Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen

Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag

Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber in Deutschland realisiert künstlerische Projekte, die auf Initiative der Zivilbevölkerung entstehen. Unter der Leitung von Alexander Koch findet derzeit eine fünfjährigen Pilotphase statt, die von der Kulturstiftung des Bundes und mit Unterstützung der Fondation de France gefördert ist. In unterschiedlichen, meist strukturell benachteiligten Regionen erarbeitet das insgesamt über 20-köpfige Team aus Mediator*innen, Koordinator*innen und Mitarbeiter*innen gemeinsam mit Bürger*innen und namhaften Kunstschaffenden orts- und kontextbezogene Projekte. Einschränkungen in Bezug auf künstlerische Sparten gibt es dabei keine. Gemeinsam ist den Arbeiten, dass sie soziale Dringlichkeiten mit künstlerischen Methoden anzugehen suchen.

 

„Zuerst einmal hören wir zu, was die Bedarfe der Bürger*innen sind“

 

2007 hast du den Neue Auftraggeber e.V. mitbegründet und leitest seit 2017 die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber in Deutschland. Ist es richtig zu sagen, dass es sich dabei um eine kulturpolitische Bewegung handelt, die in verschiedenen Ländern stattfindet? Oder wie erklärst du einer Person, die nichts von der Sache weiß, worum es dabei geht?

Die Neuen Auftraggeber wurden erfunden von François Hers, einem belgisch-französischen Künstler, der sich 1990 die Frage stellte, warum Künstler*innen eigentlich trotz aller Ausbruchs- und Aufbruchsbewegungen im 20. Jahrhundert mit ihrer Praxis letztlich in Museen und Galerien endeten, anstatt tatsächlich auch eine gesellschaftliche Wirkungskraft jenseits dieser sehr abgezirkelten Räume zu entfalten. Ein Grund dafür bestand in seinen Augen darin, dass in kapitalistischen Gesellschaften Kunst in der Regel als ein Angebot entsteht, das Künstler*innen aus innerer Notwendigkeit heraus erstellen, und für das es dann eine Nachfrage gibt oder nicht. Und Kunstvermittlung – auf Französisch „médiation“ – findet nur postfaktum statt, also erst dann, wenn bereits etwas da ist, das sich an die Öffentlichkeit vermitteln lässt. Diesen gesamten Prozess der Entstehung und Vermittlung wollte François Hers um 180 Grad umkehren.

 

Er forderte also, dass man Kunst ausgehend von der Nachfrage produziert?

Ausgehend von ihrer Notwendigkeit für die Bürger*innen, ja. Es geht um die Frage, welchen Handlungsbedarf es in einer Gesellschaft gibt, in welche kulturelle Produktion eine Gemeinschaft investieren will, und wer darüber entscheidet. Nachfrage bedeutet hier, dass Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen. Und das heißt für uns als Kunstprofis, dass wir erst mal zuhören, was eigentlich ihre Bedarfe sind, um dann zu sehen, wie wir mit unseren Mitteln und Kompetenzen, die wir über Jahrhunderte erworben und erstritten haben, vor Ort auf diese Herausforderung antworten können. Wie das funktionieren kann, beschrieb Hers 1990 mit dem Protokoll der Neuen Auftraggeber.

 

Wo findet man das Protokoll?

Auf allen unseren Websites.*1 *(1)

 

Und es beschreibt die Schritte, wie man im Austausch mit Bürger*innen Kunstprojekte entwickelt?

Das Protokoll beschreibt die Beziehungen zwischen Akteur*innen, die aus freiem Willen zusammenkommen mit dem Ziel, ein Kunstwerk entstehen zu lassen. Es beschreibt einen Prozess, bei dem Bürger*innen artikulieren, was sie brauchen und wünschen, und dies als einen Auftrag formulieren, mit dem sie dann an Künstler*innen herantreten. Den Künstler*innen schlägt das Protokoll vor, sich solche Aufträge anzuhören und ihre Erfahrungen und Möglichkeiten einzubringen, um adäquat auf einen Auftrag zu antworten. Und es schlägt Kunstvermittler*innen, die sonst zwischen Werken und Publika vermitteln, vor, dabei die Rolle von Mediator*innen einzunehmen, damit Bürger*innen und Künstler*innen zusammenfinden und eine produktive Binnen-Beziehung entwickeln können. Das Protokoll beschreibt auch die nötigen Rahmenbedingungen, die Politiker*innen schaffen können, damit dieser Prozess funktioniert. Es legt aber auch fest, dass es im Auftragsprozess keine äußere Autorität gibt. Das ist ganz wichtig. Wenn Bürger*innen einen Auftrag vergeben, kann keine höhere Instanz über ihre Köpfe hinweg entscheiden, was da gemacht wird. Das ist auch der entscheidende Faktor, warum wir erfolgreich sind. Weil die Leute genau verstehen, was Ownership bedeutet, auch wenn sie das Wort vielleicht vorher noch nie gehört haben. Es ist ihr Projekt, ihr Kunstwerk, das da entsteht.

 

Was genau ist mit Mediator*innen gemeint?

Mediator*innen sind diejenigen, die Brücken bauen zwischen Bürger*innen, gleich welchen Hintergrundes, und den Expert*innen, also Künstler*innen, Architekt*innen, Musiker*innen usw. Die Mediator*innen werden von Menschen kontaktiert, die eine Initiative ergreifen wollen, um mit den Mitteln der Kunst ihrem Interesse Sichtbarkeit zu geben, vielleicht einen Konflikt zu transformieren, eine Vision zu finden, die ihnen fehlt, Fragen der eigenen sozialen Existenz aufzuwerfen oder zu manifestieren.

 

Das heißt, die Leute müssen informiert darüber sein, dass es die Neuen Auftraggeber gibt?

Richtig. Und das sind sie in aller Regel, wenn es ein erstes Projekt in einer Region gibt. Dann geht das sehr schnell. Zwei Zeitungsartikel in der lokalen Presse, und die Leute rufen tatsächlich an. Der Bedarf ist größer, als man denken würde. Ich nenne mal ein Beispiel: Der Leiter einer Leichenhalle in einem Krankenhaus rief einmal François Hers an und sagte: „Wir möchten einen Künstler damit beauftragen, unsere Leichenhalle umzugestalten.“ Hers wollte ihn testen und sagte: „Dann nehmen Sie sich halt einen Innenarchitekten, wenn sie die Halle umgestalten müssen.“ Der Leiter aber insistierte und sagte: „Es geht hier um die Frage des Übergangs zwischen Leben und Tod. Nur ein Künstler kann dafür eine Form finden.“ Er war kein Experte für Kunst, hatte aber ein sicheres Gefühl dafür, dass eine so existenzielle Fragestellung nach einer künstlerischen Antwort sucht. François Hers hat sich auf die Sache eingelassen und mit Ettore Spalletti einen hervorragenden italienischen Künstler gefunden, der die Leichenhalle in einen einzigartigen Ort verwandelt hat. Eine Art abstrakte Kapelle des späten 20. Jahrhunderts. So passiert das. Bürger*innen kommen mit konkreten Anliegen und sagen: „Alleine wüssten wir jetzt nicht, wie man dem Gestalt gibt, und deshalb rufen wir euch an, damit ihr uns mit einer Künstlerin oder einem Künstler in Kontakt bringt, der geeignet wäre, auf die Herausforderung, die wir hier sehen, mit einem Projektentwurf zu antworten.“

 

Dann könnte man also auch für eine ganz persönliche Sache einen Auftrag vergeben, oder muss ein Projekt ein „Gemeinwohl“ in sich tragen?

Das Protokoll der Neuen Auftraggeber beschreibt, dass die Auftraggeber*innen in der Lage sein müssen darzustellen, warum ihr Anliegen von gesellschaftlichem Interesse ist, sodass die Gemeinschaft auch investieren soll. Denn das ist eine wichtige Frage: Wer legitimiert eigentlich, dass Steuer- oder Stiftungsgelder für eine künstlerische Produktion eingesetzt werden? Bei uns ist es essenziell, dass die Bürger*innen als aktive Mitgestalter*innen einer demokratischen Öffentlichkeit sagen: „Dies hier ist ein Anliegen, von dem wir glauben, dass es für das gesellschaftliche Leben von Relevanz ist.“ Und wenn sie die Mediator*innen davon überzeugen, dass dem so ist, dann begleiten wir den gesamten Prozess, einschließlich der Finanzierung. Das ist ganz wichtig zu sagen. Auftraggeber*innen müssen bei uns für eine Produktion kein Geld mitbringen.

 

Dann seid ihr also so etwas wie eine Anlaufstelle und bietet eine Art Service?

Generell ist es so etwas wie ein neuer Public Service, ja. Ein Service, den wir der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Wir haben das Know-how und die Verfahrenstechnik, und im besten Fall haben wir auch die finanziellen Mittel oder wir beschaffen sie. Die Künstler*innen, die dann in die Projekte reinkommen, sind aber keine Dienstleister*innen. In diesem Punkt ist das Protokoll sehr explizit: Künstler*innen bringen ihre Kompetenz ein und auch ihre künstlerische Freiheit. Sie sagen: “Ok, meine Antwort auf dieses Problem wäre soundso. Das ist mein Entwurf.“ Und wenn die Bürger*innen sagen: „Einverstanden. Das würden wir gerne produzieren“, dann wird es auch umgesetzt. Wenn sie aber sagen: „Das entspricht überhaupt nicht unseren Vorstellungen“, dann wird weitergesucht, auch nach anderen Künstler*innen. Es ist also nicht so, dass Künstler*innen einfach die Erfüllungsgehilfen des Bürger*innenwunsches sind.

 

Hast du schon mal erlebt, dass sich die Ideen oder auch die Interessen von Kunstschaffenden durch den Austausch mit Auftraggeber*innen grundlegend verändert haben?

Ja, häufiger: Matali Crasset zum Beispiel, eine französische Systemdesignerin, die eine relativ breite Praxis hat. Sie wurde von zwei Lehrerinnen in einer kleinen Dorfschule in Nordfrankreich für ein Buchprojekt angefragt. Während des Mediationsprozesses stellte sich heraus, dass die Lehrerinnen und die Schule eigentlich ein ganz anderes Problem hatten, dass nämlich das Schulgebäude total veraltet war. Daraufhin sagte die Mediatorin: „Warum gebt ihr nicht eine neue Schule in Auftrag?“ Die Lehrerinnen erwiderten: „Das ist doch total vermessen, wie soll das denn gehen?“ Und Matali Crasset fragte: „Ich habe zwar bislang noch keine Schule gebaut, aber wie müsste sie denn aussehen, wenn ihr euch etwas wünschen dürftet?“ Und genau hier kommt der Faktor Kunst ins Spiel, das möchte ich an dieser Stelle gerne sagen. Kunst steht für mich synonym für Think-out-of-the-Box. Denk jetzt mal nicht an Geld! Denk nicht an Machbarkeit! Sondern beschreib jetzt mal einfach eine Wunschproduktion! Das ist ein ganz anderer Ausgangspunkt der Projektentwicklung, als es in der Regel der Fall ist.

 

Und wie ging es dann weiter mit diesem Auftrag?

Matali Crasset machte tatsächlich einen Entwurf, und das für die Umsetzung nötige Geld konnte aufgetrieben werden: 1,2 Millionen Euro. Die Schule wurde gebaut und ist als erste Null-Energie-Schule Frankreichs aufgrund ihres speziellen und innovativen Mobiliars beispielgebend geworden.*2 *(2)Sie ist gleichzeitig das soziale Zentrum der gesamten Gemeinde, mit Mediathek und Veranstaltungsräumen, auch für die Senior*innen. Es ist also nicht nur ein neuer Baukörper entstanden, sondern auch ein neuer sozialer Raum. Dass der Auftrag darauf hinauslaufen würde, das konnte Crasset vorher nicht ahnen.

 

„Die Sieben Künste von Pritzwalk“

 

Auf eurer Website sticht auch ein Projekt heraus, das nach einem neuen Sozialraum aussieht, es heißt Die sieben Künste von Pritzwalk. Kannst du dazu etwas sagen, warst du da involviert?

Ja. Das war unser erstes richtig tolles Projekt in Deutschland. Der Mediator war Gerrit Gohlke, mit dem ich auch heute noch eng zusammenarbeite. Das Projekt entstand, weil er bei einem Besuch in Pritzwalk auf der Straße mit einer Bürgerin ins Gespräch kam, die erzählte, dass die Innenstadt sich immer weiter leerte. Die Geschäfte würden schließen, die Leute kämen nicht mehr. Sie sagte: „Da muss man was machen.“ Und immer, wenn Bürger*innen das sagen, dann werden wir hellhörig und fragen nach: „Aha, was denn? Was müsste man denn machen?“ Oft gibt es einen ersten Initiativgeist, einen Impuls, etwas zu tun. Die Bürgerin in Pritzwalk machte den Vorschlag, man könne ja ein paar Skulpturen platzieren, dann sei dieser Ort vielleicht wieder attraktiver. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um keine schnelle Idee, sondern um einen lang gehegten Traum ihrerseits handelte, um ihre Hoffnung auf eine gemeinsame, heile Kultur. Mediation heißt aber auch, nachzufragen und Vorschläge in Frage zu stellen. Das war Gerrit Gohlkes Aufgabe. Nach einigen Treffen, bei denen sich auch der Gesprächskreis erweiterte, wurde immer klarer, dass die Leute nicht wegen einiger Skulpturen in ihre Innenstadt zurückkehren würden, und der Mediator wagte es, die Frage umzukehren. Er schlug vor, diejenigen sichtbar zu machen, die nicht kommen, die lieber im Supermarkt auf der grünen Wiese einkaufen, lieber privatisieren würden. Also eigentlich alle. Die Idee war nun, die Vielfalt zu zeigen. Den Reichtum, der da ist, in den leeren Ladengeschäften auszustellen. Sozusagen aufzuzeigen, dass die Stadt Bürger*innen hat, sichtbar zu machen, wer sie sind, wie sie sind. Der Mediator hat das damals einen „Atlas“ genannt. Das war so ein erster Gedanke.

Der kam im Austausch mit den Bürger*innen?

Der kam im Austausch, genau. Das hat auch etwas mit Vertrauen zu tun. Zu sagen, ok, es ist nicht so einfach, das Problem liegt noch tiefer. Trauen wir uns, das anzugehen?

 

Aber mal ganz konkret: Wie erweitert ein*e Mediator*in den Gesprächskreis in so einer Situation, wie du sie gerade geschildert hast?

Erst mal braucht es viele Blickwinkel. Man fragt: „Wen kennen Sie denn noch? Wer sind denn Leute, die das Problem ähnlich sehen oder von ihm betroffen sind?“ Und so entstehen weitere Gespräche, es bilden sich informelle Round Tables, man trifft sich privat oder in einer Kneipe, oder man macht eine Präsentation im Gemeindesaal und spricht mit der Verwaltung darüber, wie sie die Dinge sieht. Und währenddessen erzählt man von den Neuen Auftraggebern und schaut, ob die Leute dieses Modell für sich nutzen wollen. Aber wir würden in dieser Phase nie versuchen, sie zu überreden oder gar Künstler*innen mitbringen. Das passiert ja häufiger in Partizipationsprojekten: Künstler*innen gehen in ein Dorf und versuchen dann, die Bevölkerung zu motivieren, mitzuspielen. Dabei ist oft weder die Partizipation noch die Kunst am Ende des Tages besonders überzeugend. Das wissen viele Praktiker*innen aus diesem Feld. Und daher tun wir es eben anders. Wir unterstützen ein Projekt nur dann, wenn die Leute selbst sagen: „Wir wollen etwas auf die Beine stellen.“ Manchmal bringen wir solche Leute erst zusammen, weil wir sehen, dass sie ein ähnliches Anliegen haben, auch wenn sie sich noch gar nicht kennen. Und so entwickelt sich eine Art Dynamik.

 

Und wie ging es weiter in Pritzwalk?

Gerrit Gohlke, der Mediator, hat mit vielen Künstler*innen gesprochen, schließlich das Duo Clegg & Guttmann vorgeschlagen, und die Bürger*innen haben sich auf den Vorschlag eingelassen. Clegg & Guttmann eigentlich deshalb, weil sie buchstäblich einen Sinn für den Austausch zwischen Menschen haben. In ihren „Libraries“ tauschen Menschen etwa Bücher und bilden so einen sozialen Querschnitt ihrer Gemeinschaft ab.star (*1) Und dann passierte das, was Neue Auftraggeber so faszinierend macht. Clegg & Guttmann sagten: „Ja, wir wollen die Vielfalt dieser Stadt porträtieren. Aber es kann nicht um einen Atlas gehen in dieser Stadt, um eine Kartographie oder eine „Library“. Es geht um ein Selbstporträt. Wenn wir wissen wollen, was Pritzwalk ausmacht, was die Bürger*innen zu dieser städtischen Mitte beitragen könnten, dann müssen sie sozusagen selbst Modell sitzen, dann müssen die Porträtierten entscheiden, wie ihr Bild aussieht, ganz wie bei alten Herrscherporträts, wenn man so will.“

 

Sie haben den Ball an die Einwohner*innen zurückgespielt?

Ja, weit radikaler, als sich der Mediator das vielleicht getraut hätte. Sie kamen mit einem wirklich verwegenen Vorschlag. Sie haben gesagt: „Wir machen gar nichts. Wir bauen nur den Rahmen für das Bild. Und aus allem, was geschieht, machen wir ein großes Buch. Ganz am Ende wird es das Porträt dieser Stadt sein, lesbar für alle. Und entweder das Porträt der Pritzwalker ist gähnend leer oder voll von Aktivität, Kreativität und so weiter.“ Sie haben dann sechseinhalbtausend Briefe an alle Haushalte bis hinaus in die Dörfer verteilt und haben dazu eingeladen, Projektvorschläge für einen mehrmonatigen Prozess zu machen, der dann in den Ladengeschäften stattfand. Das nannte sich Die Sieben Künste von Pritzwalk. Sieben Ladengeschäfte für sieben Disziplinen, als Theater, Musik, Literatur, bildende Kunst. Dann kamen tatsächlich gut 70 Projektvorschläge: „Ich möchte gerne den Maler so-und-so ausstellen, der malt hier auf dem Land, aber den kennt keiner.“ „Ich möchte eine Bibliothek mit Kinderbüchern aus der DDR-Zeit, damit Enkel und Großeltern über Geschichte reden können.“ „Ich kann Bauchtanz. Ich möchte endlich mal öffentlich zeigen, wie gut ich bauchtanzen kann.“ Also alle möglichen Ideen. Und es führte tatsächlich dazu, dass wie unter einem Brennglas plötzlich kulturelles Leben in die Innenstadt kam und sie sich füllte.

 

Was war genau die Aufgabe der Künstler in diesem Prozess? Hatten sie einfach die initiale Idee oder waren sie weiter beteiligt?

Sie waren weiter beteiligt insofern, als sie einzelne Formate mitgestaltet haben. Aber vor allem schufen sie einen symbolischen Rahmen, der den ganzen Prozess als ein künstlerisches Projekt markierte und auch bei den Bürger*innen die Ambitionen weckte, selber in künstlerischen Formaten zu denken. Du hast vorher gefragt, ob Künstler*innen manchmal etwas Anderes tun als sonst, und Clegg & Guttmann sagen, obwohl sie zwei Jahre mit dem Projekt beschäftigt waren, dass sie bis heute nicht wissen, ob sie eigentlich ein Kunstprojekt gemacht haben oder irgendwas Anderes. Also für sie war das auch eine erweiterte Praxis, die abwich von dem, was sie sonst tun. Aus künstlerischer Sicht aber ist entscheidend, dass abschließend das Buch und auch eine Ausstellung entstanden, die in Pritzwalk durchaus großes Interesse fanden. Man konnte es ja jetzt sehen. Gedruckt. In einer mächtigen Chronik sah man, was sie „das soziale Porträt einer Stadt“ nannten und was man sich gleichzeitig als enormen Motivationsschub vorstellen muss, die sichtbar gewordene Vielfalt und Kraft, die es ja offensichtlich gab, weiterleben zu lassen.

 

Und war der Mediator nur beim Aufgleisen der Zusammenarbeit oder dann auch weiter involviert?

Ganz stark, weil er diese ganzen Prozesse koordiniert hat. Also logistisch, aber auch als Narrativ. Solche Projekte leben ja davon, dass es auch eine Geschichte gibt, hinter die sich alle stellen können und die man auch der Presse oder den Verwandten erzählt. Mediator*innen machen auch die Öffentlichkeitsarbeit oder versuchen, den Bürgermeister zu überzeugen. Sie halten die Auftraggeber*innen-Gruppe zusammen, vermitteln im Falle von Konflikten. Das ist ganz wichtig. Sie beschützen die Interessen der Bürger*innen einerseits und die der Künstler*innen andererseits, falls die sich mal in die Haare kriegen oder übergriffig werden, oder eine der beiden Seiten zu viel Autorität für sich reklamiert. Deshalb ist die Mediation tatsächlich der alles entscheidende Faktor.

 

Was passierte in Pritzwalk, als die Zusammenarbeit vorbei war?

Es passierte etwas völlig Unvorhergesehenes, das dieses Projekt zum Erfolgsfall gemacht hat. Eine Gruppe von Bürgern*innen gründete selbstständig einen Kunstverein, den es vorher im Ort nie gab, die Kunstfreunde Pritzwalk. Sie hatten bald 50 Mitglieder, wachsen seither stetig weiter, und haben vor wenigen Monaten ihr fünfjähriges Bestehen gefeiert. In den ersten Jahren haben sie in der Innenstadt ein Ladenlokal als Ausstellungsraum betrieben. Sie waren also jetzt der Anziehungsfaktor, den sie sich von den Skulpturen gewünscht hatten. Mittlerweile haben sie im lokalen Museum einen eigenen Ort bekommen. Sie sind etabliert und machen nennenswerte Ausstellungen. Das heißt, das Projekt hatte tatsächlich einen Nachhaltigkeitseffekt. Und das hat damit zu tun, dass die Leute überhaupt durch das Projekt gemerkt haben: „Wir können ja hier selber etwas auf die Beine stellen, wenn wir es nur wollen.“ Die Auftragsarbeit hat somit für das Selbstbild der Stadt viel getan. Es gibt eine neue Institution und kulturelles Leben, das es in dieser Form vorher nicht gab, und die Leute aus Pritzwalk sind stolz darauf und erzählen bis heute die Geschichte des Sommers der Sieben Künste von Pritzwalk. So etwas kannst du nicht induzieren, das kannst du dir nicht vorher ausdenken. Auch deshalb müssen unsere Projekte so zeitoffen sein.

 

Der Auftraggeber von Berlin Tempelhof

 

Mir gefällt die Idee, dass ihr euch von den Leuten leiten lasst, die Interesse und Zeit haben, sich in so einen Prozess zu involvieren. Was aber, wenn das nur eine Person bleibt, wenn also keine weiteren dazukommen? Würdet ihr auch mit nur mit eine*r Auftraggeber*in arbeiten?

Da kann ich von einem Projekt erzählen, bei dem ich selber Mediator bin. In einer Kooperation mit dem Auswärtigen Amt und dem Institut für Auslandsbeziehungen hatte ich vorgeschlagen, dass man in Berlin ein Pilotprojekt machen könnte. Das Handlungsfeld war das damals neu eröffnete Auffanglager für Geflüchtete am Flughafen Tempelhof, das größte Berliner Auffanglager, ein verdammt harter Ort. Ich habe zwei Co-Mediator*innen ins Projekt geholt, eine Urbanistin mit palästinensischem Hintergrund und einen Künstler mit kurdischen Wurzeln. Sie sprachen Kurdisch und Arabisch, kannten die entsprechenden Kulturen und konnten, anders als ich, mit den Geflüchteten in ein vertrauensvolles Gespräch kommen. Sie arbeiteten bei der Essensausgabe, bei der Kleiderausgabe, sprachen informell mit den Leuten: „Was ist hier los? Wie erlebt man die Situation? Wie sind die Befindlichkeiten, Bedürfnislagen? Gibt es Leute, die gerne aktiv werden würden, während sie warten, bis ihr Asylantrag durch ist?“ und so weiter. Dieses Nachfragen führte letztlich dazu, dass wir gemeinsam mit einer Gruppe von acht jungen kurdischen Männern, die sich untereinander nicht kannten und durch die Medaitor*innen zusammengefunden hatten, auf der Wiese saßen. Wir gerieten in ein Gespräch darüber, dass ihre Wünsche immer wieder um das Gleiche kreisen würden: „Ich will eine Freundin“, „Ich will einen Job“ und „Ich will eine Wohnung“. Sie beschrieben, dass ihr Vorstellungshorizont, verständlicherweise, nicht viel weiter reiche, dass sie dabei aber auch allmählich immer deprimierter würden, weil das die drei Dinge seien, die wirklich schwer zu bekommen seien. Plötzlich sagte einer von ihnen: “Naja, also wenn ich jetzt an Kunst denke, dann würde das heißen, dass ich mir alles wünschen kann. Dann hätte ich gerne meine eigene Apotheke mit alten schönen Holzschränken und dahinter einen Botanischen Garten mit seltenen Tieren, den nur ich alleine betreten kann. Das wäre meine Wunschwelt.“ Und plötzlich war das Eis gebrochen und jeder entwickelte seine eigenen Fantasien. Nach mehreren Gesprächen kam dann aber plötzlich nur noch einer von ihnen, Satep Namiq, damals 23 Jahre alt. Er sagte: „Die anderen entschuldigen sich, aber sie haben einfach keine Kraft mehr. Sie sind zum Teil depressiv, der eine will wieder zurück nach Hause laufen, weil er nicht mehr glaubt, dass das hier klappt.“ Da waren die jungen Männer schon zwölf Monate in Tempelhof. Sartep sagte: „Ich finde, wir müssen was machen. Ich will ein Projekt in Auftrag geben, auch für alle anderen, die nicht die Kraft haben, denn ich habe sie.“

 

Und daraufhin habt ihr mit ihm allein weitergearbeitet?

Ja, ich habe gesagt: „Dann erzähl mir. Dann bist du der Auftraggeber und ich will verstehen, was du tun willst.“ Und das führte dazu, dass er ein Comic-Buch in Auftrag gab, in dem die Fantasiewelten, über die die Gruppe gesprochen hatte, Wirklichkeit werden, und sich die Grenzen zwischen Geflüchteten und Einheimischen wie magisch auflösen würden. Es ging ihm und auch mir darum, zu einer progressiven Perspektive auf geflüchtete Menschen beizutragen und zu zeigen, dass sie kein Problem sind und keine Bittsteller*innen, sondern Menschen, die viel Potenzial mitbringen, Kompetenzen, Eigenwünsche, Eigenfantasien, eigene Fähigkeiten. In einem recht langwierigen Prozess haben wir zunächst Bruce Sterling eingeladen, einer der beiden Erfinder der Cyberpunk-Literatur, der dann ein erstes Skript für diesen Comic geschrieben hat. Dann gab es weitere Autoren, die dieses Skript verfeinert haben, immer wieder im Feedbackprozess mit dem Auftraggeber und mit anderen Geflüchteten. „Was soll die Geschichte, an der wir arbeiten, können? Was ist der Kern? Was ist eure Realität, und wie lässt sie sich erzählen?“ Und dann stieß ich nach langer Recherche auf Felix Mertikat, einen der besten jüngeren deutschen Comiczeichner. Ich lud ihn ein, Satep Namiq in Berlin zu besuchen, die beiden mochten sich, und Sartep fand Felix‘ Comics gut. Also beauftragte er ihn. Und nun sitzt Felix Mertikat gerade und zeichnet die Geschichte fertig, in der Sartep selbst der Held ist. In den nächsten Monaten kommt das Comic-Buch heraus. Und Satep Namiq beschreibt auf Nachfrage, dass dieses Projekt die erste Tür war, die für ihn nach seiner Flucht wieder aufgegangen sei. Es war das erste Mal, dass er wieder etwas Wirkliches tun konnte, endlich mit Deutschen an einem Tisch saß und an einem echten Projekt arbeitete. Er sagt, es hat ihm unglaublichen Mut gegeben. Und er sagt auch immer: „Das ist mein Buch.“

 

Unter wessen Namen wird es publiziert werden?

Felix Mertikat im Wesentlichen und die Autoren. Im Auftrag von Satep Namiq.

 

„Es zeichnet sich ein Bild der Bedürfnislagen von Regionen mit speziellen strukturellen Herausforderungen“

 

Du hast zu Beginn unseres Gesprächs gesagt, dass die Auftraggeber*innen auf euch zukommen, in diesem Fall des Auftraggebers von Tempelhof seid ihr aber auf den Kontext zugegangen. Einfach, weil ihr selbst dachtet, da müsste man was machen?

Genau. Manchmal gibt es das. In unserer Startphase mussten wir überhaupt erst mal Praxisbeispiele erzeugen, um Stiftungen und Politiklandschaft zu zeigen, wie das Modell an welchen Orten, mit welchen Leuten funktioniert. Wir sind immer noch in einer Pilotphase, finanziert von der Kulturstiftung des Bundes. Die fünf Mediator*innen, die im Moment hier in Deutschland Projekte machen, haben sich vor zwei Jahren in bestimmte Suchräume begeben, wie wir das genannt haben. In Regionen mit speziellen strukturellen Herausforderungen. Das ist einmal in ländlichen Räumen in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg und in Klein- und Mittelstädten im Ruhrgebiet. Das sind zwei völlig unterschiedliche Transformationsregionen, wo man anhand verschiedener Fallbeispiele erkennen kann, was die Menschen vor Ort besonders bewegt.

 

Und die Mediator*innen haben sich in diesen Räumen auf die Suche nach Notwendigkeiten und Bedarfen der Zivilbevölkerung gemacht?

Sie haben im Schneeballsystem mit allen möglichen Menschen gesprochen. Mit dem Landrat, mit Regionalentwickler*innen, mit Dorfpfarrer*innen, mit dem Sportverein, mit Kneipen-Betreiber*innen, mit dem Kulturverein. Und so zeichnet sich mit der Zeit das Bild einer Region und ihrer Bedürfnislagen, und man trifft irgendwann auf Menschen, bei denen man spürt, dass sie etwas tun wollen, dass sie Initiativgeist haben und ein Thema. Ihnen liegt etwas auf der Seele. Oder vielleicht sind sie auch stolz und wollen ein Zeichen setzen, dass zum Beispiel Leben auf dem Dorf super funktionieren kann, anstatt immer nur als miserabel beschrieben zu werden. Irgendwann verfestigen sich Gruppen von Akteur*innen. In der Regel sind es fünf bis acht Leute.

 

Ihr macht also keine öffentlichen Aufrufe?

Wenn wir in Zeitungen und im Radio Aufrufe starten würden, dass es jetzt in Mecklenburg eine*n Mediator*in gebe und die Leute Projekte in Auftrag geben könnten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass 50 Mal das Telefon klingelt. Ein*e Mediator*in kann aber nicht 50 Ortschaften besuchen, das lässt sich nicht schaffen. Das heißt, du kreierst damit nur Enttäuschungen. Dazu braucht man mehr Geld, mehr Strukturen, mehr Mediator*innen. Dann würde das funktionieren. Es gibt ja viele gesellschaftliche Institutionen, von denen die Menschen einfach wissen, dass es sie gibt und dass man dort hingehen kann. Zum Beispiel ein Kunstverein in Hamburg. Da wissen Leute, den gibt es, da kann ich hingehen. Es gibt öffentliche Dienstleitungen. Da kann man anrufen, wenn man ein bestimmtes Problem hat. In Frankreich gibt es Regionen, wo die Neuen Auftraggeber so fest etabliert sind, dass die Menschen das einfach wissen und sich entsprechend melden. In Deutschland sind wir noch nicht so weit. Deshalb müssen wir sehr genau schauen, in welchen Regionen wir aktiv werden können, mit wie vielen Projekten.

 

Liegt euer Fokus auf den einzelnen Projekten oder ist euer Fernziel vielmehr die Etablierung einer Anlaufstelle in diesen Regionen oder überhaupt in Deutschland mit festen Büros etc.?

Als ich 2007 zum ersten Mal davon gehört habe, habe ich sofort gedacht, wir reden eigentlich von einer neuen kulturellen Institution, die es bis jetzt noch nicht gibt. Das klingt ein bisschen vermessen, aber man muss sich auch historische Prozesse klarmachen. Es gibt ganz viele Dinge, die heute in westlichen Demokratien als ganz normal vorausgesetzt werden, die ursprünglich einmal von kleinen Bürger*innengruppen oder kleine Bürger*innenvereine erfunden wurden. Zum Beispiel Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Das waren am Anfang lokale Gemeinschaften, die, wenn jemandem die Ziege wegstarb, das kompensiert haben. Und später ist dann so etwas wie Sozialhilfe verstaatlicht worden als feste Institution mit Ministerium und so weiter. Heute gibt es Hunderte von Kunstvereinen in Deutschland, aber irgendwann gab es mal den ersten, dann zwei, dann drei. Dann haben sie sich in ihrer Struktur auch immer weiterentwickelt und irgendwann hat sich das Ganze verstetigt. Die Neuen Auftraggeber könnten sehr wohl in 30 oder 50 Jahren eines der kulturellen Gestaltungsinstrumente in der deutschen und europäischen Gesellschaft sein.

 

„Man fängt an, in einer Perspektive zu denken, die man vorher so nicht hatte“

 

Würdet ihr auch Grenzen setzen, wenn Auftraggeber*innen zum Beispiel populistische Leute sind oder Leute, wo du merkst, dass ihr Denken nicht demokratisch ist?

Also der letzte Maßstab ist die deutsche Verfassung, um das einmal vorauszuschicken. Es gibt ja eine gewisse Grundlage, auf die wir uns hier alle verständigt haben, bis auf ein paar, die das anders sehen. Wenn du aber mit der lokalen Bevölkerung im Gespräch bist, ist es oftmals vollkommen unklar, wer da jetzt welche Partei wählen würde. Die reden vielleicht darüber, dass die Dorfgemeinschaft nicht gut funktioniert. Wir haben ein Projekt in Steinhöfel, das erzähle ich kurz, da sind zwölf Dörfer, von denen einige historisch nichts miteinander zu tun hatten. Die wurden in einer Bezirksreform zu einer Gemeinde zusammengelegt. Das heißt, sie müssen jetzt irgendwie miteinander klarkommen. Das funktioniert aber nicht so gut, wie es eigentlich müsste. Die Auftraggeber-Gruppe hat gesehen, dass es dringend notwendig ist, dass die Dörfer in einen Dialog miteinander kommen. Dann ist ihnen gemeinsam klargeworden, dass es etwas gibt, das alle verbindet: Sie werden nämlich älter und haben Angst davor, weil Älterwerden auf dem Dorf heute eine ganz schöne Herausforderung sein kann. Insbesondere, weil es eigentlich kaum mehr Gemeinschaftsstrukturen gibt für ältere Menschen. Daraus ist ein Projekt geworden, an dem jetzt die zwei Künstlergruppen Rimini Protokoll und Construct Lab zusammenarbeiten, in einer Mischung aus partizipativer Theaterform und skulpturaler Produktion am jeweiligen Ort. Sie sammeln lokale Geschichten, lokale Narrative und lokales Wissen, um überhaupt einmal so etwas wie eine Beschreibung der tieferen Substanzen dieser Dorfbevölkerung zu kriegen. – Aber du hattest eine konkrete Frage, das war nur das Beispiel dazu.

 

Genau. Meine Frage war, wie ihr reagiert, wenn ihr mit Leuten zu arbeiten beginnt und dann merkt, dass die gar nicht die demokratische Haltung teilen, die hinter Neue Auftraggeber steht.

Wie viele Leute unter denen in Steinhöfel AfD-Wähler*innen sind, auch unter denen, mit denen wir dann reden, wissen wir nicht. Zehn Prozent, 15, 35? Was ich wichtig finde, ist, dass alle dort die Erfahrungen machen können, dass sich etwas in eine richtige Richtung bewegt. Also dass auch ein guter Gemeinschaftsgeist entstehen kann. Und sie fangen an, in einer Perspektive zu denken, die sie vorher so nicht hatten. Die Erweiterung der gesellschaftlichen Vorstellungsmöglichkeiten ist, glaube ich, der eigentliche Kern von dem, was Kultur zu einem Gemeinwesen beiträgt. Also wie unser Verhältnis zu uns selber, zum anderen und zu unserer Umwelt sich immer wieder wandelt. Die Frage ist, wie man diesen Wandel gestaltet. Und wie man ihn auch so gestaltet, dass er am Ende auf ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen hinausläuft, sofern man ein Interesse daran hat. Haben wir. Steht auch im Protokoll. Natürlich geht es um ein demokratisches Gestalten am Ende des Tages. Oder die Gestaltung demokratischen Zusammenlebens. Ich glaube, wenn das glückt, dann wählen vielleicht ein paar Leute weniger die AfD am Ende des Projekts.

 

Die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung besteht also aus deiner Sicht nicht?

Natürlich achten die Mediator*innen sehr sorgsam darauf, dass ein Projekt nicht parteipolitisch instrumentalisiert wird. Wir hatten so einen Fall, da bekam ein Projekt plötzlich eine bestimme parteipolitische Farbe, und da mussten wir gegensteuern und deutlich machen, dass wir ein Kunstprojekt machen, das überparteilich ist, wie alles, was wir tun, und wir das aus der politischen Färbung wieder herausholen müssen. Gäbe es einen rechtspopulistischen Zugriff auf unser Projekt, würden wir natürlich ganz besonders gegensteuern.

 

Es könnte ja auch sein, dass Künstler*innen ein Projekt für ihre Zwecke instrumentalisieren. Ich meine jetzt gerade Rimini Protokoll, die können sich ja dann auch profilieren, oder sagen wir mal ihr eigenes Ding verfolgen mit so einem Projekt. Siehst du da eine Gefahr?

Ich glaube, alle verfolgen eigene Interessen in solchen Projekten. Auch Dorfbürgermeister*innen, die das vielleicht unterstützen, erhoffen sich vielleicht, dass sie dann auch die nächste Wahl gewinnen, weil sie ein gutes Projekt unterstützt haben. Die Ehrenamtlichen – übrigens sind die Auftraggeber ja letztlich Ehrenamtliche –haben natürlich zum Teil auch das Interesse, dass zum Beispiel etwas an ihrem Ort entsteht, das sie dann auch hinterher nutzen können. Also die kriegen ja etwas. Und dass die Künstler*innen das natürlich in ihr Portfolio nehmen, ist auch klar. Aber wenn es gut ist, ist es ja eigentlich für alle eine Win-Win-Situation.

 

„Mit Neue Auftraggeber kann künftiges Kulturerbe bottom-up aus den Interessen und im Dialog mit der Bevölkerung entstehen“

 

Du hast ja gesagt, dass die Ursprungsidee der Neuen Auftraggeber auf einer Frustration darüber fußt, dass die Kunst trotzdem immer noch in Galerien und Museen zu Hause ist. Du bist ja selbst auch Galerist. Kannst du etwas darüber sagen, warum du zu diesen Neuen Auftraggebern gekommen bist und wie sich das vereinbaren lässt mit deiner Arbeit als Galerist?

Ich würde sagen, als Galerist und Kurator und Kunsttheoretiker habe ich über die Jahre die Erfahrung gemacht, dass der eigene Handlungsraum systemisch immer wieder sehr begrenzt ist. Du kannst noch so viele Ausstellungen machen, die sehr gesellschaftspolitisch ambitioniert sind, du erreichst am Ende immer nur eine ziemlich kleine Community. Das kann auch ganz schön frustrierend sein. – Also die Limits unseres eigenen Milieus und der Öffentlichkeit, die sich darüber herstellen lässt. Und wenn man jetzt, wie es bei mir der Fall ist, sich seit Mitte der 90er Jahre die Frage stellt, wie man Kunst als eine gesellschaftliche Kraft und auch als Teil eines progressiven gesellschaftlichen Prozesses stärken kann, reichen viele bisherige Praxismodelle und Gestaltungsinstrumente einfach nicht aus.

 

Aber für dich schließt die Welt der Galerien und Ausstellungen nicht aus, dass es auch Auftragskunst der Zivilbevölkerung geben kann?

Gar nicht. Ich sage mal, das ist eine additive Maßnahme. Es ist komplementär. Man könnte sagen, wir haben viele tolle Dinge erfunden von Museen bis Kunstmarkt und Kunst am Bau. Neue Auftraggeber fügt jetzt nochmal etwas hinzu, was es in dieser Form noch nicht gab. Nämlich Kunst im Bürger*innenauftrag. In Einzelfällen hat es das gegeben, aber nicht systemisch, nicht als gesellschaftliche Praxis und gesellschaftliche Institution. Da gibt es auch noch viel zu tun. Ich glaube, es hat bislang etwa 60 Mediator*innen gegeben, und die mussten sich diese Rolle und die Anerkennung sehr stark erkämpfen. Es ist ja nicht so, dass alle einen einladen, mit Geld überhäufen und darauf warten, dass man zu machen beginnt. Es gehört sehr viel Überzeugungsleistung dazu. Im Prinzip ist Neue Auftraggeber ein toller Vorschlag für eine europäische Kulturpolitik. Und zwar deshalb, weil es das bislang erste Programm sein könnte, wo alle Leute eine gleiche Methode teilen, aber alle Entscheidungen lokal von den Leuten selbst getroffen werden. Das heißt, niemand würde sagen, dass Brüssel vorgegeben hat, was man jetzt genau machen soll. Denn das geben die Bürger*innengruppen vor und dann im Dialog mit den Künstler*innen. Wenn man sich vorstellt, dass Auftraggeber*innen-Gruppen aus allen möglichen europäischen Regionen auch in einen Austausch treten, voneinander lernen, sehen würden, wie andere ähnliche Herausforderungen angegangen haben, kommt ein extrem interessantes, dynamisches Bild, auch von einer europäischen Kulturproduktion der Gegenwart, heraus. Denn das kulturpolitische Hauptproblem ist, dass wir heute kaum noch in kulturelle Neuproduktionen investieren, sondern eigentlich in die Verwaltung von Kulturerbe. Das, was Neue Auftraggeber beiträgt, ist, dass künftiges Kulturerbe bottom-up aus den Interessen und im Dialog mit der Bevölkerung entstehen kann.

 

Wie du sagst, steht Neue Auftraggeber in Deutschland und europaweit in einer Aufbauphase. Zugleich gibt es aber auch schon Künstler*innen, die ähnlich arbeiten, dabei jedoch nicht dem Label oder dem Protokoll verpflichtet sind.

Klar. Es gibt Leute, die ganz ähnlich arbeiten. Ich glaube nur, dass Neue Auftraggeber bislang das einzige Modell ist, das tatsächlich systemisch herangeht und nach jetzt 500 Projekten allmählich so etwas wie Institutionscharakter erlangt. Aber es gab zum Beispiel in Deutschland ein ganz wichtiges Projekt: Park Fiction in Hamburg. Christoph Schäfer hatte ich neulich zu einer Veranstaltung von uns eingeladen. Das war in vielen Details ähnlich gebaut, aber ist natürlich ganz singulär entstanden, aus so einer Widerständigkeit gegen die Stadtpolitik und das Immobilienwesen. Wenn es damals in Hamburg Neue Auftraggeber gegeben hätte, wäre es denen vielleicht einfach noch leichter gefallen zu sagen: „Es gibt eine Methode. Es gibt jemanden, den können wir anrufen und der unterstützt uns dabei. Die wissen auch, wie man vielleicht Gelder auftreibt und den*die Bürgermeister*in überzeugt“. Und vor allem entstehen solche Dinge ganz selten da, wo wir jetzt unterwegs sind, zum Beispiel in einer Plattenbausiedlung am Ortsrand von Eberswalde. Oder in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern in der Nähe der polnischen Grenze. Da entstehen solche Projektprozesse nicht ohne Weiteres. Und deshalb ist es wertvoll, Neue Auftraggeber als Programm tatsächlich auch zu konsolidieren, ungeachtet dessen, dass andere, die ähnlich arbeiten, natürlich auch Gutes tun.

 

Wie werden die Künstler*innen, die mit euch arbeiten, eigentlich entlohnt?

Klar, sie werden honoriert, aber auf einer Ebene, die nichts mit dem Kunstmarkt zu tun hat. Neue Auftraggeber bewegen sich außerhalb der Kunstmarktökonomie. Das heißt, wenn drei Krankenschwestern, wie in Marseille geschehen, einen multikonfessionellen Andachtsraum in Auftrag geben, und sich als Auftraggeberinnen für Michelangelo Pistoletto entscheiden, entsteht nicht nur ein Raum, der in seiner Funktionsstruktur und Ästhetik einzigartig ist. In der Mitte steht Pistolettos unendlicher Kubus, seine berühmteste Arbeit. Sechs Spiegel, die nach innen schauen, innendrin also einen perfekten unendlichen Raum bilden, den du von außen nicht sehen kannst. Insofern ist das so etwas wie ein spiritueller abstrakter Altar, der aber keiner Religion zuzuordnen ist. Dieser Kubus hatte damals auf dem Kunstmarkt schon einen Wert von Hunderttausenden von Euro. Bei uns kostete er so viel wie sechs Spiegel und ein Bindfaden, und das Honorar für Pistoletto, das aber überschaubar bleibt. Das ist eine ganz andere Ökonomie. Das heißt, du bekommst auch Weltklassekunst zu einem Preis, der entkoppelt ist von dem, was eine Galerie bei einem Ankauf haben wollen würde.

 

Und warum lassen sich die Künstler*innen auf so eine Sache ein?

Weil doch viele Künstler*innen, gerade viele erfolgreiche Künstler*innen, nicht angetreten sind, um nur Galerieausstellungen zu machen. Die haben ja auch eine ambitionierte Praxis in aller Regel und finden es interessant, tatsächlich mit einer Bürger*innengruppe in einen Austausch zu gehen und die Verantwortung zu erleben, was das heißt. Das haben viele Künstler*innen auch beschrieben, was es bedeutet, wenn sie merken, dass das für das Leben von Leuten total wichtig ist, was sie sich ausdenken. Und da geht es dann nicht mehr so sehr um Geld. Natürlich sollen sie für ihr Tun korrekt bezahlt werden, um sich einige Wochen und Monate mit dem Auftrag seriös beschäftigen zu können.

 

Weitere Informationen unter:

www.neueauftraggeber.de

www.nouveauxcommanditaires.eu

 

Die Neuen Auftraggeber von Witstock, mit Antje Majewsky. © Victoria Tomaschko

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Achim Könneke (Hg.): Clegg & Guttmann: die Offene Bibliothek; the Open Public Library. Cantz, Ostfildern 1994.

Marcel Bleuler, Alexander Koch ( 2020): Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen. Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/neue-auftraggeber/