Verstehen Sie Kunst?

Dekodieren als komplexe Herausforderung

Doch egal, ob Kunstwerke nun für sich alleine stehen oder mit einem Vermittlungswerkzeug verbunden sind, das Kunstwerk muss, um „gelesen“ zu werden, auf Seiten der BetrachterInnen erst dekodiert werden. Es präsentiert sich „als Dechiffrier-Aufforderung“ eines „Wissens- oder Erkenntnisdings“, das es in seiner Gestalt als fremdes Gegenüber noch zu entschlüsseln gilt (Korff 2005: 101).star (* 4 ) Genau diesen Akt der Entschlüsselung betrachtet Heiner Treinen (1996)star (* 11 ) jedoch als komplexe Herausforderung. Im Gegensatz zu Alltagsobjekten werden Objekte in der Ausstellung nämlich vornehmlich über ihre zeichenhaften Qualitäten erfasst und dabei als „Vergegenständlichung ideeller und intellektueller Bedeutungsfelder“ (ebd.: 62)star (* 11 ) wahrgenommen. Eine Dekodierung solcher symbolischer Objekte stellt folglich hohe Anforderungen an die Kompetenzen der BesucherInnen: Diese müssen erstens eine expressive oder anders gesagt eine hervorbringende Haltung zu den Objekten entwickeln, anstatt deren praktischen Nutzen zu ergründen; zweitens ihr analytisches Denkvermögen aktivieren, um die von den AusstellungsmacherInnen gemeinten Bedeutungen im Objekt erfassen zu können; drittens die über das isolierte Objekt der Ausstellung natürlicherweise fehlenden Kontextinformationen in einer mentalen Komplementierung ergänzen und viertens die Bedeutungsintentionen von AusstellungsmacherInnen auf der Präsentationsebene identifizieren, selbst wenn diese möglicherweise gar nicht ihrer Sichtweise entsprechen. Aus diesen kommunikativen Vorgaben der Ausstellung schlussfolgert Treinen, dass „Aufgaben mit diesem hohen Komplexitätsgrad“ unlösbar sind, „sofern nicht kommunikative Situationen vorliegen oder produziert werden, in denen ein Austausch von Lösungsvorschlägen, von Hypothesen, Standpunkten und Vergewisserungen stattfinden kann“ (ebd. 63).star (* 11 )

Dementsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass in meiner Untersuchung BesucherInnen bei ihren Versuchen, die Kunstwerke und die Ausstellung zu entschlüsseln, nahezu durchgängig den Bedarf nach verständlichen Kommunikationssituationen offenbaren und bei Kritik an der Ausstellung Kontextinformation so vehement einfordern. Gerade die visuelle Kommunikation, wie sie in der Kunstausstellung dominiert, scheint aufgrund ihrer tendenziellen Deutungsoffenheit oft weitere Indizien zu benötigen, um für BesucherInnen verständlich zu werden. Und genau an dieser Stelle wird der Ruf nach Kunstvermittlung laut.

Kunstvermittlung zwischen konventioneller Dienstleitung und kritischer Praxis

Mit einer unmittelbaren BesucherInnenorientierung reagieren zahlreiche Institutionen auf diesen Ruf und offenbaren damit gleichsam den Wunsch nach sozialer Relevanz der Inhalte für die BesucherInnen wie ebenso die marketingtechnisch vorgegebene Notwendigkeit einer Steigerung der BesucherInnenzahlen. Doch exakt durch diesen dualen Anspruch wird die institutionelle Ambivalenz von Kunstvermittlung evident, so dass selbst eine bildungspolitisch engagierte Kunstvermittlung nicht vor der Vereinnahmung ihres kritischen Potenzials geschützt ist.

Auch das personale Vermittlungsprogramm der von mir untersuchten Ausstellungen spiegelt diese Ambivalenz der Kunstvermittlung wider. Kunstvermittlung verortet sich demnach nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis zwischen ihrem Status als Dienstleistung (im Sinne einer Befriedigung von KonsumentInnenbedürfnissen) und ästhetisch kultureller Bildung (im Sinne der Ermöglichung eines Auseinandersetzungsprozesses mit kulturellen Inhalten). Eine Systematisierung des untersuchten Vermittlungsangebots führte dabei zu fünf (idealtypischen) Anleitungsmodi bei der Beschäftigung mit Kunst. Die vorgefundenen Modelle umfassen „Input“, „assoziieren“, „(einfach) wahrnehmen“, „das besondere Erlebnis“ sowie „Reflexion“. Wie aber zeigen sich diese Zugänge in der konkreten Vermittlungspraxis? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Auseinandersetzung mit der Ausstellung und für die dabei stattfindenden Kommunikationsprozesse?

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Bachleitner, Reinhard/Aschauer, Wolfgang (2008): Die Vernissage als soziales Phänomen. In: Bachleitner, Reinhard/Weichbold, Martin (Hg.): Kunst – Kultur – Öffentlichkeit. Salzburg und die zeitgenössische Kunst. Wien: Profil, S. 120–135.

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Duncan, Carol (2001): Civilizing rituals. Inside public art museums. London/New York: Routledge.

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Hein, George E. (1998): Learning in the museum. London/New York: Routledge.

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Korff, Gottfried (2005): Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen, in: Heesen, Anke/Lutz, Petra (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 89–107.

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Maset, Pierangelo (2006): Fortsetzung Kunstvermittlung, in: Maset, Pierangelo/Reuter, Rebbekka/Steffel, Hagen (Hg.): Corporate Difference. Formate der Kunstvermittlung. Lüneburg: edition HYDE, S. 11–24.

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Mörsch, Carmen (2009): Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation, in: Mörsch, Carmen/Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojektes. Zürich: diaphanes, S. 9–33.

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P18: ExpertInneninterview mit Winfried Nußbaummüller und Kirsten Helfrich, Kunstvermittlung Kunsthaus Bregenz, am 2. Juni 2010.

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P95: ExpertInneninterview mit Hemma Schmutz, Direktorin Salzburger Kunstverein, am 3. Dezember 2010.

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P97: ExpertInneninterview mit Susanne Krausender, Besucherinformation Salzburger Kunstverein, am 7. Dezember 2010.

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Raab, Jürgen/Soeffner, Hans-Georg (2005): Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen. In: Schroer, Markus (Hg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 166–188.

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Treinen, Heiner (1996): Ausstellungen und Kommunikationstheorie. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Museen und ihre Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Berlin: Argon, S. 60–71.

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Vergo, Peter (1989): The Reticent Object, in: Vergo, Peter (Hg.): The new museology. London: Reaktion Books, S. 41–59.

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Wright, Philip (1989): The Quality of Visitors’ Experiences in Art Museums. In: Vergo, Peter (Hg.): The new museology. London: Reaktion Books, S. 119–148.

Luise Reitstätter ( 2013): Verstehen Sie Kunst?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/verstehen-sie-kunst/