Wer hat die Deutungshoheit, die Herrschaftsmacht und die Sprech*position, um Kultur zu schaffen oder sie zu demokratisieren?

Eva Egermann im Interview mit Dilara Akarçeşme und Persson Perry Baumgartinger

Welche Rolle spielen Gesellschaft, Bevölkerung und/oder Lai*innen in Kunst und Kultur in Bezug auf die Teilhabe oder auch darüber hinaus?

Vor einiger Zeit war ich zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Postexpertismus, Postwissensgesellschaft“ eingeladen. Die These der Veranstalter*innen lautete, dass sich die Vorstellung von Expert*innen- versus Dilettant*innentum zunehmend verändert. Durch alternative Formen von DIY-Culture, aber auch durch soziale Medien und Aneignungsprozesse, Kickstarter, Fundraiser und all die technischen Möglichkeiten, die man nun hat. Die Dichotomie zwischen den Expert*innen, die das Wissen haben, und den Laien, die dieses Wissen anwenden oder sich aneignen, würde sich durch diese Technologien immer mehr auflösen, und das finde ich nachvollziehbar.

Wenn man sich ansieht, was Vorstellungen von Forschung sind, wird angenommen, dass es dazu Apparate des Wissens wie zum Beispiel das Mikroskop gibt. Es gibt also eine bestimmte Perspektive bzw. eine gewisse Art der Betrachtung, eine Forschungsfrage und eine Hypothese, die es quasi zu beweisen oder zu widerlegen gilt. Diese Paradigmen sind natürlich ganz stark in Veränderung.

In seinem Buch „Wissenschaft als Handlung“ beschreibt Klaus Holzkamp, dass Gegenstände der Wissenschaften erst durch wissenschaftliches Handeln sichtbar werden. Der Forschungsgegenstand zeigt sich dann erst, mitunter durch ein experimentelles Setting, das man schafft. Wie man mit so einem forschenden Handeln mit offenem Ausgang umgeht, hat mich beschäftigt. Ist diese Betrachtung auch für experimentelle, künstlerische Forschung legitim? Wie kann man das als Forschung betrachten? Holzkamp beschreibt das Experimentieren als Versuch, reale Begebenheiten durch bestimmtes Eingreifen zu verändern. Das mache ich mit dem Crip Magazine, könnte man sagen. Das Crip Magazine ist der Versuch, Alternativen anzubieten und andere Visualitäten an die Oberfläche zu bringen ‑ abgesehen von binären und stigmatisierenden Darstellungen von Opfern und Helden. Die gesellschaftliche Sichtweise auf Behinderung wird vor allem durch das medizinische Paradigma, bzw. das Rehabilitationsparadigma dominiert. Dabei geht es immer um ein vermeintliches Defizit, welches der Heilung oder Rehabilitation bedarf.

In Enforcing Normalcy beschreibt etwa der US-amerikanische Disability Studies Autor Lennard Davis, dass die Idee von Normalität an das Aufkommen der Eugenik, der statistischen Vermessung von Körpern und ersten wissenschaftlichen Annahmen über den menschlichen Körper gebunden ist. „Das Normale“ war Teil der Vorstellung von Fortschritt, Industrialisierung und der ideologischen Konsolidierung der herrschenden Klasse.

Die Idee von Normativität oder Normalität ist eines der wirkmächtigsten Konzepte der Moderne. Das spiegelt sich auch in der Kultur oder auch der Architektur, im gebauten Raum und in der Standardisierung wieder. Die Erfindung der Fotografie ist beispielsweise ganz eng mit der Erfindung von rassentypologischen, phrenologischen Praktiken verbunden, wie Allen Sekula beschrieben hat.

Die Disability Studies arbeiten sich sehr stark an diesen noch jüngeren Geschichten ab. Sie versuchen, Verhältnisse zu kritisieren und Kategorien zu destabilisieren. Behinderung wird zur analytischen Kategorie für u.a. Geschichtsforschung.

Der Slogan „Nichts über uns ohne uns!“ bringt die Kritik an der Perspektive der „Expert*innen“ zum Ausdruck. Die Krüppelbewegung der 70er hat beispielsweise von der „nichtbehinderten Rehabilitationsmafia“ oder der sogenannten Wohltätergesellschaft gesprochen. Aber auch in gegenwärtigen neoliberalen Gesellschaft wird ein gewisser Zwang zu einem funktionierenden Körper bzw. Nichtbehinderung (compulsory able-bodiedness) immer wieder reproduziert.

Das Projekt „Verborgene Geschichte/n. remapping Mozart“ war ein kritisches Kunstprojekt im Rahmen des Mozartjahres 2006.

Dilara Akarçeşme, Persson Perry Baumgartinger, Eva Egermann ( 2018): Wer hat die Deutungshoheit, die Herrschaftsmacht und die Sprech*position, um Kultur zu schaffen oder sie zu demokratisieren?. Eva Egermann im Interview mit Dilara Akarçeşme und Persson Perry Baumgartinger . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/wer-hat-die-deutungshoheit-die-herrschaftsmacht-und-die-sprechposition-um-kultur-zu-schaffen-oder-sie-zu-demokratisieren/