„Behinderung ist kein fixes Konstrukt, sondern wird in unserer Gesellschaftsstruktur gemacht“

Welche konkreten Maßnahmen brauchen wir, um den Kulturbetrieb diverser und gerechter zu machen? Welche Akteur:innen brauchen wir und wo genau muss man etwas verändern?

Ich glaube, es braucht wirklich eine gesellschaftliche Veränderung, die zur Folge hat, dass wir alle aufeinander Rücksicht nehmen. Die Politik ist natürlich wichtig, aber es geht einfach um ein Bewusstsein, um die Einstellung im Allgemeinen, um etwas in den Köpfen der Menschen zu ändern. Aber auch die Kulturszene. Die Gesellschaft im Allgemeinen ist dafür verantwortlich …

Welche Rolle spielt Behinderung* auch in Hinblick auf Diversität im Kulturbetrieb?

Behinderung* ist oft sehr benachteiligend, gerade im Kunst- und Kulturbereich. Performer:innen mit Behinderung* haben es beispielsweise oft schwer, von Choreograph:innen überhaupt angenommen zu werden, auch mit einer sehr leichten Behinderung*. Für meine Forschungsarbeit habe ich vier professionelle Tänzer:innen mit Behinderung* in Wien interviewt. Ich zitiere hier eine der Tänzer:innen. Sie sagte: „Kunst- und Kulturschaffende mit Behinderung* haben nicht den gleichen Stellenwert, insbesondere was die Leistungsmessung betrifft. Die Bewertung eines perfekten Körpers und die Bilder eines perfekten Körpers sind noch immer die gängigen Wertmessungen, und das nicht nur im Tanz.“ Das Potenzial und die Fähigkeiten von Tänzer:innen mit Behinderungen* werden nicht wahrgenommen. Tänzer:innen mit schweren Behinderungen* werden nur selten oder oft gar nicht beschäftigt. Das allein ist schon eine Benachteiligung, wenn nicht das Können die Wertmessung ist, sondern die Behinderung* und wie stark sie ist. Natürlich ist es schwieriger, wenn jemand eine schwere Behinderung* hat, natürlich stellt es vor Herausforderungen, aber trotzdem sollte die Vielfalt und darin auch ihr Potenzial gesehen werden.

 Sie kritisieren den Begriff des „Funktionierens“, warum ist er Ihrer Meinung nach gefährlich?

In unserer Gesellschaft gibt es einen Zwang zum Fähig-Sein, dem alle Menschen entsprechen müssen, ob behindert* oder nicht. Aber niemand kann dies wirklich erfüllen, weil alle Menschen im Laufe ihres Lebens und immer wieder behindert sein oder werden können oder von Einschränkungen betroffen sind. Wenn sich eine Person den Fuß bricht oder Menschen schlicht und einfach alt werden, hat jeder Mensch bald mal auch eine Behinderung, aber das wird so nicht gesehen. Ein Mangel wird nur Menschen mit Behinderung zugeschrieben. Und gerade im Tanz ist der fähige Körper das Arbeitswerkzeug. Da geht es immer um Fähigkeit und diese Fähigkeit wird Behinderung gegenübergestellt und als was Besseres bewertet. Folglich haben nicht-behinderte Menschen mehr Macht in unserer Gesellschaft und ihre Erfahrungen gelten als allgemeingültig und als Wertmaßstab. Sie haben auch mehr Privilegien, die damit verbunden sind. Denn die Welt ist an ihre Bedürfnisse (besser) angepasst.

Können Sie vielleicht gute Beispiele in Hinblick auf Diversität und Gerechtigkeit im Kulturbetrieb nennen? Zum Beispiel DanceAbility?

DanceAbility ist eine Community-Tanzbewegung. Sie ist eine Form der Kontaktimprovisation für alle Menschen. Sie ist so konzipiert, dass alle Menschen, egal welche Behinderung*, welche Fähigkeiten, welches Alter, welche Geschlechtsidentität, welche Herkunft usw. teilhaben können. Es geht um ein künstlerisches Erforschen zwischen allen Menschen, um einen Bewegungsdialog.

Elisabeth Magdlener, Ielizaveta Oliinyk ( 2022): „Behinderung ist kein fixes Konstrukt, sondern wird in unserer Gesellschaftsstruktur gemacht“. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/behinderung-ist-kein-fixes-konstrukt/