Die Krönung der Krise

Über eine kultur- und demokratiepolitische Notwendigkeit*1 *(1)

Die Corona-Krise führt soziale Ungleichheit und Trennlinien drastisch vor Augen: zwischen gut Situierten, die es sich leisten können, den Lockdown als Entschleunigung zu erleben, und sozial schlechter Gestellten, deren existenzielle Nöte sich vervielfachen und die noch stärker als sonst von gesellschaftlicher Teilhabe und Ressourcen abgeschnitten sind. Nicht mehr zu übersehen ist die patriarchale Verfasstheit unserer Gesellschaft, Nährboden für Mehrfachbelastungen von Frauen, deren Prekarisierung und nicht zuletzt für Gewalt an Frauen und Kindern. Die Krise fördert auch Ausgrenzungen und Rassismen zutage, etwa wenn Personen aufgrund zugeschriebener Fremdheit oder prekärem Aufenthaltsstatus von Ressourcen und Kommunikation ausgeschlossen werden. Die real bestehende Vielheit unserer Gesellschaft bildet sich nicht in den öffentlichen Institutionen und verschiedenen gesellschaftlichen Feldern ab. Definitions-, Mitbestimmungs- und Entscheidungsmacht sind bestimmten privilegierten Kreisen vorbehalten. Dies alles ist nicht neu, zeigt sich aktuell aber besonders deutlich. Die Corona-Krise ist also die Krönung einer lange bestehenden, umfassenden Krise unserer Demokratie.

 

Der Kulturbetrieb spiegelt soziale Ungleichheiten und Ausschlüsse wider

Auf Ebene des Personals – insbesondere in Leitungspositionen – sind Frauen, LGBTIQs, als ‘fremd’ angesehene Personen und andere diskriminierte Gruppen selten bis gar nicht anzutreffen. Auch Inhalte und Programme des Kulturbetriebs richten sich immer noch primär an ein ‘weißes’, akademisch gebildetes Publikum. Das zeigt sich umso deutlicher, je mehr man in Richtung etablierter Institutionen blickt.

Fatal wäre es nun, als kulturpolitisches Post-Covid-19-Ziel lediglich das Überleben des Kulturbetriebs und seiner Akteur*innen anzuvisieren. In Anbetracht der Tatsache, dass in unserer Gesellschaft demokratische Errungenschaften ohnehin bedroht sind und eine Demokratisierung des Kunst- und Kulturfeldes nach wie vor aussteht, sollte es gerade jetzt darum gehen, einen kritischen Blick auf das System zu richten, Schwachstellen zu analysieren und neue Perspektiven und Modelle zu entwickeln.

 

Eine demokratische und diskriminierungssensible Kulturpolitik

Es braucht also eine gesellschaftlich verantwortliche Kulturpolitik, die auf allen Ebenen des Kunst- und Kulturbetriebs Diversität und breite Teilhabe mitdenkt, einfordert und finanziell fördert, sodass Mitglieder diskriminierter Gruppen sich selbstbestimmt einbringen und mitentscheiden können. Unerlässlich sind dabei Schwerpunktsetzungen sowie eine budgetäre Umverteilung hin zu selbstorganisierten und soziokulturellen Initiativen der Freien Szene(n), die demokratisches Ausverhandeln und gemeinsames künstlerisches, kulturelles und gesellschaftliches Gestalten aktivieren. Wichtig ist auch die Förderung von interdisziplinären Kooperationen und von Solidarisierungen, etwa zwischen etablierten und freien Einrichtungen. Verstärkt in den Fokus öffentlicher Finanzierung sollten zudem künstlerisch-kulturelle Formate rücken, die zivilgesellschaftliches Engagement stärken, Benachteiligte begünstigen, mit Formen der Erneuerung von Demokratie experimentieren sowie emanzipatorische Anliegen verfolgen.

Es braucht verbindliche Standards für gerechte Bezahlung und soziale Absicherung von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Außerdem sind transparente, unbürokratische und niedrigschwellig Förderungen sowie umfangreiche Unterstützung für von Ausschlüssen betroffene Akteur*innen erforderlich. Benötigt werden auch – von öffentlichen Einrichtungen wie Gemeinden oder staatlichen Kulturinstitutionen zur Verfügung gestellte – Räume, Infrastrukturen technischer Art und andere Ressourcen, die breit genutzt werden können.

 

Selbstkritisches Hinterfragen und Umbau kulturpolitischer Strukturen

Unerlässliche Basis einer demokratischen und diskriminierungssensiblen Kulturpolitik ist die (selbst‑)kritische Analyse und schrittweise diversitätsorientierte Änderung der gesetzlichen Grundlagen und Entscheidungsgremien; und das in Zusammenarbeit mit diskriminierten Gruppen. Der Umbau staatlicher Strukturen muss auch mit der Schaffung neuer Organisationen – wie Beratungsstellen für Diversitätsentwicklung*2 *(2) – einhergehen. Studien und Projekte, die die Institutionenlandschaft und ihre Ausgrenzungsdynamiken analysieren und die Öffnung des Kultursektors befördern, sind bei all dem wichtige Voraussetzungen*3 *(3).

Zu hoffen ist, dass die neue Kulturstaatssekretärin und ‘ihr’ Minister demokratiepolitische Anliegen ernst nehmen und das diesbezügliche Potenzial des Kulturfeldes sehen und stärken. Auch, dass Kunst und Kultur auf Regierungsebene größeren Wert und letztlich ein eigenes, gut dotiertes Ministerium erhalten. Denn, wenn das fehlt – auch das zeigt die Corona-Krise –, können weder Überlebensmaßnahmen für Kunst und Kultur umgesetzt, noch vorausschauende, mutige kulturpolitische Konzepte entwickelt werden.

 

Der Beitrag erschien erstmals am 10. Juni 2020 in der Printausgabe der KUPFzeitung #174/2020 sowie auf der Website der KUPF – Kulturplattform Oberösterreich: https://kupf.at/zeitung/174/die-kroenung-der-krise/

Der Berliner Senat gründete 2017 das Projektbüro für Diversitätsentwicklung im Kulturbetrieb Diversity Arts Culture (https://www.diversity-arts-culture.berlin).

Beispielsweise Studien wie jene von Aikins, Joshua Kwesi/Gyamerah, Daniel (2016): Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors. Eine Expertise von Citizens For Europe, Berlin (Projekt: Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership), https://www.kulturprojekte.berlin/fileadmin/user_upload/Presse/FINAL_mit_Grafik_auf_Doppelseite.pdf) oder das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Programm „360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ (https://www.360-fonds.de).

Anita Moser ( 2020): Die Krönung der Krise. Über eine kultur- und demokratiepolitische Notwendigkeit[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/die-kroenung-der-krise/