„Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder Institutionen möglich ist.“

Marissa Lôbo und Catrin Seefranz im Interview mit Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme.

Marissa Lôbo, Künstlerin und Aktivistin, und Catrin Seefranz, Kulturarbeiterin und -wissenschaftlerin, sind Teil des vierköpfigen Teams von kültüř gemma!, einem Projekt, das seit 2013 die Verbindung von Kultur und Migration stärkt und die künstlerische Arbeit von Migrant_innen fördert*1 *(1). Das Gespräch thematisiert Abhängigkeiten von Institutionen und Subventionen im Kunst- und Kulturbereich, antirassistische Kunst- und Kulturpraxen, Subjektivitäten im Feld der Kultur sowie neoliberale Diversitätsimperative.

Was bedeutet für euch kulturelle Teilhabe bzw. Kultur für alle?

Marissa Lôbo: Das ist mittlerweile ein etwas komplizierter Fall geworden. Ich bin seit langem in der Kunstproduktion tätig, die sich heute als politische und dekoloniale Kunst verkauft. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hat eine spezifische Bewegung in Wien stattgefunden. Unsere Motivation im Rahmen dieser Bewegung war es, Institutionen zu besetzen. Heute erkenne ich, dass wir dort zu viel Zeit und Kraft verloren haben, und ich glaube auch, dass es ein bisschen schiefgegangen ist. Unser Wissen und unsere Kraft haben wir dort hineininvestiert und nicht in Räume und Produktionen, die unabhängig von institutionellen Kontexten waren. Ich bin müde, meine Kraft und meine politischen und ideologischen Einstellungen Institutionen zur Verfügung zu stellen und zu glauben, dass Veränderung primär institutionell stattfinden muss.

Ganz im Gegenteil. Ich denke, es ist wichtig zu schauen, wo es kulturelle Begegnungen gibt und zu sehen, dass das vielleicht nicht immer politisch oder auf einer kulturellen Ebene folkloristische Kunst ist. Es ist wichtig, zurück zu Begegnungen in Kunst und Kultur zu kommen, die sich außerhalb eines politischen und institutionellen Vokabulars bewegen. Diese sind nämlich von einer extrem klassistischen Form von Kunst- und Kulturarbeit besetzt.

Catrin Seefranz: Ich kann es nicht ganz verstehen, dass du die Arbeit an den Institutionen schon für obsolet hältst. Für mich persönlich würde ich sagen, dass Kultur für alle immer noch eine Utopie ist, die es auch wert ist, sie weiter zu verfolgen. Ich fürchte allerdings, dass wir der Utopie in den letzten Jahren nicht wirklich nähergekommen sind. Mich beeindrucken Besucher_innenzahlen von irgendwelchen Blockbusterausstellungen überhaupt nicht. Ich finde, dass sich in den Institutionen, in der Kulturpraxis und am Kulturbegriff wenig geändert hat. Diese sind immer noch zu 99,5 Prozent bürgerlich und weiß. In den Kulturinstitutionen und den wichtigsten Stellen behauptet sich nach wie vor eine dominante Mehrheit mithilfe unterschiedlichster Hierarchieebenen. Es gibt sehr viel progressive Rhetorik und vereinzelt performative Akte, die zum Teil auch sehr überzeugend sind, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich strukturell viel tut.

Dennoch finde ich aber, dass es die Arbeit an der Institution immer noch wert ist. Wenn ich etwa auf kültüř gemma! zurückkomme – ich habe ja viel mit Fellowships zu tun: Wir bieten den Fellows Arbeitsmöglichkeiten in und an Institutionen an und das ist mir auch wichtig. Trotzdem sehe ich diese Macht der Institutionen genau. Sie wollen diesen Diversity-Bonus mitnehmen und abkassieren, ohne dass sich wirklich etwas verändert. Es ist deprimierend mitzubekommen, wenn Institutionen, die in der Selbstidentifizierung ganz weit vorne und im Diskurs selbstverständlich ganz politisch und divers sind, in der Realität anders agieren. Das ist enttäuschend. Gerade deshalb bin ich weiter für Kunst und Kultur für alle. Nicht zu vergessen ist, dass kulturelle Teilhabe auch oft mit dem Ziel von Besucher_innenmaximierung instrumentalisiert wird. Hinter dem demokratischen Appell „Kultur für alle“ steckt oft ein selten reflektierter Paternalismus. Man will, dass sich alle in die Kulturtempel schleppen oder alle in ihrem Leben die Zauberflöte gesehen haben oder Ähnliches. Das ist natürlich nicht, was ich meine.

Marissa Lôbo: Ich sehe das auch so. Ich bin jetzt nicht so pessimistisch, dass ich aufgegeben hätte, finde aber schon, dass unsere Kraft zu sehr auf Institutionen konzentriert war. Es hat durchaus etwas bewirkt und auch eine Utopie inspiriert. Es gibt schließlich auch eine neue Generation und einen neuen Diskurs von PoC und BIPoC, den es vor zehn Jahren nicht gab. Aber meine Arbeiten und Performances in solchen Organisationen oder auch als Künstlerin selbst waren fokussiert auf Kritik und auf Interventionen gegen weiße Vorherrschaft, gegen Kolonialgeschichten, für queernormative und queerhegemoniale Orte und für das Erarbeiten von Queer of Color-Produktionen.

Jetzt gerade befinden wir uns an einem wichtigen politischen Moment. Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder der Macht von Institutionen möglich ist. Eine Utopie zu haben ist wichtig. Es ist aber auch wichtig, zu überlegen, in welchem Moment wir uns gerade befinden und was in den letzten Jahren passiert ist. Es ist wirklich entscheidend, an selbstorganisierte autonome Orte als Möglichkeit mit weniger Abhängigkeit zu denken und zu arbeiten. maiz*2 *(2) ist dafür ein gutes Beispiel.

Catrin Seefranz: Vor allem in der aktuellen politischen und kulturpolitischen Situation ist das so wichtig, weil ich glaube, dass die neue Regierung*3 *(3)  noch viel mehr in Richtung Repräsentationskultur geht und die großen Player noch mehr fördert. Kleine politische Projekte werden sehr in Frage gestellt und das wird Folgen haben. Es ist ganz pragmatisch wichtig, sich alternative Formen zu überlegen, wie man kulturelle Praxis organisieren kann, ohne sich von Subventionen abhängig zu machen.

Marissa, würdest du sagen, dass es eine antirassistische Kulturpraxis ist, die sich in den letzten Jahren formiert hat?

Marissa Lôbo: Ja, sicher. In den letzten zehn Jahren waren wir sehr präsent, und das mussten wir auch sein. Wir hatten wirklich einen kritischen Diskurs und es wurde sehr viel Kunst- und Kulturarbeit aus einer dekolonialen Perspektive gemacht, die queer und antirassistisch ist. Es ist jetzt schon fast die zweite, dritte Generation. Für mich ist es aber im Allgemeinen schwierig, meine Arbeit von maiz zu trennen. Auch wenn ich als Künstlerin selbst politische Arbeit mache, sehe ich mich deshalb nicht allein. Wir waren viele, die in den letzten zehn Jahren wirklich mit Bilderpolitik, Diskurs und Performances sehr präsent in Medien wie auf Facebook waren.

Catrin Seefranz: Davon ist im so genannten Feuilleton aber unglaublich wenig angekommen. Der Umgang mit den Wiener Festwochen 2017 in der medialen Öffentlichkeit war erschreckend. Klar kann man sie kritisieren, man kann und muss ohnehin alles kritisieren. Aber es ist sehr schnell in einen Anti-Political-Correctness-Diskurs gekippt. Es war eine deutliche Aversion erkennbar, die massive Folgen hatte. Der Direktor konnte sich kaum retten und hat seine Hauptkurator_innen fristlos gekündigt. Das Programm der Festwochen ist folglich wieder mehr in Richtung einer sehr bekannten Repräsentationskultur gerückt und viele Sachen, die sie sehr forciert haben, wie post- oder dekoloniale Positionen, sind im Diskurs nicht mehr zu hören.

Das ist einerseits wenig überraschend, weil man weiß, wie kulturelle Hegemonie verteidigt wird. Andererseits fand ich es in dieser Heftigkeit doch überraschend und es zeigt, wie sich dieser Diskurs um Jahrzehnte zurückbewegt. Ich habe mir gerade die Literaturbeilage des Falter angesehen. Ich schätze die Literaturkritik dort zwar, aber ein immenser Sektor an Literatur kommt überhaupt nicht vor. Es sind immer nur die gleichen großen Verlage und die gleichen großen Schriftsteller_innen. Das ist eigentlich unglaublich. Da denke ich, hat sich an den Machtverhältnissen nicht viel verändert. Es gibt sehr viel an kritischer Praxis, aber in einer bestimmten Mehrheit ist diese nicht angekommen oder wird einfach ignoriert.

Marissa Lôbo: Ich sehe diese Aversion eigentlich als Resultat unserer Präsenz in den letzten Jahren. Die Ablehnung ist genau deshalb da, weil ein Diskurs um Political-Correctness und antirassistische oder queere Positionen im kulturellen Feld existiert. Diese Sichtbarkeit entstand nicht zuletzt durch eine Identitätspolitik in der Kunst- und Kulturarbeit. Das war eine große Störung.

Eine weitere Frage bei kultureller Teilhabe ist die nach dem „Wer“ und nach dem „Alle“: „Wer ist ‚alle‘?“ Wer spricht für wen, wenn er*sie_ sagt: „für alle“? Wie seht ihr das?

Marissa Lôbo: Die Repräsentationsfrage ist immer sehr schwierig und je mehr Erfahrung man hat, desto mehr versteht man, wie schwierig es ist, zu repräsentieren. Darüber hinaus gibt es auch immer die Schwierigkeit der Überrepräsentation. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir strategisch denken und nicht nur aus einzelnen Positionen heraus. Wir müssen uns mehr kollektiv bewegen. Ich weiß, dass das nicht leicht ist, aber das müssen wir in diesem Spiel mit dem Staat beachten. Was verdienen wir bzw. wem übergeben oder verkaufen wir unsere Arbeit? Was bekommen wir zurück? Wir müssen wirklich kalkulieren, ob etwas im Sinne der Veränderung dieser Struktur ist. Denn oft ist nur eine individualisierte Position möglich. Dieser Tausch muss fairer sein.

kültüř gemma! könnte dafür ein Beispiel sein: Es gab 2012 eine Ausschreibung von der Stadt Wien und wir haben mit unserem Konzept versucht, diese Ausschreibung zu transformieren. Sicher gibt es immer noch Ausschlüsse. Ist kültüř gemma! für alle? Die Antwort wird sicher nein sein, aber es ist ein Versuch. Wir geben diesem Projekt unser Gesicht und ich finde es schwierig, in der Mitte zu sein. Die Personen bewerben sich, es werden acht Personen von einer Jury ausgesucht und am Ende sind die Kriterien der Juryentscheidung auch nicht immer klar. Wir haben mit kültüř gemma! ein Förderprogramm in Wien für Künstler_innen auf die Beine gestellt, die davor vielleicht nie Zugang zu solchen Förderungen hatten. Sie brachten Beiträge, die wirklich wichtig sind. Catrin, wie siehst du diesen Widerspruch von kültüř gemma!?

Catrin Seefranz: Ich glaube, dass wir weit davon entfernt sind, alle zu adressieren. Ich glaube auch, dass wir weit davon entfernt sind, alle zu akzeptieren. Wir akzeptieren zwar jede Einreichung und versuchen wirklich, diese so genannte Schwelle so niedrig wie möglich zu halten. Wir haben zum Beispiel ganz wenige formale Kriterien für die Einreichung. Es haben schon Konzepte überzeugt und gewonnen, die in keiner Weise irgendwelchen klassischen Vorstellungen entsprochen haben. Mir fällt aber auf, dass es doch eine Tendenz gibt, dass ein bestimmter Diskurs und Habitus gefördert wird. Wir arbeiten strikt mit einer Jury. Das sind sieben Leute, die autonom entscheiden. Auch wenn wir das im Vorfeld beim Briefing der Jury problematisieren, habe ich den Eindruck, dass sich dieser bestimmte Diskurs durchsetzt. Wir haben beispielsweise unverhältnismäßig viele Kandidat_innen aus dem Umfeld der Akademie der Bildenden Künste. Sie haben dieses Konzeptschreiben unglaublich gut drauf. Dieser Souveränität, die in diesen Konzepten und der Präsentation dieser Konzepte steckt, kann sich die Jury oft nicht entziehen. Es sind natürlich alle herzlich willkommen und ich freue mich über jed_en Kandidat_in der Akademie. Aber ich finde eine Selbstreflexion produktiv, die wahrnimmt, welche Subjektivitäten anerkannt und gefördert werden, und die sich kritisch zur Normativität verhält, die hier hergestellt wird. Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um die Positionen einer Mehrheit, sondern um minoritäre, die innerhalb eines bestimmten Sektors des kulturellen Feldes aber selbst hegemonial werden können.

Wie setzt sich die Jury bei kültüř gemma! zusammen? Was sind eure Kriterien und wie sehen Briefings aus?

Marissa Lôbo: Wir suchen jedes Jahr sieben Personen aus, von denen wir glauben, dass sie eine politische Sensibilität haben und die aus verschiedenen Bereichen kommen. Uns ist wichtig, dass diese Kommission kein Tribunal ist. Daran und am Format der Interviews haben wir lange gearbeitet. Bewerber_innen müssen ihre Projekte in den 20 Minuten, die ihnen zur Verfügung stehen, erklären. Wir versuchen es immer sehr locker zu halten. Im Briefing machen wir der Jury klar, dass kültüř gemma! ein politisches Projekt ist. Das sagen wir ihnen direkt. Es geht bei der Auswahl nicht nur um das eingereichte Konzept, sondern auch um die Person, um die Biographie und die Praxis.

Catrin Seefranz: Ich würde auch ganz klar sagen, dass kültüř gemma! ein politisches Projekt ist. Wir versuchen, etwas, das sich einem neoliberalen Diversitätsimperativ verdanken mag, politisch zu machen. Galia Baeva, Marissa Lôbo und ich haben dieses Projekt begonnen und setzen es fort. Wo wir ein politisches Statement setzen, ist die Auswahl der Jury. Wir wählen Leute aus, denen wir einen kritischen Blick auf die Verhältnisse und Machtverhältnisse zutrauen. Mit der Jurybesetzung, die jedes Jahr wechselt, ist unser Beitrag dann auch wieder zu Ende. Der setzt erst dann wieder ein, wenn die Stipendiat_innen arbeiten, und wir sie in ihrer Arbeit begleiten. Die Besetzung der Jury ist ein Moment, wo sich aus meiner Sicht etwas von den Utopien und Visionen von kültüř gemma! materialisiert.

Diversität ist – gerade auch in Salzburg – ein wichtiges Thema für Kunst- und Kulturbetriebe. Was sagt ihr zu diesem Trend?

Catrin Seefranz: Initiativen, die sich der Diversifizierung verschreiben, richten sich vorwiegend an das Publikum und möchten den eigenen institutionellen Körper nicht verändern. Da stößt man schnell an eine Grenze. Wie oft ist das maiz passiert? Es wird von einer Institution ein kritisches Projekt entwickelt, zu dem dann, wenn das Konzept schon fertig ist, Repräsentant_innen eingeladen werden, um das Andere zu verkörpern. Sara Ahmed (2012) schreibt in ihrem großartigen Buch On Being Included,star (*1) das unsere Arbeit sehr inspiriert hat, dass sich die Institution immer als Gastgeberin sieht, die sich interessante Gäste einlädt und bald wieder verabschiedet, sowie dass man aus dieser Logik schwer herauskommt. Zurück bleiben Bilder des „happy tanned face of diversity“ und ein Pluralitätsbonus für die Institution. Wir versuchen mit unseren Fellowships da ein wenig gegenzusteuern, zumindest exemplarisch. Wenn man sich diese Arbeit mit den Institutionen überhaupt antut, dann geht es schließlich auch darum, dass sich der institutionelle Körper verändert, dass dort andere Leute, etwa Migrant_innen arbeiten, einen fixen Arbeitsvertrag haben und ihre Positionen sichern können. Das ist etwas, das nicht passiert.

Marissa Lôbo: Wenn wir schon über Praxis reden, dann stellt sich auch die Frage nach Affirmative Action bzw. Quoten. In Brasilien war das extrem wichtig. Ich hatte vor einigen Jahren die Utopie, das in der Akademie der Bildenden Künste zu denken, weil ich auch Teil von einigen Gruppen wie etwa der Gleichbehandlungsstelle war. In meinem Kopf schwirrte ständig der Gedanke, dass wir endlich mit der Diskussion aufhören und etwas Konkretes implementieren müssen. Es muss wirklich Quoten geben, aber es ist die Frage, wie das vonstattengeht. Was sind die Kriterien? Dafür brauchen wir leider zehn Jahre Diskussion. Ich war sauer, weil wir uns nur auf dieser diskursiven Ebene bewegt haben und bin dann aus der Diskussion ausgestiegen.

Catrin Seefranz: Das hat sich nicht einmal bei der so genannten Frauenpolitik durchgesetzt. Ich bin grundsätzlich für Quoten, aber ich halte es für komplett unrealistisch. Ich glaube, wir können in 80 Jahren noch diskutieren, dass es in Österreich für Minoritäten irgendwelche Quoten gibt.

Also macht niemand auf, ohne dass es Quoten gibt?

Marissa Lôbo: So ist es. Es ist klar, dass diskutiert werden muss. Wir leben aber in dieser legalistischen Gesellschaft und auf dieser Ebene muss die Diskussion stattfinden. Zum Beispiel hat Affirmative Action in Brasilien einerseits super funktioniert, andererseits auch nicht. Man dachte nur daran, dass die Leute Zugang zur Universität haben. Letztendlich hat sich aber auch etwas bewegt und ich finde, wir lernen von Fehlern. Es ist besser, ein klares Konzept zu haben, wie wir in das System eingreifen wollen, vor allem bei den Universitäten. Etwas wie eine Betriebsvereinbarung ist ein gutes Beispiel. Die Universitäten sind sehr offen, aber leider funktioniert gar nichts ohne diese legalistische Diskussion. Ich bin auch dafür, den Wissensort allgemein zu dezentralisieren, aber das ist ein Projekt für tausende Jahre. Die Night School (s. Akarçeşme 2017)star (*2) im Rahmen der Wiener Festwochen war ein gutes Beispiel, aber das hat nur temporär stattgefunden und es war unabhängig. Die Idee war, so etwas außerhalb von Institutionen bzw. außerhalb des Akademischen zu machen, auch als Kritik an der hegemonialen Wissensproduktion.

Catrin Seefranz: Ich zitiere hier nochmal Sara Ahmed.star (*1) Sie findet ja, dass Diversitätspläne und Vereinbarungen nur dazu dienen, dass die Institution performt, wie divers sie eigentlich schon ist. Ich denke, dass das eine wichtige Kritik ist, aber ich glaube trotzdem, dass es nicht immer so sein muss.

Marissa Lôbo: Ich finde, der Bedarf von Interventionen ist immer groß, da sehr viel Ausschluss und Diskriminierung passieren. Es ist unerträglich, in solchen Institutionen zu sein, aber nichts unternehmen zu können. Es müssen Maßnahmen gesetzt werden, die mehr Klarheit bringen, als nur hier und da post- oder dekoloniale Beiträge zu holen. Diese Praxis ist sogar sehr gefährlich. Das Wissen wird nämlich geholt, aber die Frage ist, was danach passiert. Genau jene, die dieses Wissen liefern, werden dann nicht mehr gebraucht. Die Vereinnahmung dieser Institutionen ist so groß und wir, die dafür kämpfen, dass dieses Wissen dort hinkommt, sind nicht mehr Teil davon. Wir stellen unser Wissen zwar gerne zur Verfügung, aber strukturell wollen wir auch etwas verändern. Es muss strategisch und mit vielen gemeinsam angegangen werden, damit es funktioniert. Es muss etwas wie eine Kommission an solchen Orten eingerichtet werden, um etwas zu bewegen. Ich erkenne mittlerweile sehr viel Frustration. Letztendlich geht es aber leider auch immer um den eigenen Arbeitsplatz, den viele nicht riskieren können.

Wie würdet ihr die kulturelle Teilhabe bzw. Ein- und Ausschlussmechanismen am Land beschreiben?

Catrin Seefranz: Spontan gesagt habe ich die Vorstellung, dass es am Land theoretisch einfacher sein könnte, ein Projekt für alle oder zumindest mehr zustande zu bringen, weil alles nicht so groß ist und sich nicht schon so unglaublich viele abgegrenzte Szenen gebildet haben. Ich sehe es schon so, dass das in Wien ganz stark der Fall ist. Es ist irrsinnig ausdifferenziert. Das sehe ich in ländlichen Kontexten vielleicht weniger, in der Stadt Salzburg sicher auch. Es würde mich wirklich interessieren, eine intensive Arbeit am Land zu machen, weil ich glaube, dass dort politische Bildung irrsinnig wichtig ist, vor allem wenn ich mir die Wahlergebnisse anschaue. Ich finde, dass kulturpolitisch ein zu starker Fokus auf die Städte gelegt worden ist und sehe das problematisch. Vielleicht ist es nur meine Wahrnehmung, aber interessante Initiativen beschränken sich meist erst recht wieder auf die Landeshauptstädte.

Marissa Lôbo: Unsere Arbeit in Linz im Rahmen von maiz war sehr diversifiziert. Wir haben gute Arbeit im Migrant_innenbereich gemacht. Sicher hatten wir auch mehr Aufmerksamkeit, als wenn wir das in Wien gemacht hätten. Neben Kulturarbeit war für die aktionistische Arbeit von maiz Sichtbarkeit sehr wichtig. Vielleicht waren es auch nur andere Zeiten, wo Sichtbarkeit das Motto war. Es ist jetzt sicher eine zentrale Frage, ob wir sichtbar sein müssen, um politische Arbeit zu machen. Vielleicht ist es an der Zeit, mehr zu schweigen und unsichtbar zu sein.

Catrin Seefranz: Linz als Industriestadt ist natürlich nicht mit Salzburg zu vergleichen, das ein Eldorado klassischer Hochkultur ist.

Wie sehen eure Visionen in Bezug auf kulturelle Teilhabe aus?

Marissa Lôbo: Ich finde, dass es selbstorganisierte Orte braucht. Ich hoffe, dass wir, die utopisch gedacht haben, überleben können. Dass Kunst- und Kulturarbeit wirklich als politisches Kollektiv und nicht getrennt von vielen Aspekten unseres Lebens gesehen wird. Auch ist es wichtig, mehr solidarische Aktionen zu machen. Nicht nur im Sinne von selbstorganisierten Orten, wo Künstlerisches und Kulturelles stattfinden kann, sondern auch visionäre Orte. Orte, an denen wir uns finden. Ich habe einen Traum, dass mehr BIPoC-Orte in Wien existieren. Politisch zu sein heißt nicht nur, dass wir gut schreiben und Diskurse führen können, sondern dass wir vielmehr eine affektive Politik von Solidarität leben. Ich glaube, viele von uns, die auch so denken, sind sehr isoliert und allein. Es ist sehr wichtig, diese Isolationen durch mehrere Initiativen zu brechen. Das wird ein Resultat von einem Prozess sein. Mir fehlen affektive politische Leute, die sagen: „Was brauchst du?“ Oder Personen, die fragen: „Kann ich dir eine Suppe kochen?“, wenn man krank ist.

Catrin Seefranz: Ich möchte dem eigentlich nichts anfügen, weil ich finde, dass Marissa schon sehr visionäre Sachen gesagt hat. Ich möchte nur hinzufügen, dass man um solche Visionen sehr stark wird kämpfen müssen, so wie ich die jetzige Situation einschätze. Diese autoritäre Wende wird diese Spielräume nicht so leicht bereitstellen. Diese Visionen mögen also schwer zu erreichen sein, aber ich finde, dass sie es wert sind, dafür zu kämpfen.

Danke für das Gespräch!

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Ahmed, Sara. 2012. On being included: Racism and Diversity in Institutional Life. Durham: Duke University Press.

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Akarçeşme, Dilara. 2017. Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017. Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #08. Online unter https://www.p-art-icipate.net/die-night-school-bei-den-wiener-festwochen-2017/ 

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maiz. o.J. maiz ist… Abgerufen von https://www.maiz.at/maiz/maiz-ist am 08.03.2019

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kültüř gemma! o.J. Projekt. Abgerufen von http://www.kueltuergemma.at/de/startpage/ am 08.03.2019

maiz ist ein unabhängiger Verein von und für Migrantinnen mit dem Ziel, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen in Österreich zu verbessern, ihre politische und kulturelle Partizipation zu fördern sowie eine Veränderung der bestehenden, ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken. (vgl. https://www.maiz.at/maiz/maiz-ist )

Die damals neue ÖVP-FPÖ-Regierung ist mittlerweile bereits nicht mehr im Amt.

Persson Perry Baumgartinger, Dilara Akarçeşme, Marissa Lôbo, Catrin Seefranz ( 2019): „Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder Institutionen möglich ist.“. Marissa Lôbo und Catrin Seefranz im Interview mit Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/es-ist-an-der-zeit-zu-schauen-was-unabhaengig-von-der-macht-des-staates-oder-von-institutionen-moeglich-ist/