„Queering the Museum beinhaltet eine Kritik am Neoliberalismus der Kulturindustrie.“

Die Tiefe Kümmernis im Gespräch mit Persson Perry Baumgartinger über LGBTIQ+ und kulturelle Teilhabe in Museen

Die Tiefe Kümmernis ist Kunsthistoriker_in und Kulturvermittler_in in Wien. In Drag konzipiert/e sie* themenbezogene Touren. In unserem Gespräch tauschten wir uns über kulturelle Teilhabe, Ein- und Ausschlussmechanismen im Kunstbetrieb sowie Möglichkeiten des Verqueerens von Museen und Kulturvermittlung in einer kapitalistisch-neoliberalen Gesellschaftsstruktur aus.

Was bedeutet für dich kulturelle Teilhabe oder Kunst und Kultur für alle?

Kunst und Kultur für alle bedeutet für mich, dass es Angebote der Hoch-, Populär- und jeder Art von Kultur kostenlos für jede_n geben muss. Es ist eine Mogelpackung, wenn Museen mit „Museum für alle“ werben und dann einen Eintrittspreis von 15 Euro verlangen. Abgesehen davon müssen weitere Zugangsbarrieren mitbedacht werden, physisch-körperliche und geistig-emotionale. Es braucht ein breit gefächertes Vermittlungsprogramm, das zusätzlich die Hand ausstreckt. Nur das Museum offen zu halten und zu sagen: „Ihr könnt eh alle kommen“, reicht nicht aus. Mir geht es darum, dass sich Leute dort willkommen fühlen, weil sie in irgendeiner Form vertreten sind – das macht es viel wahrscheinlicher, dass ich hingehe und mich damit auseinandersetze.

Es gibt zum Beispiel Kunstmuseen, die ich als Kunsthistoriker nicht besuchen würde. Das betrifft nicht nur Kunstepochen und Kunststile, sondern auch Themen und Inhalte. Wenn es zum Beispiel eine Ausstellung über Liebe und Ehe in der Renaissance in Italien gibt, wie im Metropolitan Museum in New York vor einigen Jahren, und aus dem Pressetext schon hervorgeht, dass das eine rein heterosexuell gedachte Liebe ist, sinkt die Chance, dass ich da hingehe. Liebe soll uns ja eigentlich emotional ansprechen. Das war für mich auch ein Gedanke beim Durchgehen der Sammlungen für die Führungen. Ich habe immer wieder von Liebe gesprochen, aber selten von Liebe, die mich auch selbst betrifft. Manchmal nennt man es auch nur konventionell Liebe, aber es hat nichts damit zu tun. Die Liebschaften des Jupiter, der in Wirklichkeit entführt und vergewaltigt hat, nennt man als Euphemismus Liebe. Da kann man auch Geschichten erzählen, die Leute ansprechen, deren Erfahrungen mit Sexualität und Geschlecht ganz andere sind als die 90 Prozent der Gesellschaft, die sonst immer angesprochen werden.

Du bist ja in der Kulturvermittlung tätig. Denkst du bei deinen Projekten an kulturelle Teilhabe bzw. setzt sie um?

Beim Konzipieren von Vermittlungsveranstaltungen und Vermittlungsformaten versuche ich mitzudenken, was die Leute da rausziehen wollen. Was interessiert sie jetzt gerade? Wie kann ich die Informationen, die in meinem akademisch trainierten Kopf abrufbar sind, formulieren und fruchtbar machen? Wie kann ich Leute ansprechen, die vielleicht sonst nicht viel oder gern ins Museum kommen?

Große etablierte Museen haben einen riesigen, ausdifferenzierten Museumsbetrieb. Alles muss wie in einem Uhrwerk funktionieren. Da gibt es zu Beginn einer Anstellung keine Zeit, eigene Programme zu gestalten, sondern es müssen die Inhalte und Strukturen eingelernt werden. Einmal gab es eine Sonderausstellung zum Thema Feste feiern, Ausbruch aus dem Alltag, Kostümierung und Rollenspiel ab der Renaissance bis 1800. Viele Exponate hatten tatsächlich mit Kleidertausch beziehungsweise mit dem Verwischen von Grenzen zwischen männlichen und weiblichen sozialen Rollen, der bewussten Umkehr der höfischen Starrheit und des rigiden, frustrierenden Alltags der Bauern auf dem Land zu tun. Ich habe gesagt: „Wenn in der kuratorischen Setzung dieser Ausbruch aus dem Alltag so stark ist, dann machen wir doch auch etwas Ungewöhnliches in der Vermittlung. Dann mache ich in Drag eine Führung zu genau diesen ausgewählten Objekten.“ Das fand mein Chef gut. Ich habe bei der ersten Durchführung ehrlich gesagt noch nicht so stark an Teilhabe gedacht, sondern erstmal ausprobiert, wie ich damit zurechtkomme und wie es beim Publikum ankommt. Bekommen wir negatives Feedback oder einen Shitstorm? Wir konnten nicht einschätzen, wie konservativ das Publikum des Museums und die Wiener Allgemeinheit sind. Es hat sich herausgestellt, dass es richtig gut ankommt. Ich habe dann überlegt, wo es in der Sammlung überall einen Konnex gibt. So kam ich dazu, die queeren Lebens- und Liebesgeschichten zu erzählen, die sonst den Expert_innen vorbehalten sind, weil man die so schwer sehen oder wissen kann. Es gibt viele Sachen, die mythologisch kodiert sind. Da muss man die Darstellung auf dem Bild, die literarische Quelle und die vielleicht verstärkte Symbolik on top auseinanderpfriemeln. Das ist mein Hauptthema geworden. Es ging speziell darum, queere Menschen und regelmäßige Museumsbesucher_innen anzusprechen. Wir haben das Klischeebild der Rentner_innen mit Jahreskarte, die zu jeder kostenlosen Themenführung kommen, weil es ihnen einfach Spaß macht. Sie haben einen Wissensdurst und gehen dort gerne hin, haben allerdings oftmals wenig Vorerfahrung mit LGBTIQ-Themen. Es hat sich schnell herausgestellt, dass sie sehr dankbar für die Möglichkeit sind, im gewohnten Umfeld des Museums mehr darüber zu erfahren. Tatsächlich hat mich dann eine ehemalige Chefin, mit der ich über das Projekt gesprochen habe, auf einen interessanten Gedanken gebracht: Ich soll bei der Konzipierung und der Bewerbung des Programms nicht nur bestimmte Zielgruppen ansprechen. Es lebt ja gerade davon, dass ganz unterschiedliche Menschen kommen und sich für etwas mehr als eine Stunde eine temporäre Gruppe bildet. Diese Gruppe ist viel diverser, als man es normalerweise in einem Museum erwarten kann. Es geht darum, diese typischen Barrieren aufzuweichen. Das hat mir auf jeden Fall zu denken gegeben, wie ich die Werbung und die Kommunikation nach außen gestalte. Inhaltlich hat das allerdings nichts verändert. Es sollten auf jeden Fall Kunstwerke sein, die auch peripher mit Drag zu tun haben, beziehungsweise soll mein Drag die kaiserlich-pompösen, erdrückenden, elitären Ausstellungshallen brechen und modern kommentieren. Ich habe gehofft, dass dadurch ein Mehrwert beziehungsweise ein positiver Irritationsmoment oder ein Moment von Demokratisierung entsteht, wo man quasi den Kaiser Franz Joseph aus dem Museum exorziert (lacht).

Du hast gerade gesagt, dass das Publikum dann diverser war als üblicherweise im Museum erwartbar. Haben die Drag-Touren neue Leute ins Museum gebracht?

Ich habe bei meinen Führungen prozentuell viel mehr sichtbar queere Menschen dabei. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass diese normalerweise Hemmungen hätten, ins Museum zu gehen. Ja, ich spreche eine gewisse Zielgruppe an. Bedeutet das aber gleichzeitig, dass ich Barrieren abbaue? Haben die eigentlich eine Barriere? Es gibt ja das entgegengesetzt lautende Klischee, dass queere Menschen ganz besonders kulturaffin seien. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Vielleicht kannst du mir da mehr darüber sagen.

Ich denke viel über Ein- und Ausschlussmechanismen nach, nicht nur in Museen, sondern in der Kunst- und Kulturproduktion prinzipiell. Ich halte etwa elitäre und heteronormative Repräsentation für ein Ausschlusskriterium. Ich überlege mir schon zehn Mal, ob ich in eines der großen öffentlichen Museum gehen soll oder nicht. Als ich von deinen Drag-Touren gehört habe, hat mich das interessiert. Ich weiß aber, dass es viele Bilder gibt, die eine Auslöschung von allem Queeren, allem Bäuerlichen und allem Arbeiterischen sind. Es ist auch ein sehr weißes Museum mit kolonialen Strukturen. Ja, queeren Leuten wird ein akademischer bzw. bildungsbürgerlicher Hintergrund und damit eine höhere Kunstaffinität zugesprochen. Das halte ich beides jedoch nicht für richtig: Vielleicht gibt es von diesen Leuten mehr Zahlen, aber solche Zahlen muss man kritisch sehen.

Wenn du das Gefühl hast, in etablierten öffentlichen Museen geht es um königlich-kaiserliche, elitäre, weiße, heteronormative Geschichten, dann pflichte ich dir bei. Ist dann deine Entscheidung nicht hinzugehen eine Barriere oder ist das deine Entscheidung, nein zu sagen? Ist es so eine Art Desinteresse oder ist das dasselbe?

Es gibt Normalisierungsstrukturen, die Leute im gesellschaftlichen Leben ausschließen und ihnen Rechte verweigern, aufgrund derer etwa queere Jugendliche und Kinder zu einem viel höheren Prozentsatz Suizid begehen als nicht-queere. Ein Museum, das Teil des gesellschaftlichen Systems ist, reproduziert diese Strukturen. Insofern ist es ein Ausschlussmechanismus. Natürlich gibt es Leute, die trotzdem hingehen. Bei einem Museum ist queer vielleicht weniger ein Ausschlussmechanismus als Klasse oder Ableismus.

Mir ist in meinem Denken und meiner Arbeit immer ganz wichtig, das Publikum nicht zu unterschätzen und nicht zu bevormunden.

Foto: Livie Stellner

Foto: Livie Stellner

Vielleicht reden wir von verschiedenen Ebenen. Du bist stark auf der individuellen Ebene und ich bin eigentlich auf der System-Ebene. Welches System ist das? Welche Rollen, Unterstützung oder Widerstände haben bestimmte Einrichtungen, die in der Gesellschaft auch als etwas Hochwertiges angesehen werden? Auf der individuellen Ebene kann ich mich entscheiden, aber diese Entscheidung hängt immer auch von weiteren Faktoren ab.

Da würde ich zustimmen. Systemisch gedacht sind das Ausschluss- oder Distanzmechanismen.

Hast du eine Idee, wer an deinen Projekten wenig bis gar nicht teilgenommen hat oder teilnehmen konnte? Wo produzierst du Ausschlüsse?

Das allergrößte Thema bei Drag-Führungen im Museum ist die Frage: Kann ich es mir leisten hinzugehen? Der Eintritt kostet 15 Euro. Anfangs gab es kein Führungsentgelt, später wurde ein Entgelt von 4 Euro pro Person eingeführt. Das heißt, man muss insgesamt 19 Euro berappen, um dabei sein zu können.

Zu Beginn war so ein großer Andrang, dass wir einen Onlinevorverkauf eingerichtet haben. Die Karten waren mehrere Wochen vor der eigentlichen Führung ausverkauft. Wer nur zufällig spontan kurz vorher davon hörte, hatte keine Möglichkeit mehr zu kommen.

Im Gegensatz dazu: Was sind deine Strategien, um möglichst viele Leute einzuschließen oder kulturelle Teilhabe zu ermöglichen?

Ich glaube, ein Hinderungsgrund ist das Nichterfahren oder Nichthören von Dingen. Ich habe die Ankündigungen der Führungen über mehrere Kanäle gestreut. Facebook und Instagram haben sich als sehr effizient herausgestellt. Das waren nicht nur meine privaten Facebook- und Instagramkanäle, wo ich als die Tiefe Kümmernis auftrete. Was tatsächlich unglaublich gut funktioniert hat, waren Veranstaltungen der Facebookseite des Museums selbst. Gleichzeitig haben wir es in unser zweimonatlich erscheinendes Vermittlungsprogramm gegeben, das gedruckt und auch als PDF zur Verfügung steht. Alles andere, was PR angeht, haben interessierte Leute mitverantwortet. Das waren kleine Presseberichte, Blogeinträge von Privatpersonen oder kleine Interviews.

Ich glaube, die größte Barriere wäre tatsächlich das Geld. Ich habe da aber nie mit jemandem über freien Eintritt geredet. Es käme sofort die Frage nach der Gegenleistung. Museen sind so durchökonomisierte Betriebe, die finanzielle Geschäftsführung bestimmt alle Prozesse und Abläufe und Programmierung. Eigentlich soll die finanzielle Geschäftsführung nur die Funktionsfähigkeit garantieren. Tatsächlich hat sie aber in allen Museen, die ich kenne, viel mehr Macht, weil sie durch ihre Geldflüsse, durch das Absägen und Neuschaffen von Posten den Inhalt des Museums mitbestimmt. Wenn ich so etwas wie kostenlosen Eintritt oder beim Honorar für meine Drag-Führungen nachverhandeln möchte, muss ich ökonomisch argumentieren. Da geht es leider nur um reine Erlös- und Besucher_innenzahlen. Mit so etwas wie ideellen Werten arbeiten die nicht. Man könnte sagen, dass das Erschließen von neuen Gästegruppen eigentlich etwas wäre, was sich auch kurzfristig ökonomisch rentiert. Davon abgesehen liegt das auch im Bildungsauftrag dieser öffentlichen und steuerlich geförderten Institution. Dieses Argument zieht aber nicht in der heutigen Museumswelt in Wien.

Foto: Marlene Liebhart

Foto: Marlene Liebhart

Man könnte auch sagen, dass ich mit meinen Drag-Führungen einen hohen Öffentlichkeitswert generiert habe. Normalerweise braucht es Ausstellungen, die Hunderttausende von Euro kosten, damit man etwa im Fernsehen oder in der Zeitung einen größeren Beitrag bekommt. Ich habe das nur mit dem normalen Vermittlerhonorar gemacht. Das sind eigentlich riesige Gegenwerte, aber das lässt sich eben leicht unter den Teppich kehren. Diese systematische Geringschätzung hat dafür gesorgt, dass ich mit den Drag-Führungen aufgehört habe. Man rennt ständig gegen ein kaltes, rein ökonomisch denkendes System an. Von diesem bekommt man nicht genug zurück: nicht genug Unterstützung, nicht genug Hilfe, nicht genug Wertschätzung. Da musste ich für mich die Konsequenz ziehen.

Das heißt, du erlebst auf der einen Seite eine Form von kapitalistischer Vereinnahmung, indem du versucht etwas Neues einzubringen, was eben nicht Mainstream ist. Gleichzeitig erlebst du dadurch, wenn auch nicht Ausschluss, so doch institutionelle Reibungen?

Ja.

Was erfährst du in deiner institutionellen Verortung? Das klingt eher danach, dass du viel rein gibst und nicht sehr viel rausbekommst.

Ja, genau. Ich frage mich, ob das ein Charakteristikum queerer, partizipatorischer Arbeit im Kulturbereich im Allgemeinen ist oder ob es nicht viel eher ein Charakteristikum von Arbeitnehmer_innen im Kulturbereich ist. Ist es egal, ob das queere oder nicht-queere Inhalte sind, ob das antirassistische oder politisch aufklärende Arbeit ist? Müssen wir alle damit kämpfen, wenn wir im Kulturbereich arbeiten? Ich habe erkannt, dass auf Tagungen und Konferenzen der Inklusionswert, das Thema Partizipation und der Abbau von Barrieren immer hochgehalten werden und alles dahingehend bewertet und gelesen wird. Im tatsächlichen Museumsbetrieb vor Ort spielt das aber leider eine viel kleinere Rolle.

Da gibt es ja schon eine lange Diskussion über Kunst und Kultur für alle. Das ist eben da auch ein großer Kritikpunkt. Erstens von wem, zweitens für wen, wer ist überhaupt alle? Was haben die davon, die sich da reinkämpfen und dann eigentlich in unterschiedlichen Bereichen nicht viel zurückbekommen? Manche queere Community-Kulturorte wollen vielleicht auch gar nicht dorthin, weil sie entweder vereinnahmt oder die Inhalte verändert werden würden. Du hast ja als Kulturvermittler da noch relativ guten Spielraum, nehme ich an, da du deins ja durchführen konntest.

Wenn es aber dann darum geht, Dauermomente zu schaffen oder ein Werk in die Dauerausstellung reinzubringen, dann würden wahrscheinlich auch wieder bestimmte Kriterien wirken, die in einem gesellschaftlichen Diskriminierungssystem wirksam sind.

Klar, das muss dann brav und nett und akzeptabel sein.

Kannst du etwas zum Unterschied zwischen Wien und Salzburg sagen, in Bezug auf Queering the Museum oder Queering the Kulturarbeit oder the Vermittlungsarbeit?

Die ehemalige Leiterin der Vermittlungsabteilung vom Museum der Moderne hat mich 2018 auf eine Tagung eingeladen. Ich habe die Tagung dort als sehr engagiert wahrgenommen und mit Personen aus der Salzburger Kulturvermittlung gesprochen. Eine Frau vom Domquartier hat mich gefragt, ob ich meine Kümmernis-Führungen nach Salzburg zu ihnen ins Domquartier bringen könnte. Ich finde das grundsätzlich sehr interessant. Die Frage ist aber, wo man sich finanziell treffen kann, damit sich das lohnt. Ich bin ja als dauerhafter Kunstvermittler mit den Sammlungen des Museums, in dem ich arbeite, vertraut und kann diese Einarbeitungszeit schneller wieder auffangen. Da fällt auch keine Anreisezeit an. Sobald ich das in einer Stadt auswärts machen würde, ginge es auch um Dinge wie Übernachtung. Ich müsste die Sammlung kennenlernen, abklopfen und dann zu den ausgewählten Kunstwerken recherchieren, wenn sie kein gutes Archiv haben, wo die Artikel rausgezogen werden können. Das wird für die anbietende Institution teuer.

Was denkst du über digitale Möglichkeiten in Bezug auf kulturelle Teilhabe? Nützt du das?

Videos sind eine gute Möglichkeit. Eine Verbindung von Kunstwerken, Referenzabbildungen und einer Person, die das Ganze präsentiert, funktioniert in einem professionell geschnittenen Video großartig, fast besser als vor Ort im Museum. Es ist schon so, dass man am originalen Objekt mehr Dinge als an einem Druck beispielsweise erkennen kann. Da geht es aber hauptsächlich um Themen wie Wertschätzung des Originals, während es bei meinen queeren Museumsführungen eher um die dahinterstehende Geschichte geht. Ich lege bei meinen Drag-Führungen im Museum selten die Aufmerksamkeit auf die Gemachtheit des Originals oder auf die Restaurierungsgeschichte. Gerade in dem Bereich sehe ich eine große Chance, was Videos angeht. Ich finde auch großartig, dass die Videos im Internet kostenlos und jederzeit abrufbar sind. Mich haben schon Leute außerhalb Wiens angeschrieben, weil sie meine Museumsführungen so interessant finden, sie es aber leider nicht schaffen, zu diesem Zeitpunkt nach Wien zu kommen. Facebook, Instagram und ähnliche Social Media sind aber hauptsächlich PR-Tools. Man kann sich Dinge ins Bewusstsein rufen, aber als Partizipation würde ich das Lesen und Liken eines Instagramposts noch nicht bezeichnen.

Würdest du das Anschauen eines Videos als Partizipation sehen?

Ja, insofern, als eine Auseinandersetzung oder Aneignung von Inhalten stattfindet, die das Bildungsziel der Institution erfüllen. Gleichzeitig bringt es auch der Person etwas, die es sich aneignet. Es ist jedoch eine Monologsituation nach dem klassischen Sender-Empfänger-Modell, insofern ist es nicht partizipativ. Andererseits kann bei Museumsführungen, wenn die Leute körperlich da sind, auch ein Dialog zwischen ihnen und mir oder unter den Menschen entstehen. Das ist super, aber das wird gerade bei meinem Format nicht forciert. Da wäre ein Workshop oder ein offenes Gespräch viel geeigneter. Ich muss ja mehrere pro Tag machen, damit es sich lohnt. Da habe ich nach hinten hin nicht offen Zeit für persönliche Gespräche. Das ist dann gar nicht so anders als ein Video. In dem Moment, wo ich den partizipatorischen Aspekt des Videos in Frage stelle, muss ich konsequenterweise auch mein ganzes monologisches Führungsmodell und seine partizipatorischen Qualitäten in Frage stellen. Ich habe jetzt bei einer Ausstellung ein Kunstgespräch-Modell versucht, wo ich moderiere und offene Fragen stelle. Mit den Fragen soll schon klar sein, dass ich auf gewisse Themenkomplexe hinauswill. Anhand der Sachen, die zurückkommen, vertiefen wir das Gespräch. Es gibt ein paar Abzweigungen, die ich immer nehme. Ein Beispiel ist die Darstellung des heiligen Sebastian. Was ist an diesem Körper jetzt besonders männlich? Was besonders weiblich? Durch die Beiträge entstehen immer andere Gesprächsverläufe und unterschiedliche Meinungsbilder. Es ist ein relativ ungezwungenes Setting, man gibt etwas von seinen Gedanken, seinen Vorurteilen und seiner Meinung preis. Das finde ich ein schönes soziales Modell.

In vielen Museen werden Onlinekurse und Apps verwendet, die multimediale Führungen durchs Museum möglich machen. Die würde ich auch nicht als partizipatorisch bezeichnen. Das ist fast wie ein Audioguide oder eine monologische Führung. Auf Anhieb fällt mir in der Museumswelt wenig ein, was digital und partizipativ ist. Alle Museumsvermittlungsmethoden, die ich kenne und die partizipativ sind, sind analog, persönlich und personalintensiv. Das wurde zu Beginn der 80er Jahre hochgehalten. Es ist ein Heidenaufwand, es kostet Zeit und Geld, aber es lohnt sich auch.

Gibt es Praxisbeispiele kultureller Teilhabe, die du besonders gut findest? Und welche, die du als gescheitert empfindest?

Leider fallen mir da momentan keine mit LGBTIQ-Bezug ein, die ich aus nächster Nähe miterlebt oder mitgestaltet habe. Ich durfte aber schon bei ein paar großartigen und bereichernden Projekten dabei sein. Ich habe zum Beispiel 2015 im Essl Museum ein Praktikum gemacht, als gerade in Klosterneuburg ein paar hundert Meter weiter die Überlaufeinrichtung von Traiskirchen eingerichtet wurde. Dort waren in einer ehemaligen Kaserne viele Leute untergebracht, die auf den Beginn des Asylverfahrens warteten. Die Vermittlungsabteilung des Essl Museums hat mit Caritas Kompa eine Kooperation gestartet: Es gab einmal in der Woche jeden Freitagnachmittag ein offenes Atelier für die Menschen aus dem Wohnheim und die Klosterneuburger Bevölkerung. Die Klosterneuburger_innen waren bereits in der Gruppe „Klosterneuburg hilft“ selbstorganisiert. Die haben schon alles Mögliche gemacht: Deutschkurse, Schwimmen, Fußballturniere. Das Museum hat sich da eingereiht. Es fand jeden Freitag bei freiem Eintritt statt. Das Atelier stand offen, wir haben Kaffee gemacht, die Klosterneuburger_innen haben Gebäck, Früchte und Ähnliches mitgebracht. Da gab es jedes Mal ganz unterschiedliche Bedürfnisse, weil jedes Mal unterschiedliche Leute kamen. Mal ging es stärker um den gemeinsamen Austausch, das gegenseitige Kennenlernen, mal ging es stärker darum, Deutsch zu lernen und ein Vokabeltraining zu machen. Mal ging es stärker um das gemeinsame künstlerisch-praktische Arbeiten, mal stärker um den Ausstellungsbesuch. Bei Bedarf hat man sich auch getrennt, wir waren ja mehrere Kunstvermittler_innen. Das war eine fantastische Sache, obwohl wir am Anfang heillos überfordert waren. Niemand von uns hatte einen Hintergrund in der Arbeit mit Geflüchteten. Niemand hatte einen sprachlichen Hintergrund. Wir mussten uns alle erst mal auf die Situation einlassen, Vorurteile abstreifen und nicht klassisch das Kunstworkshop-im-Museum-Programm abfahren. Das Essl Museum wollte das, sie haben den kostenlosen Eintritt und das Personal zur Verfügung gestellt. Ich würde sagen, das war Partizipation auf dem intensivsten Niveau. Das wird übrigens jetzt vom mumok unter dem neuen Titel Weltbilder fortgeführt.

Foto: Christoph Leithe-Jasper

Foto: Christoph Leithe-Jasper

In den Museen gibt es immer wieder Diskussionen darüber, ob man eigentlich ein sozialer Ort der Begegnung sein möchte. Es gibt Leute, die auf Tagungen weltweit vom Museum als kulturellem Forum sprechen und sagen, dass das die Zukunft ist. Oder ist das eigentlich schon die Gegenwart? Das muss man noch viel stärker ermöglichen. Dagegen gibt es Tendenzen, sich vor nichtzahlungskräftigen Gästen abzuschotten. Das ist natürlich wieder das leidige Thema Geld. Ich denke zum Beispiel an die Diskussionen in etablierten Museen, ob man erweitern und anbauen will und wenn ja, wo man eigentlich hinbauen will. Wo kommt dann die Kasse hin? Wo kommt man rein? Das Vermittlungsteam hat ein relativ hohes Bewusstsein für solche Themen, aber selbst dort gab es keinen Konsens darüber, dass es einen kostenlos öffentlich zugänglichen Ort im Museum geben muss, wo die Leute erst mal ankommen können, noch jausnen, bereits das Museums-WLAN nutzen können, wo man sich treffen kann und wo danach erst irgendwann die Bezahlschranke kommt. In vielen Museen ist es ja aktuell auch so, dass man, dass man bei der allerersten Außentür bereits die Kassen hat. Ein Foyer, wo jeder kostenlos reinkommt, gibt es gar nicht – im Gegensatz zu den englischen Nationalmuseen.

Das erinnert mich an die Wiener Stadtbibliothek. Da kannst du reingehen, du kannst lesen, trinken und sonstiges. Zeitungen gibt es immer für alle. Das war auch vor dem Neubau schon so. Da wurde auch niemand vertrieben, soweit ich das beurteilen kann.

Ich finde es wichtig, solche konsumfreien, öffentlichen Orte zu schaffen, wo es einerseits Bereiche gibt, wo jeder jederzeit rein kann und andererseits Bereiche, wo man sich vielleicht auch mit einem geführten, moderierten Programm wie Workshops zurückziehen kann. Das finde ich großartig. Da stehen österreichische Museen leider zu sehr unter dem Finanzdruck, seit sie in die Teilrechts- oder Vollrechtsfähigkeit entlassen wurden. Die Subventionen steigen ja nicht, auch nicht inflationsbedingt, sondern sie bleiben immer gleich. Ich sehe da leider keine Chance in den nächsten Jahren.

Wo wir wieder bei der kapitalistischen Logik wären. Welche Empfehlungen hast du an die Kulturpolitik?

Die Kulturpolitik könnte natürlich so etwas schaffen wie Fördertöpfe für sozial engagierte Projekte, wo sich Institutionen bewerben können. Da ist das Thema aber wieder, Geld in die Hand zu nehmen. Warum soll der Staat dann noch mehr Geld ausgeben für die Museen oder Kulturinstitutionen, die es eigentlich selbst leisten könnten, wenn sie Wert darauf legen würden. Ich glaube, wichtig wäre es, von dieser Fixierung auf Gästezahlen und Erlöse wegzukommen und Bewertungskriterien einzuführen, die mit Qualität und sozialer Reichweite zu tun haben, denn nur dann kann man es den Museen ermöglichen, es auch selbst etwas langsamer anzugehen und nicht Jahr um Jahr die nächste Steigerung einfahren zu wollen.

Also die Medien in die Pflicht nehmen, weil sie das ja auch produzieren?

Ja. Woher haben aber die Medien diese genauen Zahlen? Wahrscheinlich vom Ministerium. Wenn das Ministerium schon anders denkt und anders abfragt, übernehmen die Medien das sofort. Die muss man da gar nicht erst verpflichten oder briefen. Man muss Erfolg anders messen und Qualität genauer anschauen, damit Quantität nicht der einzige Maßstab ist. Intensität oder Qualität sollen zumindest verhandelt werden. Im Moment gibt es nur Quantität und daran krankt das Kultursystem.

Soziales ist ja auch kein Kriterium. Diversity ist immer mal wieder ein bisschen Thema, aber nicht in Richtung Social Justice, sondern in Richtung Audience Development.

Genau. Da schaut ja auch niemand darauf, selbst bei den Museen. Ich glaube, die haben schon eine Ahnung davon, schauen aber lieber in die andere Richtung, weil sie sich vor der Antwort fürchten. Solange genug zahlende Leute da sind, schaut niemand darauf, wie wohlhabend die Besucher_innenschaft des Museums ist und warum nur diese Leute kommen. Das ist aber ein elitärer Kreis, der immer wieder kommt und dann nochmal extra viel Geld dalässt, weil sie eben noch zum Beispiel den Katalog oder ein bisschen Merchandise kaufen. Da mietet dann die Firma XY zu Weihnachten das Museum und das spült nochmal mehr Geld in die Kassen. Das Museum wird immer elitärer statt demokratischer und zugänglicher, wie sie behaupten. Da lügt sich jeder in die Tasche, die Politik wie auch die Museen selbst.

Also wäre es deine Forderung an die Kulturpolitik, bestimmte Bereiche zu fördern, um das auszugleichen?

Es gibt ja Besucher_innenbefragungen und Statistiken über die Besucher_innenstruktur. Das deckt sich überhaupt nicht mit der breiten Gesellschaft. Das hat nicht nur damit zu tun, dass sich die einfachen Menschen nicht für das Museum interessieren, sondern dass sie einfach kein Geld haben und nicht hingehen können. Daraus zieht keiner die Konsequenz. Das würde ja bedeuten, dass man das rein ökonomische Kulturmodell in Frage stellt und das kommt scheinbar nicht in Frage.

Danke für das sehr interessante Interviewgespräch!

Persson Perry Baumgartinger, Tiefe Kümmernis ( 2019): „Queering the Museum beinhaltet eine Kritik am Neoliberalismus der Kulturindustrie.“. Die Tiefe Kümmernis im Gespräch mit Persson Perry Baumgartinger über LGBTIQ+ und kulturelle Teilhabe in Museen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/queering-the-museum-beinhaltet-eine-kritik-am-kapitalistischen-neoliberalismus-der-kulturindustrie/