„Diversität analysieren und gleichzeitig transformative Prozesse in Gang bringen“

In dieser Zeit habe ich auch ein Kunstprojekt zu dem Thema durchgeführt: Brasilien am Main. Es war gekoppelt an ein Reisestipendium der hessischen Kulturstiftung für Künstler und Künstlerinnen, um eine einjährige Auslandsreise zu machen. Ich wollte schon seit Langem nach Brasilien, wo ich früher eine Zeitlang gelebt hatte. Ich wusste aber, dass ich eigentlich gar nicht nach Brasilien kann, weil ich an der Universität arbeite und Familie habe. Daher hatte ich die Idee, einen Antrag zu stellen, um ein ganzes Jahr in Brasilien zu verbringen, ohne Frankfurt zu verlassen, da in Frankfurt sehr viele Brasilianer:innen leben. Mit dem Antrag hat es wider Erwarten tatsächlich geklappt. Ich bekam das Stipendium und verbrachte ein Jahr mit dem Brasilien in Frankfurt.

Damals gab es in Brasilien sehr viele politische Bewegungen, Abspaltungen in der Gesellschaft und Demonstrationen. Auch in Frankfurt fanden von Brasilianer:innen organisierte Demonstrationen statt. Die Spaltung zwischen linken und rechten Gruppen war so groß, dass diese Demonstrationen bald aufhörten. In dieser Zeit war deutlich zu sehen, dass Brasilien ein Konstrukt ist, getragen von verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen politischen Gesinnungen. Ich wollte in meinem Projekt diese Diversität abbilden, aber auch einen Möglichkeitsraum öffnen. Am Ende unternahm ich doch noch eine vierwöchige Reise nach Brasilien, mit der Intention, Verknüpfungen innerhalb dieser Diversität herzustellen. Diese Methode nannte ich einen relationalen und transkulturellen Ansatz, weil durch Relationen transkulturelle Prozesse sichtbar werden. Aber es war auch ein spekulativer Ansatz, weil Fiktion eine Rolle spielt, indem zukünftige Möglichkeiten für Partizipation eröffnet werden, jedoch ohne konkrete Realisierung. Dieser relationale und spekulative Ansatz hat den Anspruch, mit Konflikten und Unterschieden, die es in einer Gesellschaft gibt, produktiv zu arbeiten und nicht zu versuchen, diese aufzuheben oder zu ignorieren.

Mein Ansatz zu Migration und Diversität ist, dass die Diversität dynamisch verstanden werden soll. ‚Migrant:innen‘ klingt erstmal recht eindeutig, aber wenn die Migrationsgruppen konkret analysiert werden, wird die Diversität sichtbar. Diese Diversität zu zeigen, war mir wichtig in meinem Brasilienprojekt. Gleichzeitig ist das Transformative wichtig. Soll Diversität ‚nur‘ analysiert werden – diese Diversität, die immer komplexer wird, je genauer man hinschaut? Hierfür benutzen die Sozialwissenschaftler:innen heute den Begriff der Intersektionalität, um zu betonen, dass es nicht nur nationale Unterschiede oder lokale bzw. regionale Unterschiede gibt, sondern auch eine Mischung aus Klassen-, Gender-, oder Generationsunterschiede. Je nachdem, aus welcher Perspektive geschaut wird, sind die Unterschiede anders hervorzuheben. Dieser Begriff der Intersektionalität ist jetzt Mode, aber das Phänomen ist in der Soziologie schon seit Langem bekannt. Zum Beispiel hat Pierre Bourdieu, um Klassenunterschiede differenzierter zu analysieren, verschiedene Arten von Kapital unterschieden: kulturelles, symbolisches, soziales, ökonomisches Kapital. Oder Karl Mannheim sprach im Zusammenhang mit der Aufgabe der soziologischen Zurechnung von mehreren Zuschreibungsmerkmalen, die nicht nur dynamisch zu verstehen sind, sondern auch sich durchkreuzen oder verklammert sind. Heute wird von Intersektionalität und von Mehrfachzugehörigkeit gesprochen.

 

Brasilien am Main, Für Martha, 2016 © Amalia Barboza

Brasilien am Main, Für Martha, 2016 © Amalia Barboza

Brasilien am Main, Auftragsliste, 2016 © Amalia Barboza

Brasilien am Main, Auftragsliste, 2016 © Amalia Barboza

Für mich ist nicht nur wichtig, die Diversität in dieser Intersektionalität und Dynamik zu analysieren, sondern gleichzeitig auch transformative Prozesse in Gang zu bringen, damit die Menschen sehen, dass trotz aller Unterschiede alles im Wandeln zu betrachten ist, es Gemeinsamkeiten oder Kooperationsmöglichkeiten gibt und dass sich vieles vielleicht noch verhandeln lässt. Mich interessiert auch die Idee von der Radikalen Demokratie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Sie sprechen von einer Artikulation, wo Intersektionalität mitgedacht wird, aber nicht statisch zuschreibend, sondern dynamisch, transformativ.

Amalia Barboza, Anita Moser ( 2022): „Diversität analysieren und gleichzeitig transformative Prozesse in Gang bringen“. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diversitaet-nicht-nur-analysieren/