diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule

Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme

Welche Entwicklungen spielten dabei eine Rolle?

Wir reden hier etwa von Anfang 2000. Besonders nach dem 11. September und den darauffolgenden Entwicklungen im deutschsprachigen Raum keimte die Integrationsfrage auf. Plötzlich versuchte die Politik, die Missstände, die sie über Jahrzehnte hindurch fabriziert hatte, über Kunst quasi auszubügeln und beauftragte die Künstler*innen und Einrichtungen damit, sich zu öffnen. Das Problem dabei war, dass diese Künstler*innen oder Institutionen bis zu jenem Zeitpunkt keine Berührungspunkte hatten mit den Personen, für die man sich öffnen sollte, und maßlos überfordert waren. Man hörte von ihrer Seite dann immer wieder: „Wir machen so viel, aber sie kommen einfach nicht.“ Ich kann mich erinnern, dass ich damals bei diversen Fortbildungsworkshops gefragt wurde: „Aslı, erzähl uns doch einmal, wie du das so machst.“ Es ist mir wirklich zweimal passiert, dass ich bei Workshops, für die ich bezahlt hatte, zur leitenden Person wurde und den Teilnehmer*innen erklärte, wie partizipative Arbeit funktioniert.

Jedenfalls hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren hinsichtlich des Kunstverständnisses viel verändert. Die Fragen, wem Kunst gehört, wer das Privileg hat, Kunst zu genießen oder wer für wen spricht, wurden sehr oft gestellt. Vielleicht zu spät für ein Gesellschaftsbild, das sich schon vor langer Zeit geändert hatte. Die Kunst – das muss man festhalten – hat sehr spät reagiert. Was Führungspositionen im Kunstbereich betrifft, bestehen diesbezüglich immer noch starke Abneigungen. Alleine, wenn wir uns die Frauenquoten anschauen und fragen, wie die Leitungspositionen in großen Theatern besetzt sind oder wer die Entscheidungsträger*innen sind, sehen wir, wie miserabel die Situation noch immer ist. Wie viele Autorinnen werden gespielt? Wie viel Budget haben Regisseurinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen in der gleichen Institution? In welchen Räumlichkeiten dürfen sie spielen? Es sind immer Nischen und kleine Räumlichkeiten. Experimentieren dürfen sie, aber die großen Stücke machen immer noch Männer. Wenn man dieser Frauenquote dann noch das Postmigrantische bzw. PoCs (People of Color) hinzufügt, tendiert Diversität gegen Null. Das ist sozusagen noch miserabler.

Hier sei nebenbei noch angemerkt, dass Dinge, die in der freien Szene entstehen, von staatlichen Institutionen selektiert und übernommen werden, sofern sie gut funktionieren. Das banalste Beispiel ist das Mikrofon auf der Bühne. Irgendwann war es in der freien Szene sehr üblich, Mikrofone auf der Bühne zu haben, und kurz danach sah man das auch in Staatstheatern. So ist es eben auch mit partizipativer Arbeit in großen Institutionen. Diese Arbeit läuft zwar noch immer auf der Kulturvermittlungsschiene und mit minimalen Mitteln, aber es ändert sich etwas.

Um es zusammenzufassen: „Kunst für alle“ erfordert, sich mit folgenden Fragen zu beschäftigen: Wer hat das Privileg, Kunst zu genießen? Wieso ist das ein Privileg? Wer hat das Recht dazu? Wer spricht für wen? In welcher Sprache? Wer schreibt für wen? Wenn sich jede Institution diese Fragen stellen und ehrliche Antworten dazu suchen würde, würde sich viel ändern.

 

Kannst du uns zu mehr zu deinem Werdegang als Theaterkünstlerin in Österreich erzählen?

Ich habe zuerst die Ausbildung zur Schauspielerin [in Wien] gemacht. Während dieser Zeit wurde ich das erste Mal damit konfrontiert, dass ich anders bin als die anderen, weil ich sozusagen die erste Ausländerin in der Institution war. Zum Glück gab es fortschrittlich denkende Lehrende, für die das kein Problem war. Sie haben mein Talent gesehen. Von anderen Lehrenden musste ich mir anhören, dass ich keine europäischen Bewegungen hätte, die Sprache nicht gut könne, eine schlechte Werbung für die Institution sein könnte und so weiter. Ich bin wirklich mit minimalen Deutschkenntnissen in die Ausbildung gegangen und wusste bis dahin nicht, dass es in der deutschen Sprache kurze und lange Vokale gibt. Ich sprach alles so aus, wie ich es vom Türkischen gewohnt bin und saß dann zwei Jahre im Sprechtechnikunterricht. Aber insgesamt haben meine Lehrenden erkannt, was sie mir geben mussten, damit ich auf der Bühne existieren kann. Ich muss sagen, dass das sehr mutige Leute waren, denn Anfang der 90er Jahre war das nicht selbstverständlich.

Trotz Ressentiments und Gegner*innen meines Daseins in der Schule haben mich also viele Lehrende unterstützt und ich habe die Ausbildung in zwei Jahren abgeschlossen. Dann haben sie mir gesagt: „Aslı, geh! Geh auf die Bühne! Gehe nach Deutschland, dort hast du mehr Chancen. Mache deine Karriere dort, weil dort sind sie offener.“ So war es dann auch. In Österreich hatte ich wahnsinnig viele Bewerbungen geschrieben, auf die ich eine einzige Einladung zu einem Bewerbungsgespräch erhielt. In Deutschland bekam ich für jede Bewerbung eine Einladung und es wurde deutlich, dass man dort, was etwa Besetzungsstrategien betraf, bereits fortschrittlicher dachte. So bin ich in Deutschland gelandet und habe jahrelang dort gespielt.

Mir war aber in der Ausbildung klargeworden, dass ich — unter Anführungszeichen — nicht „normal“ bin und die gewohnten Bilder nicht weitergebe bzw. abbilde. Mein Aussehen, meine Sprache und meine Bewegungen wurden als sehr exzentrisch, exotisch und „anders“ wahrgenommen. Dieses Erlebnis, mich an meinem eigenen Leibe plötzlich als verfremdet zu entdecken, hat mich mehr und mehr politisiert. Immer öfter habe ich die Fragen gestellt: „Warum?“ „Warum darf ich das nicht, wenn ich das Talent habe?“ „Ist es so anders?“ Ich habe mich aber nicht anders gefühlt. Es war immer nur die Reflexion von außen, also wie ich von anderen gesehen wurde. Ich nahm immer mehr die Missstände im Theater wahr, das ich davor vielleicht zu sehr idealisiert hatte. Theater war für mich zuvor fortschrittliche Kunst und ich begann, diese Vorstellung infrage zu stellen. Ich fragte mich, wie offen es wirklich ist, und begann, all meine Projekte vor dem Hintergrund dieser Frage umzusetzen. Deswegen ist mein Theater im Grunde sehr politisch.

Eigentlich ist diverCITYLAB als Verein eine Schauspiel- und Performance-Akademie. Für mich ist es aber ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Es geht darum, Sehgewohnheiten zu ändern, seinen Platz im System zu beanspruchen und sich zu behaupten. Wir wollen Missstände infrage stellen und durch unsere Anwesenheit Veränderung erzeugen.

 

Gemeint sind Personen, die nicht den klassischen weißen und bürgerlichen Vorstellungen von Theaterschaffenden entsprechen.

Dilara Akarçeşme, Aslı Kışlal ( 2020): diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/divercitylab/