben, dann eine Kindergartenpädagog*innenausbildung gemacht haben, dann die Matura und dann erst ins Lehramt? Meine Lehrveranstaltung ist eine praktische und künstlerische Veranstaltung. Trotzdem arbeiten wir sehr viel mit Texten, das ist mein persönliches, akademisches Begehren ‑ wahrscheinlich aus dem Grund, weil ich Bücher liebe. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo es keine Bücher gab. Die erste Bibliothek hatte ich schon mit 15. Ich habe alles, was ich irgendwie an Geld bekommen habe, in Bücher investiert. Was mache ich damit? Wie produziere ich damit und allein durch die Auswahl an Texten auch Ausschlüsse? Ich habe schon ein Semester hinter mir, wo ich das Gefühl hatte, dass ich das schlecht gemacht habe. Es waren zum Teil sehr komplexe Texte dabei, die für mich selbst sehr schwierig waren. Das ist die Frage für die weiteren Semester und so lange ich da arbeite: Wie schaffe ich Vermittlungssituationen, um mit diesen Texten richtig arbeiten zu können und einen Text mit einer rebellischen Haltung zu lesen? Der schwierige Text ist da und ich verstehe ihn nicht. Warum ist das so schwer geschrieben? Muss ich das unbedingt lesen? Brauche ich ein ganzes Semester dafür? Was mache ich mit diesem Unwohlbefinden? Ich glaube, das ist mir zum Teil schon gelungen.

Marcel Bleuler, Carla Bobadilla ( 2019): „Ich sehe meine Arbeit als eine Irritation im Alltag weißer Subjekte.“. Ein Gespräch mit Carla Bobadilla über Kunstvermittlung als anti-diskriminatorische Praxis.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/ich-sehe-meine-arbeit-als-eine-irritation-im-alltag-weisser-subjekte/