Was tun? Das Verhandeln von Partizipation und das spielerische Öffnen von liminalen Räumen an den Schnittstellen von intervenierender Kunst, kritischer Kunstvermittlung und Forschung

Case Study mit Projektsituationen

Im Folgenden stellen wir zwei Projektsituationen beispielhaft vor, in denen wir mit Strategien der Dekonstruktion, Intervention und Aneignung sowie verschiedenen Vermittlungstools experimentierten. Ziel ist es, unterschiedliche Aspekte des gemeinsamen Verhandelns und Auslotens von Partizipation herauszuarbeiten und Momente der Öffnung spielerischer liminaler Räume in den Blick zu nehmen.

 

Écriture Automatique und das Fragenstellen

„Warum sind die Lehrer da?“ ‑ Diese Frage stellte ein Mädchen im Rahmen der Vermittlungsstrategie „écriture automatique“ in der ersten Projektphase. Etwas zögerlich und mit rotem Gesicht gab sie selbst die Antwort darauf: „Weil sie da sein müssen!“. Ihre Antwort provozierte ausgelassenes Lachen der Mitschüler_innen, Lehrerinnen und von uns. Diese unscheinbare Frage deutet bereits auf ein Hinterfragen des sozialen Miteinanders sowie von Hierarchien und Machtverhältnissen hin, um die es im weiteren Projektverlauf immer wieder gehen sollte.

Die von den Surrealisten entwickelten Methode der „écriture automatique“ (Automatisches Schreiben) adaptierten wir als Fragenspiel und setzten es als Anregung und Hinführung zum kritischen Fragen-Stellen ein: Wir nannten nacheinander Fragewörter (Warum, Wie, Was, Wozu, Wie lange, Wohin, Woher) und die Schüler_innen notierten auf einem Blatt Papier zu jedem davon eine Frage. Danach falteten die Schüler_innen das Papier, sodass die gerade geschriebene Frage verdeckt war und reichten das Blatt an die/den Sitznachbar_in weiter. Wir wiederholten die Abfolge neun Mal – durchwegs mit chaotischen Zwischenrufen, aufgrund von Staubildungen bei der Weitergabe der Zettel, akustisch oder sprachlich nicht verstandener Frageworte oder heiterer Verwirrung über das gerade stattfindende Spiel. Das zuletzt erhaltene Blatt zerschnitten die Schüler_innen in einzelne Papierstreifen, mit jeweils einer Frage darauf. Die Papierstreifen sammelten wir ein und durchmischten sie. Dann zog jede_r nach Zufallsprinzip eine Frage, las diese vor und beantwortete sie. Die Fragen reichten von spontanen Scherzfragen bis hin zu tiefer gehenden Fragen – wie „Warum haben wir Schule?“, „Warum müssen wir das machen?“, „Wozu lernst du?“, „Wie bist du nach Österreich gekommen?“ oder eben „Warum sind die Lehrer da?“.

Diese Vermittlungsstrategie erprobten wir in der ersten Projektphase, um auf ein Hinterfragen von Machtstrukturen hinzuführen und durch das Interaktionssetting einen Austausch auf Augenhöhe erfahrbar zu machen. In dieser ersten Projektphase ging es wesentlich darum, durch die Handlungs- und Diskurssettings den Jugendlichen zu signalisieren, dass es um das Öffnen eines gemeinsamen Diskurs- und Handlungsraums und das gemeinsame Ausverhandeln von sozialen Spielregeln *1 *(1) im Projektprozess geht.

Das Handeln nahm in dieser Übung unterschiedliche Formen an, die sich vom schulischen Lernen durch Frontalunterricht oder auch Gruppenarbeiten (sowie der in Montessori-Schulen üblichen selbstständigen Freiarbeit) durch den spielerischen und lustvollen Charakter unterschieden: Das Schreiben unter Zeitdruck, das Falten des Blattes Papier (um die gerade notierte Frage zu verdecken) und das Weitergeben desselben an die Sitznachbar_in erzeugten eine Dynamik zwischen Denken und Handeln, die auf einfache Art und Weise den Zyklus von Reflexion und Aktion – wie dieser den Aktionsforschungsprozess strukturiert – widerspiegelte und in einer anderen Form erlebbar und nachvollziehbar machte. Dekonstruiert werden konnte dabei die Annahme, dass es nur eine richtige Antwort gäbe, sowie die Angst davor, etwas nicht richtig zu machen – denn die Schüler_innen stellten häufig Fragen wie „Darf ich das machen?“, „Ist das richtig so?“. In diesem Prozess wird momenthaft ein liminaler Raum spielerisch geöffnet.

 

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Der Begriff Spielregeln wird im Sinne Pierre Bourdieus verstanden, der soziale Felder bzw. Räume als „Spiel-Räume“ (Bourdieu 1985: 27, zit. n. Schwingel 1998: 78) definiert und als „autonome Sphären, in denen nach jeweils besonderen Regeln ‚gespielt‘ wird.“ (Bourdieu 1992: 187, zit. n. Schwingel 1998: 78)

Dieser (gekürzte) Beitrag wurde erstmals auf Englisch veröffentlicht in: Conjunctions Conjunctions. Transdisciplinary Journal of Cultural Participation. Vol.3, No. 1, 2016, S. 1-17. http://www.conjunctions-tjcp.com/. Wir danken Elke Smodics und Veronika Aqra für das konstruktive Feedback an dem Beitrag.

Elke Zobl, Laila Huber ( 2018): Was tun? Das Verhandeln von Partizipation und das spielerische Öffnen von liminalen Räumen an den Schnittstellen von intervenierender Kunst, kritischer Kunstvermittlung und Forschung. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/was-tun-das-verhandeln-von-partizipation-und-das-spielerische-oeffnen-von-liminalen-raeumen-an-den-schnittstellen-von-intervenierender-kunst-kritischer-kunstvermittlung-und-forschung/