Umperspektivieren: Aktivismus und Kunst
Allerdings muss man im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage und damit die zeitgenössische Kunst wohl noch einen Schritt weiter gehen, als über die Grenzen und Möglichkeiten politischer Kunst nachzudenken. So scheint mir der vielleicht wichtigste Punkt überhaupt, sich vom Sog der auch meine Argumentation bis hierher bestimmenden akademischen Perspektive zu befreien: der Kunst und Kunsttheorie. Denn das ist es, was aus de historischen Beispielen zu lernen ist, von denen oben die Rede war: Von Anfang an waren Aktivismus und Kunst keineswegs in einer notwendigen Liaison oder „Intrige“ verstrickt! Überhaupt gilt es, die fortbestehende Grenze zwischen Kunst und Aktivismus herauszustellen: „Kunst […] kann Kritik [und die politische Aktion, d. Verf.] nicht ersetzen, sie kann nur, wie auch andere Bezüge der Kunst das Importierte vorübergehend attraktiv machen und ihm […] ästhetisch Gerechtigkeit widerfahren lassen“ (Diederichsen 2000: 84) (* 17 ). Anders gesagt: Als Kunst bleibt sie notwendig in der eingangs erwähnten bürgerlichen Illusion gefangen: Hier agiert notwendigerweise ein Einzelner (oder gar Vereinzelter?), der sich, gewissermaßen als Surplus-Leistung, erst seines gesellschaftlichen Zusammenhangs bewusst werden muss.
Die Zwänge des Kunstsystems aber sind ein Schuh, den sich politischer Aktivismus nicht anziehen muss. Wenn AktivistInnen etwa fragen: „Wie können bewusste Eingriffe in den kulturellen Kreislauf vorgenommen werden? Wie erreichen wir eine Teilhabe aller an den kulturellen Ressourcen der Gesellschaft? Wie können Prozesse der Beteiligung initiiert und unterstützt werden? Und an welchen spezifischen Knotenpunkten der kulturellen Bedeutungsproduktion bedarf es einer Intervention?“, kann, muss aber nicht zwingend an Kunst gedacht sein.
Andererseits gibt es heute Formen des politischen Aktivismus – und Pussy Riot ist nur ein zur Zeit besonders eindrückliches Beispiel –, die zeigen, dass der Kunststatus enorm wichtig sein kann. Einen Grund für AktivistInnen, die „künstlerische Option“ zu wählen, kann so das Grundrecht der Kunstfreiheit darstellen, insofern es in vielen Ländern im Verfassungsrang steht. Das ist sicher ein „Erbe früherer Herrschaftsformen: Seine Existenz ist durch eine Garantie der Macht gewährleistet. Deshalb ist die Kunst […] paradoxerweise dazu prädestiniert, alternative politische Forschung zu betreiben, gerade weil es die Willkür der Herrschaft ihr gestattet“ (Diederichsen 2000: 80) (* 17 ). Noch im Rahmen der scheinbar grenzenlosen Liberalität des Westens kann oft nur im Namen der Kunst Kritisches geäußert oder getan werden, das ansonsten ordnungswidrig oder gar ein Straftatbestand wäre.
All dies muss nicht in „Ersatzpolitik“ enden. Gemessen an der doch überschaubaren kommunikativen Reichweite von Meilensteinen zeitgenössischer Kunst sind die Erfolge des politischen Aktivismus, der diesen Weg gegangen ist, in den letzten Jahren durchaus beachtlich: Einen viel diskutierten Fall zeitgenössischen künstlerischen Politaktivismus bietet die amerikanische Aktivistengruppe RTMark, „die in ihrer Aktion ‚The Yes Men‘ angebliche Vertreter der World Trade Organisation (WTO) zu internationalen Konferenzen [schickte], wo sie Erstaunliches zur Lage der Weltwirtschaft berichteten und das Ende der WTO verkündeten“. (* 64 ) Angeblich von Herp Albert finanziert, treibt die Gruppe als The Yes Men bis heute nicht nur im Netz ihr Unwesen. (Doll 2008: 245-258.) (* 18 ) Noch weit größere Resonanz infolge gezielt kalkulierter medialer Empörungswellen rief die von Ubermorgen durchgeführte Aktion „[V]ote-auction“ hervor, die amerikanischen Wählern anlässlich der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl (Gore vs. Bush) 2000 die Möglichkeit anbot, ihre Stimme in einer Online-Aktion meistbietend zu versteigern. So wurde sinnfällig die Verschränkung von Kapital und (Stimm-)Macht demonstriert. (* 64 ) Gemessen an seiner Medienresonanz gehört Hans Bernhard vom Künstlerduo Ubermorgen so inzwischen zu den berühmtesten Künstlern der Gegenwart. Bis zu 450 Millionen Menschen sollen von besagter Aktion erfahren haben: ein erfolgreiches Beispiel von Aktionismus als Experiment auf dem Markt der Aufmerksamkeit mit den Methoden des Guerilla-Marketings. Oder ein ganz anderer Fall: Seit einigen Jahren beobachtet man in Italien das Phänomen einer Entstehung von illegalen Fernsehsendern (außerhalb des Fernsehrechts), wie unter anderem Orfeo TV, Telefabbrica, und unabhängigen Sender wie Candida TV oder minimal TV. Insgesamt entstanden so über 200 Sender, die ein alternatives Informationsangebot im Gegensatz zum Monopol der staatlichen und privaten Berlusconi-Sender offerierten, was zum Sturz der neobonapartistischen Rechtsregierung des Medienunternehmers gewiss seinen Teil beigetragen hat. (* 63 )
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Vgl.: „Die notwendige These, dass die Kunst ein Faktor der Veränderung der Welt ist und sein muss, kann leicht in ihr Gegenteil umschlagen, wenn der Abstand zwischen Kunst und radikaler Praxis eingeebnet wird, wenn der Kunst nicht ihr eigener Raum, ihre eigene Dimension der Veränderung gelassen wird.“ (ebd. 219).
Etwas präziser Hartle 2004 (o. S.): „Die besondere Leistung der ästhetischen Theorie Badious ist ihre dynamische Verhältnisbestimmung von Einzelwerk und allgemeinem Werkprozess. Für Badiou steht fest, dass auch der ästhetische Prozess generisch und also die Wahrheit der Kunst eine kommende Wahrheit ist. Deswegen aber kann die Wahrheit der Kunst nicht in bereits realisierten Einzelwerken aufgespeichert sein. […] Das Werk ist keine Wahrheit, es ist ein Augenblick im Wahrheitsprozess, der einen Unterschied zugleich eröffnet und darstellt. […] Dieser differentielle Augenblick tritt als das Movens der ästhetischen Wahrheit auf.“
Ausführlich: „Auch wenn die Künstler daran arbeiten, die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen, Politischen, Ethischen […] zu annullieren, vermögen […] [sie] wohl, auf die Autonomie von Kunst zu reflektieren, nicht aber sie aufzuheben. Denn diese wird durch die Institution Kunst garantiert. Jede […] auf Zerschlagung der Institution Kunst zielende Aktion findet gleichwohl im Rahmen der Institution Kunst statt und stößt damit an ihre Grenzen.“
Für Nancy, dessen Kunsttheorie ganz auf den Körper fokussiert, tritt die etwaige Intention des Künstlers grundsätzlich hinter den offenen Prozess des Schaffens zurück. Zwar bliebe eine „Letztursache“ des Werks bestehen, „ein ‚Modell’, wenn man so möchte, oder eine ‚Idee’ im Sinne einer regulativen Idee“, aber im Mittelpunkt steht allein „die Formation als die Wirksamkeit, die Wahrheit und der Sinn der Form, die sich formt, gedacht wird, als die Kraft und die Spannung ihres Sich-Formens“. Programmatisch fordert er, „das Moment der Spannung [tension] – und nicht das der Intention! – in der Kunst, ja sogar als Kunst zu privilegieren, sozusagen das Moment der formenden Kraft mehr als das des geformten Werks, und das Moment der begehrenden Lust mehr als das der gestillten Lust“. Was politische Kunst anbelangt, korrigiert er dementsprechend Ai Weiweis Satz, auch politischer Widerstand sei Kunst, entschieden: „Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann revolutionär sein.“ Zitiert nach Arend 2012b.
Vgl. zu Nancys Ansprüchen z.B. Nancy 2007: 19 und 100ff; 2010: 56ff. Freilich muss gegen dieses Argument eingewendet werden: Kunst als Kunst, nicht als Aktivismus, ging es nie darum, alle zu erreichen, sie weiß zudem darum, „dass das ästhetische Wir, auf das jedes ästhetische Urteil zielt, konstitutiv umstritten ist“. In kritischer Intention muss es sogar im Gegenteil darum zu tun sein, Kunst aus „dem Missverständnis einer bürgerlichen Selbstverständigungsfloskel“, Kunst sei für alle, zu befreien. Denn wohl nur diese Exklusivität „sorgt dafür, dass […] die Kunst noch immer ein eigenes Gebiet markieren kann […], der einzige gesellschaftlich garantierte Bereich, in dem ich noch bereit bin, mir die Stimme anzuhören, die normalerweise zu schwach ist“.
Wenig hilfreich ist dabei, dass in der zeitgenössischen Kunsttheorie im Gegensatz zu den Politikwissenschaften eine emphatisch-normative Aufladung des Begriffs des Politischen dominiert (ein abgehobener ontologischer Begriff, der mit der Wirklichkeit, wie politische AktivistInnen sie erleben, wenig zu tun hat, etwa bei Agamben 2000: 100 „… das menschliche Leben politisiert sich nur durch das Überlassensein an eine unbedingte Macht über den Tod“). Für Badiou beispielsweise ist Politik wie erwähnt ein „Wahrheitsverfahren“, für Rancière ist Politik nur die „Einrichtung eines Anteils der Anteilslosen“ (Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Aus dem Französischen von Richard Steurer. Frankfurt am Main, S.26f). Kurz: „Politik“ ist das Streben nach Gleichheit. Nancy wiederum nennt, was bei Rancière „Polizei“ heißt, wieder klassisch Politik, hebt davon aber „das Politische“ ab …
Jürgen Riethmüller ( 2013): (Wann) Soll politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/wann-soll-politischer-aktivismus-als-kunst-anerkannt-werden/