diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule

Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme

Als Regisseurin, Dramaturgin und Schauspielerin hat Aslı Kışlal bereits mehrere Projekte im deutschsprachigen Raum mit dem Ziel realisiert, das Theater, von einem gemeinsamen Wir ausgehend, an unseren gesellschaftlichen Ist-Zustand anzunähern. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang in Österreich, die Verortung des Theaters in unserer Gesellschaft und über das Wiener Projekt diverCITYLAB, das die Möglichkeit einer Professionalisierung im Theaterbereich jenseits von Zugangsbarrieren bieten soll.

 

Was bedeutet für dich „Kultur für alle“ und wie setzt du in deinen Projekten kulturelle Teilhabe um?

Dafür müssen wir zuerst die knifflige Frage stellen, was der Unterschied zwischen Kultur und Kunst ist. Ich persönlich positioniere mich eher so, dass Kultur für alle da ist. Das kann gar nicht anders sein. Jede Community, jede kleine oder große Gruppe hat ihre eigene Kultur. Ich setze mich eher für „Kunst für alle” ein und arbeite dahingehend. Kultur hat auch mit Traditionen und Konventionen zu tun. Kunst jedoch entsteht im Moment, spricht aber nicht für alle. Das ist genau der Punkt, an dem ich mich aktiv einzusetzen versuche.

Im Kunstbereich sprechen wir wirklich von einer minimalen Beteiligung der gesamten Bevölkerung. Ich mache in dieser Stadt [Wien] seit 30 Jahren Kunst, wobei diese in den letzten 20 Jahren eher politisch ist. Ich habe Entwicklungsphasen der Kunst hier miterlebt und gesehen, wie binär alles war. Kunst wurde nur für ein bestimmtes Publikum gemacht. Es wurde nie die Frage gestellt, ob die Menschen, die nicht Teil dieses Publikums sind, die „anderen“, Kunst auch genießen können oder dürfen. Man ging immer davon aus, dass Kunst ohnehin Türe und Tore für alle offen hält und wer kommt, kommt. Aufgrund dieser Situation habe ich die Institutionen und Macher*innen immer wieder mit diesen Fragen konfrontiert: „Wie weit seid ihr wirklich offen?“ „Was heißt offen sein?“ „Wie viele Begegnungszonen für alle Bevölkerungsschichten bestehen tatsächlich, in dieser vermeintlichen Offenheit?“

Als ich 2004 das Stück Dirty Dishes mit über 30 jungen Schauspieler*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen auf der Bühne herausgebracht hatte, war es zu jener Zeit das erste Mal, dass das Publikum „solche Leute“*1 *(1) auf der Bühne sah. Die Premiere war damals im Rahmen des „Schäxpir“-Theaterfestivals in Linz und später hatten wir Aufführungen in Wien. Das Theater war überfüllt! Es war Platz für ca. 100 Personen, wir mussten die Türen aber offen lassen, weil noch 50 Personen draußen standen. Und das war jeden Abend der Fall. Manche kamen mehrmals. Kinder oder Jugendliche, die das Stück gesehen hatten, wollten ihre Eltern oder Freund*innen mitnehmen. Noch einmal und noch einmal. Wir waren stolz, dass Leute, die noch nie im Theater gewesen waren, uns jetzt die Türen einrannten. Das Spannende an diesem Riesenerfolg war die Reaktion der Geldgeber*innen, als ich in entsprechenden Gremien davon erzählte. Von ihnen kam der nüchterne, man kann schon Vorwurf sagen: „Ja klar. Du arbeitest mit 30 Migrant*innen. Die haben riesige Familien, die sie alle bringen. Natürlich hast du dann so viele Leute.“ Daraufhin habe ich gefragt: „Und was ist da verkehrt dabei?” Für mich stellte sich nämlich die Frage, wieso bisher niemand auf die Idee gekommen war, so zu arbeiten. Gelten die Familienangehörigen der Akteur*innen nicht als Zuschauer*innen? Die Aussage war in sich so komisch. Plötzlich war das kein Theaterpublikum mehr, sondern es waren nur mehr Leute mit Verwandten auf der Bühne. Aber so beginnt man. Dann sind plötzlich auch „die anderen“ im Zuschauerraum präsent. Was ist da so verkehrt dabei?

Zum Glück haben sich die Zeiten diesbezüglich wirklich sehr geändert, insofern als sogar Staatstheater angefangen haben, Community-Work zu machen. Sie haben begonnen, mit dem Volk um sich herum zu arbeiten, es auf die Bühne zu bringen und neue Zugänge zu schaffen. Damit hat sich die Annahme, Kunst gehöre jemandem, ziemlich geändert. Diese Annahme stand ohnehin auf sehr wackeligen Beinen, weil es genau zu dieser Zeit viele Infragestellungen gab, inwiefern Kunst, die ohnehin nur eine kleine Nische bediene, überhaupt notwendig sei. Subventionen drohten gestrichen zu werden oder wurden gestrichen, und deshalb fingen auch große Institutionen an, sich selbst, ihre Arbeit und ihre Methoden infrage zu stellen. Auch, weil das Publikum im Laufe der Zeit weggeblieben ist. Sie mussten sich öffnen.

 

Foto: Jasmin Selen Heinz / Projekt: Zirkus Sardam im WerkX

 

Gemeint sind Personen, die nicht den klassischen weißen und bürgerlichen Vorstellungen von Theaterschaffenden entsprechen.

Dilara Akarçeşme, Aslı Kışlal ( 2020): diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/divercitylab/