… als Werbestrategie: Die Kampagne des Modekonzerns Benetton in den 80/90er Jahren
Dass speziell die Werbung seit jeher ihrer bekannten AIDA-Formel*1 *( 1 ) folgt und dem Gebot der Aufmerksamkeit unterliegt, ist Bestandteil der gesamten Werbegeschichte. Doch der Modekonzern Benetton ist sicherlich das prominenteste Beispiel für Provokation als strategisch eingesetztem Öffentlichkeitsmotor. 1984 startet die Kampagne unter der Leitung des Fotografen Oliviero Toscani. Anfänglich noch subtil produktbezogen – die erste Kampagne „All the colours of the world“ zeigt eine multikulturelle Gesellschaft, um den weltweiten Vertrieb der Marke (mit) zu kommunizieren – rückt das Produkt immer mehr in den Hintergrund. Toscani setzt vielmehr maßgeblich auf Gegensätze und Tabuthemen. Dass er dabei vor allem eine allgemeine – (fast) jeden betreffende – Thematik aufgreift, ist Strategie, um weltweit „eine global wirksame Marke aufzubauen – das bedeutet, dass die Bilder universale Themen behandeln mussten: Leben und Tod, Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Religion, Umwelt“ (Mantle 2000: 197). (* 5 )
Schwarz-Weiß, Mann-Frau, Arm-Reich – die Benetton-Plakate thematisieren eine Welt, die von Kontrasten und Gegensätzen bestimmt wird. Reizthemen, die bis dato dem Tabu der öffentlichen Thematisierung unterlagen, werden bewusst in Szene gesetzt und kontrastiv umgesetzt. Die Polarisierung wird oft mittels eines Farbkontrastes, der das Bild prägt (siehe Abbildung 9), visuell nochmals verstärkt. Nicht (nur) das Sujet ist Vorlage für Auseinandersetzung und Diskurs, sondern auch der Kontrast des Dargestellten.
Oliviero Toscani: Plakatkampagne Benetton (1991-1994)
Das Ziel seiner Werbekampagne bezeichnet Toscani als ein Antreten „gegen die Verdummung der Werbung“ , um zu zeigen „wie die Welt wirklich ist“ (Toscani 1996: 11). (* 6 ) Höchsten ästhetischen Ansprüchen folgend setzt Toscani diese Strategie um, sodass seine Printkampagnen selbst zahlreiche künstlerische Auszeichnungen erhielten. Denn Toscani inszenierte seine Sujets bewusst nach ästhetischen Regeln, zitiert christliche Bildmotive und andere Topoi der Malerei. Er setzt einzig auf die Kraft des Bildes, verzichtet durch die nonverbale Darstellung nicht nur auf die üblichen platitüdenhaften Slogans, sondern auch auf eine Darstellung der beworbenen Produkte.
… als Parameter von Provokation in Kunst (60er) und Werbung (80er Jahre)
Vergleicht man die exemplarisch dargestellten VertreterInnen des Prinzips der Provokation – die Wiener AktionistInnen (60er Jahre) mit Benettons Werbekampagne (80er) – zeigen sich trotz der 20 Jahre Zeitunterschied signifikante Parallelen:
• die universelle Thematik: Die beinahe gleiche Themenpalette wie Hermann Nitsch bzw. die Wiener Aktionisten verwendet Toscani für die Inszenierung der Produktwertewelt von Benetton: Universelle, existentielle Themen, die jeden/jede betreffen und in den Bereich des Mythischen hineinreichen.
• die Kontrastierung/Polarisierung: Die aufgegriffenen Themen werden nicht geschlossen und singulär dargestellt, sondern verweisen stets auf einen übergeordneten, größeren Zusammenhang, der in seiner Polarität dargestellt wird: Tod im Zusammenhang mit Geburt, Sexualität in Verbindung mit Religion, Krankheit in Zusammenhang mit Familie.
• die (Ent-)Tabuisierung: Sowohl die Kunst der 60er Jahre als auch Benettons Werbekampagne greifen stets Themen auf, die bisher dem gesellschaftlichen Tabu unterworfen waren.
• die Definition eines gesellschaftlichen Feindbildes: In ihrem programmatischen Ansatz verweisen beide auf einen klar definierten Kontrapart. So wie sich die Aktionisten gegen eine Gesellschaft der Verleugnung und Verdrängung richten, proklamiert Toscani stets sein Ziel, dass seine Kampagne sich in erster Linie auf die Werbung selbst – und ihre „Scheinheiligkeit“ (Toscani 1996: 37) (* 6 ) – beziehe.
• die Beziehung zur Öffentlichkeit: Benettons Konzept ist primär auf die Reaktion einer breiten Öffentlichkeit ausgerichtet und kann auch nur über die Öffentlichkeit als zentralen Bestandteil funktionieren. Die Wiener Aktionisten (ebenso wie die FuturistInnen, DadaistInnen und AnhängerInnen der Fluxusbewegung) suchen ebenso den breiten öffentlichen Diskurs (z.B. die Wiener Universität) bzw. Raum für ihre Aktionen.
• das Mittel der Diffusion: Dass gezielt Empörung, Unverständnis und Irritation ausgelöst werden, wird durch die oft überzogene, essenzierte Darstellung des Themas ersichtlich.
Im Aufgreifen universeller Themen können die Aktionisten ebenso wie Toscani auch als VorreiterInnen/VordenkerInnen jener Entwicklung angesehen werden, die Norbert Bolz als (markt-)strategische Notwendigkeit der „Mythisierung“ beschreibt. Denn sowohl das von Nitsch aus den Kunststrategien der Aktionisten entwickelte Orgien-Mysterien-Theater als auch die Plakate Benettons erreichten (nicht nur) unter ihrer Anhängerschaft regelrechten Kultstatus.
Heutzutage sind Provokation und Skandal weiterhin zentrale Elemente der aktuellen Kunst- und auch Werbewelt, jedoch eher mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen als einen Werteumbruch zu erreichen. Denn im Gegensatz zum Kontext der Kunstszene der 60erJahre und zur Werbelandschaft der 80er Jahre fehlt für aktuelle Provokationen der Kontrapart des Unprovokativen, der Nährboden eines starren gesellschaftlichen Rahmens, der die Provokation per se verpönt. Der – in den Kunst- und Werbealltag integrierte Skandal – ist nicht mehr „Störung“, sondern „Ereignis“ und fungiert (nur mehr) als „ästhetische Distinktionsstrategie, als Conditio sine qua non“ (Eipeldauer 2006: 57) (* 7 ) – mit einem einzigen Ziel: Aufsehen zu erregen. Heutzutage ist das Verletzen von Regeln selbst zur Regel erstarrtund Tabubrüche sind zum „fixen Inventar der Gesellschaft“ (Paris 1998: 26)
(* 1 ) geworden.