Kultur für alle: Wozu?

Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel

Historische Hintergründe

Möglicherweise hat die Konjunktur dieser Leitformel damit zu tun, dass sie zwei wichtige und prominente Vorgänger hat. So veröffentlichte im Jahr 1956 der damalige Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, Ludwig Erhard, das Buch „Wohlstand für alle“, in dem er in der Zeit des Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem für alle Menschen interessanten Versprechen für die soziale Marktwirtschaft warb. Es war ein Versprechen in die Zukunft, das deshalb für viele überzeugend war, weil sich in dieser Zeit die deutsche Industrie aufgrund der Unterstützung der Siegerländer („Marshallplan“) mit einem enormen Wachstum dynamisch entwickelte und viele dieses Wachstum spüren konnten. Die Versorgungssituation verbesserte sich deutlich, Städte wurden neu aufgebaut, Löhne und Gehälter stiegen regelmäßig an. Im Gegensatz zu dem heute sich durchsetzenden neoliberalen Kapitalismus entwickelte sich eine Marktwirtschaft, in deren Rahmen eine staatliche Sozialpolitik ausgebaut wurde. Heute würde es kein/e Wirtschaftspolitiker/in wagen, diesen Slogan als ernsthaftes Versprechen der Wirtschaftspolitik erneut zu formulieren: Eine anwachsende Armut oder zumindest die Angst vor einem sozialen Abstieg auch in der bislang gesicherten Mittelschicht, eine auseinander gehende Schere zwischen Arm und Reich und eine steigende Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse sind nicht die empirische Grundlage dafür, dass ein solcher Slogan Überzeugungskraft entfalten könnte.

Gerade in der Pädagogik ist es jedoch ein anderer Slogan, der eine wichtige Rolle spielt. So veröffentlichte der tschechische Philosoph und Pädagoge Johan Komensky (Comenius) Mitte des 17. Jahrhunderts sein Buch Große Didaktik (2008; zuerst 1657),star (*6) in dessen Mittelpunkt das Versprechen einer „Bildung für alle“ stand.

Man vergegenwärtige sich die Zeit dieser Publikation: Der 30-jährige Krieg, der gerade in Mitteleuropa verheerende Zerstörungen bewirkt hatte, war eben zu Ende gegangen. Allerdings zogen immer noch marodierende Söldnerbanden umher. Es gab eine ungemeine Verrohung und Brutalität unter den Menschen. In sozialer und politischer Hinsicht hatte man es mit einer Ständegesellschaft zu tun, bei der alle ihren durch die Geburt vorgesehenen Platz in der Gesellschaft hatten. Im Hinblick auf die Bildung und Erziehung der Heranwachsenden gab es ein eindeutiges Bildungsmonopol (Alt 1978).star (*1)

Niemand dachte zu dieser Zeit daran, dass alle Menschen einen Anspruch auf Bildung hätten. Kinder mussten von früh auf arbeiten und sich an der Lebenserhaltung der Familie beteiligen. Insbesondere bei Kindern der niedrigen Klassen sah man selbst eine elementare Bildung (Lesen, Schreiben, Rechnen) kaum vor. Höhere Bildung erhielten lediglich diejenigen, die von der Kirche als geeignet für den Priesternachwuchs rekrutiert wurden. Vor diesem Hintergrund war es ausgesprochen mutig und sogar lebensgefährlich, eine demokratische Forderung wie Bildung für alle zu stellen. Denn man wusste es bereits damals: Bildung ist auch eine Machtfrage, ganz so wie es der Zeitgenosse von Comenius, Francis Bacon, formulierte: „Wissen ist Macht.“

Man kann diesen Slogan von Comenius durchaus als Vorläufer der Hoffmann‘schen Forderung verstehen. Denn der verbreitete lateinische Begriff von Bildung war eruditio. In diesem Begriff steckt das Wort rüde oder roh, sodass eruditio wörtlich (unter anderem) Entrohung meint. Dies deckte sich mit dem Denken dieser Zeit. Denn man sah als Ursache für das gewalttätige Verhalten des Menschen und für die Kriege die wilden Triebe im Menschen, gegen die daher anzugehen war: Man glaubte, „den Menschen domestizieren und zivilisieren und das Rohe und Tierhafte durch eine entsprechende Erziehung aus ihm austreiben zu müssen“ (König 1992).star (*19) Mit anderen Worten: Es ging um eine Kultivierung des Menschen, ganz so, wie Cicero den Kulturbegriff der Philosophie eingeführt hat, als er die Pflege des Ackers (cultura agri) mit der Pflege des Geistes, der Philosophie (cultura animi) parallelisierte (siehe zur Entwicklung des Kulturbegriffs Fuchs 2008). Daher waren Bildung und Kultur kaum voneinander zu unterscheiden, und in der Tat hat man beide Begriffe bis ins 19. Jahrhundert oft synonym verwendet. Der Slogan von Comenius „Bildung für alle“ kann in diesem Sinne eben auch als „Kultur für alle“ verstanden werden.

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Alt, Robert (1978): Das Bildungsmonopol. Berlin: Akademie-Verlag.

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Max Fuchs ( 2018): Kultur für alle: Wozu?. Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/kultur-fuer-alle-wozu/