Diversitätsorientierung in und durch Kulturpolitik

Forderungen aus der Praxis und Handlungsoptionen

Förderung von differenzierten Formaten, Beteiligungsmöglichkeiten und Sichtbarkeit

Eine weitere Forderung, die sich aus dem bisher Aufgezeigten ableiten lässt und von vielen Interviewten benannt wird, ist die nach einer Differenzierung der Formate und der Beteiligungsmöglichkeiten. Für unterschiedliche Communitys braucht es in Österreichs Kulturlandschaft vielfältige, inhaltlich-ästhetisch breit ausgerichtete Angebote. Sie sollten „jeder Person ermöglichen, in der Form teilzuhaben, wie sie oder er es gerne täte. Sei es als Mitglied in einem Volksliedchor, in einer türkischen Kulturvereinigung oder eben in der Radiofabrik, wo man, in welcher Art auch immer, Radio machen kann“, sagt Eva Schmidhuber (2021 [2020]: 3).star (*20) Vor allem auch etablierte Kultureinrichtungen sind gefordert, ihre Angebote neu auszurichten und von Diskriminierungen betroffene Personen zu adressieren. Damit dies gelingen kann, ist es wesentlich, diese bei der Programmierung einzubinden (vgl. Al-Masri-Gutternig 2021 [2020]: 7).star (*2)

Außerdem gilt es, kulturpolitisch jene Kunstformen aufzuwerten, die von unterrepräsentierten Personen als offener und deutlich zugänglicher wahrgenommen werden. Genannt werden in dem Zusammenhang DIY-Praktiken oder popkulturelle Formate wie Hip-Hop, der „schon eine sehr große Community erreicht“ hat, wie Enes Özmen hervorhebt (Özmen/Özmen 2021 [2019]: 10).star (*16) Zudem sollten marginalisierte Akteur:innen von kulturpolitischer Seite verstärkt als Kulturproduzent:innen wahrgenommen und gefördert werden, so eine weitere in den Interviews formulierte Erwartung, um das Entstehen selbstbestimmter Angebote und an eigenen Interessen orientierte Kulturorte zu unterstützen.

Das wäre zudem ein wichtiger Schritt, um der fehlenden öffentlichen Sichtbarkeit und Wahrnehmung marginalisierter Communitys und kultureller Positionen entgegenzuwirken, die von vielen Interviewpartner:innen als diskriminierend benannt wird. Conny Felice von der HOSI Salzburg stellt insbesondere in Bezug auf Projekte in ländlichen Räumen von Salzburg fest, dass sie ihrer Arbeit in einem Kontext nachgeht, in dem eine „queere Sichtbarkeit“ völlig fehlt (vgl. Felice 2021 [2019]: 3).star (*9) Sichtbarkeit ist grundlegend, um die eigene Community zu stärken (vgl. Özmen/Özmen 2021 [2019]: 7)star (*16) und kulturelle Interessen sowie Forderungen im dominierenden Diskurs durchzusetzen. Die fehlende öffentliche Repräsentation bestimmter Formate, Inhalte und Akteur:innen wird als Ignoranz vonseiten der Kulturinstitutionen und der Kulturpolitik erlebt. Im Hinblick auf mehr Sichtbarkeit für unterrepräsentierte Akteur:innen und ihre Einbeziehung gilt es auch, im Rahmen einzelner Projekte aktiv zu werden: „Migrantische Künstler*innen existieren. Da muss man rausgehen und dezentrale Kulturarbeit leisten“, so Esra Özmen (ebd.: 6).star (*16)

 

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Aikins, Joshua Kwesi/Gyamerah, Daniel (2016): Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors. Eine Expertise von Citizens For Europe, Berlin. Online: https://vielfaltentscheidet.de/wp-content/uploads/2017/04/Final-für-Webseite_klein.pdf (11.07.2022).

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Al-Masri-Gutternig, Nadja/Rosenhammer-Daoudi, Monika (2021 [2020]): Das inklusive Museum – eine Frage von Kooperation und Vernetzung Grundlagen. Interview, geführt von Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Interview_PPB_DA_Al-Masri-Gutternig_Daoudi-Rosenhammer_print_ka_sr_final.pdf (11.07.2022)

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Bakış, Onur (2021 [2019]): „Unsere Stärke liegt in der Mobilität – wir können in jede Ecke, in jede Siedlung, in jede Nische.“ Interview, geführt von Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2019/10/Interview_DA_Bakis_kw.pdf (11.07.2022)

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Baumgartinger, Persson Perry (2021): Kulturarbeit & Diversity. Ein- und Ausschlüsse im Salzburger Kulturbetrieb. Essay. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Essay_PPB_Kulturarbeit_mb_final.pdf (11.07.2022).

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Bourdieu, Pierre (1987 [1979]): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp (22. Auflage).

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Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (Hg.) (2021a): Fairness. Kunst und Kultur in Österreich. Zwischenbericht zum Fairness Prozess 2020/2021. Broschüre. Online: https://www.bmkoes.gv.at/dam/jcr:e1dd8f82-4f31-4da3-a9a3-8cb15a42b5f3/Fairness%20Brosch%C3%BCre.pdf (11.07.2022).

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Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (Hg.) (2021b): Kunst Kultur Bericht 2020. Online: https://www.bmkoes.gv.at/dam/jcr:1e6f1ff8-0285-472c-aadd-49a4a83c9fbb/KunstKulturBericht2020.pdf (11.07.2022).

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Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (Hg.) 2022: Fairness Codex. Kunst und Kultur in Österreich. Online: https://www.bmkoes.gv.at/dam/jcr:ee849de0-6295-4c48-8ba0-4e33d8442abd/220511_Fairness-Codex_Brosch%C3%BCre_A5_BF.pdf (28.07.2022).

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Felice, Conny (2021 [2019]): „Ich sehe da die Möglichkeit der Buntheit …“ –
Über LGBTIQ+, kulturelle Bildung und kulturelle Bildung. Interview, geführt von Persson Perry Baumgartinger. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Interview_PPB_Felice_print_mb_final.pdf (11.07.2022).

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Folie, Andrea (2021 [2019]): „Das Dorf wird noch globaler werden“ – Digitale
Teilhabe, Potenziale und Herausforderungen im Rahmen regionaler Kulturarbeit in Salzburg. Interview, geführt von Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2018/11/Interview_DA_Folie_print_am_sr_final.pdf (11.07.2022)

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Hummer, Andrea (2021 [2020]): Nicht wie ein UFO in einer Region landen. Interview, geführt von Anita Moser. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2020/10/Interview_AM_Hummer_sr_rg_am_ka_Bio-passt_sr.pdf (11.07.2022).

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INOU, simon (2021 [2018]): „Man muss jenseits der Politik agieren“. Interview, geführt von Anita Moser. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2018/11/Interview_AM_INOU.pdf (11.07.2022).

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Karam, Abdullah (2021 [2020]): „More communication, please!“ – Über künstlerische Arbeit, das Potenzial von Computerspielen und Salzburg als Ort kultureller Teilhabe und Produktion. Interview, geführt von Anita Moser. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2018/11/Interview_AM_Karam.pdf (11.07.2022).

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Kışlal, Aslı (2021 [2020]): diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Interview, geführt von Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2020/10/Interview_DA_Kislal.pdf (11.07.2022).

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Krillin, Young (2021 [2019]): „Lokale Kunst sollte gefördert werden wie regionale Nahrungsmittelherstellung eben auch.“ Interview, geführt von Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Interview_DA_Krillin_print_ka_sr_final.pdf (11.07.2022).

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Kulturrat Österreich (2021): Fair Pay Reader. Online: https://kulturrat.at/wp-content/uploads/2021/09/Fair_Pay_Reader_KulturratOesterreich_2021.pdf (11.07.2022).

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Land Salzburg (Hg.) (2018): Kulturentwicklungsplan KEP Land Salzburg. Visionen, Ziele, Maßnahmen. Online: https://www.salzburg.gv.at/kultur_/Documents/WebNeu_Kulturentwicklungsplan.pdf (11.07.2022).

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Lôbo Marissa/Seefranz, Catrin (2021 [2020]):„Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder von Institutionen möglich ist“. Interview, geführt von Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Interview_PPB_DA_Lobo_Seefranz_print_kw_final.pdf (11.07.2022).

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Micossé-Aikins, Sandrine/Sharifi, Bahareh (2019): Kulturinstitutionen ohne Grenzen? Annäherung an einen diskriminierungskritischen Kulturbereich. In: Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturinstitutionen-ohne-grenzen-annaeherung-einen-diskriminierungskritischen-kulturbereich (11.07.2022).

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Özmen, Esra/Özmen, Enes (2021 [2019]): „Wo ist ein*e Migrant*in der Boss und sagt: ‚Das ist zu weiß.‘? Interview, geführt von Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2019/10/Interview_DA_Esrap_print_kw_final.pdf (11.07.2022)

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Schmerold, Monika (2021 [2019]): „Eigentlich eine einfache Antwort: ‚Alle‘ ist ‚alle‘“. – Über Enthinderung im Kunst- und Kulturbereich als Menschenrechtsaufgabe Interview, geführt von Dilara Akarçeşme. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Interview_DA_Schmerold_print_mb_final.pdf (11.07.2022)

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Schmerold, Monika E. (2021): Kulturveranstaltungen barrierefrei und inklusiv. Leitfaden. Checkliste“, herausgegeben von Eva Veichtlbauer/Land Salzburg. Online: https://www.salzburg.gv.at/kultur_/Documents/Kulturveranstaltungen%20barrierefrei%20und%20inklusiv.pdf (11.07.2022).

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Schmidhuber, Eva (2021 [2020]): „Wir haben den Anspruch, in unserem Programm
die Gesellschaft in all ihrer Vielfalt abzubilden“. Interview, geführt von Elke Zobl. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2021/05/Interview_EZ_Schmidhuber_print_mb_final.pdf (11.07.2022)

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Tritscher, Reinhold (2021 [2020]): „Partizipation setzt nicht nur voraus, dass ein Projekt offen ist“. Interview, geführt von Timna Pachner. Online: https://www.p-art-icipate.net/wp-content/uploads/2020/10/Interview_TP_Tritscher_kw.pdf (11.07.2022)

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Wimmer, Michael (2020a): Das Phantom der Demokratie. Eine kleine Geschichte der österreichischen Kulturpolitik. In: Ders. (Hg.): Kann Kultur Politik? Kann Politik Kultur? Warum wir wieder mehr über Kulturpolitik sprechen sollten. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 122–134.

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Wimmer, Michael (2020b): Eine Kultur für alle! Über Kanons, Leitkulturen und über das, worum es in der Kultur wirklich geht. Blogbeitrag: https://michael-wimmer.at/blog/eine-kultur-fuer-alle-ueber-kanons-leitkulturen-und-ueber-das-worum-es-in-der-kultur-wirklich-geht/ (11.07.2022).

Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 330-343. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

Das Forschungsprojekt wurde am Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion der Interuniversitären Einrichtung Wissenschaft und Kunst durchgeführt. Details über das Projekt sind hier zu finden: https://www.p-art-icipate.net/projekt/projektinfo/ (11.07.2022).

Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 2, https://www.menschenrechtserklaerung.de/diskriminierungsverbot-3542/, und Artikel 27, https://www.menschenrechtserklaerung.de/kultur-3689/ (15.12.2021).

Zum Zeitpunkt der Zweitveröffentlichung des Beitrags liegt der Fairness Codex als Broschüre vor: https://www.bmkoes.gv.at/dam/jcr:ee849de0-6295-4c48-8ba0-4e33d8442abd/220511_Fairness-Codex_Brosch%C3%BCre_A5_BF.pdf (29.07.2022). Vielfalt wird darin – neben Respekt & Wertschätzung, Nachhaltigkeit, Transparenz – als einer von vier Grundwerten genannt. Handlungsbedarf wird u.a. in Bezug auf die „strukturelle[n] Diskriminierung von Menschen aufgrund wahrnehmbarer und nicht wahrnehmbarer Merkmale“ erkannt. „Daher möchten wir uns verstärkt um die Sichtbarkeit marginalisierter Perspektiven im Kultursektor kümmern. […] Wir wollen das Bewusstsein für Diversität in unseren jeweiligen Wirkungsbereichen stärken, eine offene Diskussion über Ausschlussmechanismen und Diskriminierung ermöglichen und in diesem Zusammenhang notwendige Impulse setzen.“ (vgl. Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport 2022: 6).star (*8)

Die Booklets stehen hier als Download zur Verfügung: https://www.p-art-icipate.net/projekt/interviews/ (15.12.2021). Sämtliche im Beitrag zitierten Interviewpassagen sind den veröffentlichen Booklets entnommen.

Der Ausdruck ‚Kulturnation‘ diente als „konservativer Kampfbegriff“ auch dazu, ein „anti-aufklärerisches, anti-modernes und stark katholisch gefärbtes Kulturmuster einer bildungsbürgerlichen Elite durchzusetzen“ (Wimmer 2020a: 123).

Laut Bundeskunst- und Kulturbericht erhielten im Geschäftsjahr 2019/20 das Burgtheater eine Basisabgeltung von 47.404.000 € und die Wiener Staatsoper von 66.088.000 € (vgl. Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport 2021b: 263). An den ArtSocialSpace Brunnenpassage gingen hingegen 55.000 € (vgl. ebd.: 440). https://www.bmkoes.gv.at/Service/Publikationen/Kunst-und-Kultur/kunst-und-kulturberichte.html (15.12.2021)

Die zehnjährige Übergangsfrist endete 2016. Seit 1.1.2016 müssen alle öffentlich zugänglichen und nutzbaren Orte sowie Güter und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, barrierefrei angeboten werden (vgl. Schmerold 2021).

Die Absichten des Fairness Codex (vgl. dazu auch Fußnote 4 in vorliegendem Beitrag) hätten durchaus bestimmter formuliert werden können, indem beispielsweise anstelle von „wir möchten“ oder „wir wollen“ ein dezidiertes „wir werden“ bekundet wird (vgl. Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport 2022: 6). Da der Codex explizit und ausschließlich auf dem Prinzip der Selbstbindung fußt (vgl. https://www.bmkoes.gv.at/Kunst-und-Kultur/Fairness/Codex.html#:~:text=Ziele&text=Zielgruppe%20des%20Fairness%2DCodex%20sind,Codex%20in%20ihrer%20Arbeit%20anwenden, 28.07.2022), bleibt abzuwarten, wie sehr sich insbesondere Institutionen von Kulturpolitik und ‑verwaltung sowie staatliche Kultureinrichtungen davon inspirieren und leiten lassen.

In Deutschland geschieht dies beispielsweise durch das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Programm 360 – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft. 2018–2023 werden verschiedene Kultureinrichtungen mit insgesamt 13,9 Mio. Euro gefördert. https://www.360-fonds.de/ (15.12.20121).

Anregungen dazu bietet der Creative Case for Diversity des Arts Council England, https://www.artscouncil.org.uk/sites/default/files/download-file/Equality_Diversity_and_the_Creative_Case_A_Data_Report__201920.pdf (15.12.2021).

Anita Moser ( 2022): Diversitätsorientierung in und durch Kulturpolitik. Forderungen aus der Praxis und Handlungsoptionen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diversitaetsorientierung-in-und-durch-kulturpolitik/