1. Das Prinzip der Provokation …
Der Soziologe Rainer Paris spricht von Provokationen als „Initiativen des Neuaushandelns von Normalität“, die „Legitimität umverteilen und dadurch die Karten im Machtspiel neu mischen“ wollen (Paris 1998: 58). (* 1 ) Doch „was, wenn die Provokation selbst zur Regel geworden ist, wenn sich alle Welt anschickt, mit einem Mainstream zu brechen, der sich stets selbst negiert?“ (Deissner 2008: o.S.) (* 2 ) Dies fragt die Tageszeitung „Die Welt“ im April 2008 anlässlich des Bestsellererfolgs „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche und sieht – parallel zu zahlreichen Literaturrezensionen – den Erfolg des Buches weniger in seiner provokativen Thematik, sondern vielmehr in seiner geschickten Inszenierung als Provokation begründet. Dass das Buch zum Bestseller wurde, so „Die Welt“, verneine jedoch sein provokatives Potential, also eine Wirkung, die auf Veränderung abzielt, da der kommerzielle und enorme Erfolg zeige, dass Provokation keineswegs mehr eine Opposition zum Gegebenen, sondern vielmehr zum Status quo geworden ist: Denn nur der, der das (vermeintlich) Provokative als nicht provokativ empfindet (und zum Kauf schreitet), ist gesellschaftlich integriert. Ganz andere Reaktionen auf Tabubrüche erlebten die Wiener Aktionisten in den 60er Jahren, die damals für ihre – ebenso den Ekel thematisierenden – Kunstaktionen im Gefängnis landeten und Strafgelder zu zahlen hatten.
… in der Kunst der 60er Jahre: Die Wiener Aktionisten als Beispiel
Dass Provokation wesentlicher Bestandteil der Kunst sei, proklamierte bereits Adorno, der damit massiv die Kunstszene der Postmoderne beeinflusste. Vorbereitet durch den Futurismus waren die 60er Jahre Höhepunkt einer Kunstbewegung, die Provokation gezielt einsetzte, um – nach dem Zweiten Weltkrieg und im aufkommenden Wohlstand – gesellschaftliche Strukturen zu thematisieren und aufzubrechen. Als primär österreichische Kunstrichtung, die sich an Entwicklungen in den USA und Deutschland orientierte, ist der Wiener Aktionismus jedoch nur im Zusammenhang mit der historischen Situation der Nachkriegszeit in Österreich zu beurteilen. Nach dem Zweiten Weltkrieges, der Ambivalenz der Rolle des Opfers und des offensiven Akteurs einer nationalsozialistischen Ära, war die Atmosphäre der 50er Jahre von Wiederaufbau und Erneuerung einerseits, andererseits aber auch von Verdrängung und Totschweigen der vergangenen Geschehnisse geprägt. Peter Weibel, selbst Teilnehmer an zahlreichen Aktionen der Wiener Gruppe, wie etwa „Kunst und Revolution“ von 1969, sieht speziell in der künstlerischen Strategie der Provokation eine notwendige Gegenreaktion auf die damalige gesellschaftliche Grundstimmung (vgl. Weibel 2006: 35). (* 3 )
Die Kunst, in ihrem Antrieb gegen eine historische „Opferlüge“ (ebenda) (* 3 ) aufzubrechen, musste – so Weibel – eine Spiegelfunktion einnehmen, und in ihrer Kontroversität zu schmutzigen, ja ekelhaften Mitteln greifen. In erster Linie ist der Wiener Aktionismus also eine Reaktion auf normative Wertvorstellungen, ein Versuch gegen das Vergessen und Stillschweigen aufzubegehren: Geburt und Tod, Blut und Wein, Sexualität und Tabuisierung – mit universaler Thematik zielten die Wiener Aktionisten auf eine „Zertrümmerung des Tafelsbildes“ (Klocker 1989: 19) (* 4 ), dessen Starrheit und In-sich-Geschlossenheit sie parallel zu den Tendenzen des gesellschaftlichen Einmauerns und Verdrängens der 60er Jahre bekämpften. In ihrer Suche nach Auflösung jeglicher Verdrängungsmechanismen ist es der Begriff der „Freiheit“, der sich als zentrales Postulat ihrer künstlerischen Programmatik durch alle Aktionen zieht. In Anlehnung an Sigmund Freud bestand für die Aktionisten Freiheit darin, „den unterdrückten Trieben zu folgen und die Kräfte des Unbewussten zu befreien“. (Ebenda) (* 4 ) Die Durchbrechung alles Unbeweglichen und Statischen basiert auf einer ständigen Auseinandersetzung mit Bildwerten und der Suche nach Freisetzung von Prozessen und Performativität.
Als Aufstand gegen eine „konservative Verdrängungsgesellschaft“ (Weibel 2006: 35) (* 3 ) wollen die KünstlerInnen in der Kunst eine Gegenposition zu einer als elitär und inhaltlich leer verstandenen gestischen, konstruktivistischen Abstraktion einnehmen, setzen dabei auf radikale, direkte, aber auch metaphorisch einzusetzende Trägermedien, universale kontrastierende Themenstellungen und das Mittel der Provokation und des Schocks.
Siglinde Lang ( 2013): Marktstrategie: Kunst!. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/marktstrategiekunst/