Ein Grund für das (vermeintliche) Comeback des Politischen in der Kunst der letzten Jahre ist sicher auch ein akademisches Defizit: „Es fehlt eine Geschichte von Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts: eine andere Kunstgeschichte mit dem Fokus auf partizipatorischen Unternehmungen mit kritisch-emanzipatorischer Intention“ (Rollig 2000: o.S [Herv. im Orig.]) (* 57 ) – an politischer Kunst hätte es demnach also nie gefehlt, sondern nur an bleibender Aufmerksamkeit des Kunstsystems für solche Arbeiten.
Jacques Rancière sieht das Phänomen der boomenden Politkunst zu Recht im Zusammenhang mit dem neoliberalen Rückzug der Politik: „Aber das Paradox unserer Gegenwart ist vielleicht, dass diese ihrer Politik unsichere Kunst gerade durch das Defizit der eigentlichen Politik zu mehr Engagement aufgefordert wird. Alles spielt sich nämlich so ab, als ob die Schrumpfung des öffentlichen Raums und die Auslöschung des politischen Erfindungsreichtums zur Zeit des Konsenses den Mini-Demonstrationen der Künstler, ihren Sammlungen von Gegenständen oder Spuren, ihren Anordnungen der Interaktion, Provokation […] die Funktion einer Ersatzpolitik verleihen würde.“ (Rancière 2007: 73) (* 53 ) Dazu passte wiederum Rolligs ketzerische Frage, ob „politische Praxis von KünstlerInnen immer dann als Kunst reklamiert wird, wenn die gesellschaftliche Wirksamkeit nicht (mehr) die wahre Priorität hat …?“, weshalb es bei derartigen Versuchen eigentlich oft genug nur darum ginge, im Kunstbereich „individuelle Karrieren zu ermöglichen“ (Rollig 2000: o.S.) (* 57 ). Bei genauerer Betrachtung scheint im durchkapitalisierten globalen Kunstsystem mit seiner Schlagseite hin zur „freien Welt“ des Westens allerdings die Tendenz vorzuherrschen, politische Aktivismen insbesondere dann bereitwillig zur Hoch-Kunst zu (v)erklären oder politischen KünstlerInnen Preise und Aufmerksamkeit zu gewähren, wenn diese Kunst möglichst fern der eigenen Haustür stattfindet, und – paradoxerweise? – ist dieser Ritterschlag durch die Kunstwelt gerade in solchen Fällen auch in politischer Hinsicht via Generierung globaler Öffentlichkeit oft noch am produktivsten, vom Literaten Liu Xiaobo über Ai Weiwei bis Pussy Riot gibt es Beispiele genug.
Kunst, wie wir sie heute kennen, ist eben im Positiven wie im Negativen eine Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, dass sie im Wesentlichen buchstäblich eine Erfindung der idealistischen Philosophie ist. So bleibt das zugehörige Dispositiv, als Zusammenhang der hier aufeinander bezogenen Diskurse, Praktiken und Institutionen, bis heute gezeichnet vom „ästhetischen Regime“ (Rancière 2008: 52) (* 51 ), wobei paradoxerweise all die Anti-Bestrebungen der historischen Avantgarde mit ihrem ganzen antiidealistischen Sturm und Drang dieses Regime eher gestärkt als geschwächt haben: Noch die radikalste Antikunst wurde sehr bald musealisiert und kanonisiert. Auch – und insbesondere! – die Kunst, wie wir sie kennen, leidet so unter der fundamentalen Illusion der bürgerlichen Kultur, wie sie ein jung im Spanischen Bürgerkrieg ermordeter britischer Politaktivist in den 1930er Jahren im Anschluss an Marx pointiert herausgearbeitet hat: „Die bürgerliche Kultur kann sich nicht von der wichtigsten bürgerlichen Illusion befreien […]. Diese Illusion ist der Glaube, dass der Mensch von Natur frei sei – ‚von Natur‘ in dem Sinne, dass alle gesellschaftlichen Ordnungen nur dazu dienen, seine freien Instinkte zu hemmen und zu verkrüppeln, und Beschränkungen mit sich bringen, die er ertragen und auf ein Mindestmaß verringern muss, so gut er kann. Woraus folgt, dass der Mensch am besten und edelsten dann ist, wenn er seinen Wünschen und Begierden folgen kann, wie er will […]. Wenn diese Annahme stimmte, wäre alles in Ordnung. Es wäre schön, wenn die Freiheit so einfach wäre […]. Aber das ist nicht der Fall. Freiheit ist nicht das Produkt der Instinkte, sondern der sozialen Beziehungen. […] Der Mensch kann nicht seine Beziehungen zur Gesellschaft lösen, und trotzdem ein Mensch bleiben. Aber er kann vor diesen Beziehungen die Augen schließen. Er kann sie als Beziehungen zu Waren tarnen, zum unpersönlichen Markt, zu Geld […]. Und dann sieht es so aus, als seien sie Beziehungen zu […] einer Sache geworden […]. Aber das ist eine Illusion. So […] hat er sich zum Sklaven von Mächten gemacht, deren Kontrolle ihm entglitten ist […]. Er ist dem Markt, der Kapitalbewegung, der Krise und der Konjunktur ausgeliefert.“ (Caudwell 1974: 7f.) (* 14 )
Fragt man nun nach dem Verhältnis von zeitgenössischem politischen Aktivismus und Kunst, etwas genauer: (Wann) soll politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden?, wird man den Täuschungen, welche diese Grande Illusion unweigerlich mit sich bringt, nur entgehen können, wenn man den Rückblick auf einige Fälle politischen Aktivismus vor dem bürgerlichen Zeitalter wagt, in eine Zeit, als sich das „ästhetische Regime“ und damit die Kunst, wie wir sie heute kennen, noch im Stadium ihrer Konstituierung befanden. Unser Blick fällt damit zunächst ins Revolutionsjahrzehnt des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
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Vgl.: „Die notwendige These, dass die Kunst ein Faktor der Veränderung der Welt ist und sein muss, kann leicht in ihr Gegenteil umschlagen, wenn der Abstand zwischen Kunst und radikaler Praxis eingeebnet wird, wenn der Kunst nicht ihr eigener Raum, ihre eigene Dimension der Veränderung gelassen wird.“ (ebd. 219).
Etwas präziser Hartle 2004 (o. S.): „Die besondere Leistung der ästhetischen Theorie Badious ist ihre dynamische Verhältnisbestimmung von Einzelwerk und allgemeinem Werkprozess. Für Badiou steht fest, dass auch der ästhetische Prozess generisch und also die Wahrheit der Kunst eine kommende Wahrheit ist. Deswegen aber kann die Wahrheit der Kunst nicht in bereits realisierten Einzelwerken aufgespeichert sein. […] Das Werk ist keine Wahrheit, es ist ein Augenblick im Wahrheitsprozess, der einen Unterschied zugleich eröffnet und darstellt. […] Dieser differentielle Augenblick tritt als das Movens der ästhetischen Wahrheit auf.“
Ausführlich: „Auch wenn die Künstler daran arbeiten, die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen, Politischen, Ethischen […] zu annullieren, vermögen […] [sie] wohl, auf die Autonomie von Kunst zu reflektieren, nicht aber sie aufzuheben. Denn diese wird durch die Institution Kunst garantiert. Jede […] auf Zerschlagung der Institution Kunst zielende Aktion findet gleichwohl im Rahmen der Institution Kunst statt und stößt damit an ihre Grenzen.“
Für Nancy, dessen Kunsttheorie ganz auf den Körper fokussiert, tritt die etwaige Intention des Künstlers grundsätzlich hinter den offenen Prozess des Schaffens zurück. Zwar bliebe eine „Letztursache“ des Werks bestehen, „ein ‚Modell’, wenn man so möchte, oder eine ‚Idee’ im Sinne einer regulativen Idee“, aber im Mittelpunkt steht allein „die Formation als die Wirksamkeit, die Wahrheit und der Sinn der Form, die sich formt, gedacht wird, als die Kraft und die Spannung ihres Sich-Formens“. Programmatisch fordert er, „das Moment der Spannung [tension] – und nicht das der Intention! – in der Kunst, ja sogar als Kunst zu privilegieren, sozusagen das Moment der formenden Kraft mehr als das des geformten Werks, und das Moment der begehrenden Lust mehr als das der gestillten Lust“. Was politische Kunst anbelangt, korrigiert er dementsprechend Ai Weiweis Satz, auch politischer Widerstand sei Kunst, entschieden: „Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann revolutionär sein.“ Zitiert nach Arend 2012b.
Vgl. zu Nancys Ansprüchen z.B. Nancy 2007: 19 und 100ff; 2010: 56ff. Freilich muss gegen dieses Argument eingewendet werden: Kunst als Kunst, nicht als Aktivismus, ging es nie darum, alle zu erreichen, sie weiß zudem darum, „dass das ästhetische Wir, auf das jedes ästhetische Urteil zielt, konstitutiv umstritten ist“. In kritischer Intention muss es sogar im Gegenteil darum zu tun sein, Kunst aus „dem Missverständnis einer bürgerlichen Selbstverständigungsfloskel“, Kunst sei für alle, zu befreien. Denn wohl nur diese Exklusivität „sorgt dafür, dass […] die Kunst noch immer ein eigenes Gebiet markieren kann […], der einzige gesellschaftlich garantierte Bereich, in dem ich noch bereit bin, mir die Stimme anzuhören, die normalerweise zu schwach ist“.
Wenig hilfreich ist dabei, dass in der zeitgenössischen Kunsttheorie im Gegensatz zu den Politikwissenschaften eine emphatisch-normative Aufladung des Begriffs des Politischen dominiert (ein abgehobener ontologischer Begriff, der mit der Wirklichkeit, wie politische AktivistInnen sie erleben, wenig zu tun hat, etwa bei Agamben 2000: 100 „… das menschliche Leben politisiert sich nur durch das Überlassensein an eine unbedingte Macht über den Tod“). Für Badiou beispielsweise ist Politik wie erwähnt ein „Wahrheitsverfahren“, für Rancière ist Politik nur die „Einrichtung eines Anteils der Anteilslosen“ (Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Aus dem Französischen von Richard Steurer. Frankfurt am Main, S.26f). Kurz: „Politik“ ist das Streben nach Gleichheit. Nancy wiederum nennt, was bei Rancière „Polizei“ heißt, wieder klassisch Politik, hebt davon aber „das Politische“ ab …
Jürgen Riethmüller ( 2013): (Wann) Soll politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/wann-soll-politischer-aktivismus-als-kunst-anerkannt-werden/