KünstlerInnen als ErfahrungsgestalterInnen
Wenn KünstlerInnen als ErfahrungsgestalterInnen bezeichnet werden, so geht dem die Annahme voraus, dass die KünstlerInnen die RezipientInnen ihres Kunstwerks im Prozess mitbedenken.
Der Rezeptionsästhetiker Wolfgang Kemp schreibt: Auch „wenn Künstlerin oder Künstler nicht immer direkt mit dem Betrachtenden kommunizierten, so vollziehen beide im Werk eine adressierte ‘Abstraktion von der realen Individualität, wie sie im faktischen Dialog gegenwärtig ist.‘“ (Kemp 1985: 23) (* 6 ) Das heißt, die RezipientInnen befinden sich bei der Rezeption über das Werk in einer Dialogsituation mit der KünstlerIn, die diesen Austausch über ihr Werk initiiert. Der Kunstwissenschaftler Gernot Böhme spricht von einem performativen Kalkül der KünstlerInnen, in Bezug auf die „Herstellung“ der Reaktion auf ihr Kunstwerk. (Vgl. Böhme 1998: 158) (* 3 ) Es geht also nicht nur um einen Austausch, sondern um den Vorentwurf einer Rezeptionssituation. Der Kunsthistoriker Oskar Bätschmann hat 1996 KünstlerInnen erstmals als ErfahrungsgestalterInnen bezeichnet. Sie verantworten bei Bätschmann die „Herbeiführung und Steuerung“ der Kunsterfahrung bei den RezipientInnen. Die KünstlerInnen stellen mit ihren Werken Vorrichtungen, Einrichtungen oder Objekte bereit, die, so Bätschmann, „das Publikum von Ausstellungen mit einer unerwarteten Situation überraschen oder in einen Vorgang einbeziehen und dadurch einen Prozess der Erfahrung auslösen sollen.“ (Bätschmann 1996: 254) (* 1 )
Diese Annahme(n) sind in eine Zeit einzuordnen, in der Bruce Naumann enge Korridore in Ausstellungen baut, wie seine Dream Passages, in denen er die BesucherInnen, wie in einer Versuchsanordnung durch enge Flure führt, oder Rebbeca Horn AusstellungsbesucherInnen die Möglichkeit gibt, sich in ihrem Werk Die chinesische Verlobte einzusperren und durchschütteln zu lassen.
Die Idee der Erfahrungsgestaltung lässt sich in diesen Fällen ganz konkret aus den Werken ableiten. Apparate und Vorrichtungen tragen dazu bei, die BesucherInnen durch einen von den KünstlerInnen vorbestimmten Rezeptionsvorgang zu führen, um im Idealfall bei den TeilnehmerInnen Erfahrungen auszulösen, die im Voraus von den KünstlerInnen entworfen wurden.
KünstlerInnen als ErfahrungsingenieurInnen und RezipientInnen als WahrnehmungsgestalterInnen
Der Philosoph Alva Noë geht einen Schritt weiter und spricht von KünstlerInnen als artistic engineers. Er geht in seinen Überlegungen zur Kunstproduktion über die Gestaltung materieller Settings hinaus und schließt in die Kunstproduktion die Reflexion über die Wahrnehmung und (körperliche) Aktivität der RezipientInnen mit ein: „the [artist] literally enacts the content of possible experience. The artist, then, is a kind of experience engineer.“ (Noë 2002: o.S.) (* 7 ) Die KünstlerIn als ErfahrungsgestalterIn, oder nach Noë, ErfahrungsingenieurIn, verschiebt das Interesse vom Werkgehalt hin zur Subjektivität der RezipientIn. Mit dem Begriff der Erfahrungsgestaltung verändert sich das traditionelle Verständnis des Kunstwerkes mit Autonomiestatus hin zum Verständnis von Kunst als Mittel zur Auslösung eines Erfahrungsprozesses. Die BetrachterIn wird zur TeilnehmerIn eines Prozesses. Kunstwerke können dann nicht als Objekte gefasst werden, sondern der Prozess zwischen KünstlerIn, Werk und BetrachterIn wird Gegenstand der Untersuchung. (Vgl. Bürger 1983: 345) (* 5 ) Noë greift also die Idee Bätschmanns auf, dass KünstlerInnen die InitiatorInnen für ästhetische Erfahrungen durch Rezeptionsprozesse sind, erweitert diese jedoch zusätzlich um den Aspekt der Ermächtigung der RezipientInnen, indem er deren Wahrnehmungsbedingungen untersucht. Wahrnehmung ist für Noë ein ganzkörperliches Phänomen, welches aktiv durch die wahrnehmende Person gestaltet wird. n seinen Theorien zu sensorimotor contingencies beschreibt er, wie sich die Wahrnehmungsbedingungen verändern, wenn RezipientInnen ihre Position im Raum verändern.
Durch meine körperliche Position im Raum erfahre ich als Rezipientin einen Gegenstand, ein Kunstwerk. Meine Wahrnehmung ändert sich jedoch permanent durch die Änderung meiner Position im Raum und somit der Position der wahrnehmenden Sinne. Die Bewegung ich betrachte die Kunst von einem anderen, begrenzten Blickwinkel aus verändert meine Wahrnehmung eines Kunstwerkes. Das meint Noë, wenn er von sensorimotor contingencies, also sich verändernden Sinnes- und Bewegungsbedingungen im Raum spricht. (Vgl. Noë 2002 (* 7 ) und ders. 2004) (* 8 ) Über diese Positionswechsel gestalten sich die RezipientInnen selbstverantwortlich den Rezeptionsprozess.
Dorothée King ( 2013): Sensorimotor Contingencies. Kunstvermittlung und Gestaltung ästhetischer Erfahrung. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/sensorimotor-contingencies/