„Kunst mit politischem Material dann interessant, wenn es neue Formen von Theatralität enthält“
Der Künstler Arne Vogelgesang im Gespräch mit Katharina Anzengruber und Anita Moser*1 *(1)
Der Berliner Künstler Arne Vogelgesang ist seit vielen Jahre im Theater- und Performancebereich tätig. Sein Fokus liegt insbesondere auf recherchebasierten, intermedialen Projekten, die er unter dem von ihm 2005 mitbegründeten Label internil umsetzt. Als jemand, der „Theater mit politischem Material“ macht, setzt er sich mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander, wie etwa mit rechter Propaganda im Internet. Dabei ist der im Zuge seiner künstlerischen Arbeit mit dokumentarischem Material entstehende Aspekt der Aufklärung ein Nebeneffekt, wie er im Interview betont. Ein Gespräch über Gamifizierung in rechten Szenen, die Diskrepanz zwischen Kunst mit politischem Material und politischer Kunst, das ästhetische Mittel des Live Reenactments und dessen Potenzial in Bildungskontexten.
Können Sie kurz skizzieren, was man unter Gamifizierung versteht und wie und wozu sie eingesetzt wird?
Gamifizierung, oder Spielifizierung in der eingedeutschten Variante, bezeichnet in der gängigsten Definition die Übertragung von Spielelementen in spielfremde Kontexte. Das heißt, Strukturelemente aus Spielen – das können sowohl analoge als auch digitale Spiele sein – werden in andere Zusammenhänge übertragen und dort eingesetzt: Formen von Wettbewerb, etwa das Sammeln von Punkten oder das Erreichen gewisser Level; die Fiktionalisierung bestimmter Sachverhalte und deren Vereinfachung; die Einteilung der sozialen Wirklichkeit in bestimmte Gruppen, die gegeneinander aufgestellt sind und miteinander in den Wettstreit treten etc. Damit können bestimmte Effekte erzielt werden.
Der primäre Effekt, der beim Spielen auftritt, ist die Lusterfahrung. Menschen spielen gerne, unter anderem, weil man im Spiel bestimmte Dinge erproben kann, die in der Realität nicht möglich sind, weil Wettbewerb und Kräftemessen möglich sind, ohne dass reale Konsequenzen damit verbunden wären. Das Sammeln von Punkten oder das Erreichen bestimmter Level sind Belohnungssysteme, die bewirken, in eine Art Flow zu kommen und Menschen bei der Stange zu halten. Das sind verschiedene Effekte, die das Spielen prägen und die sich mit Spielmechaniken auch in anderen Bereichen herstellen lassen, in – moralisch gesprochen – sowohl guter als auch schlechter Absicht und mit dementsprechenden Folgen.
Wie erfolgt Gamifizierung im politischen Kontext, um rechtsextreme Propaganda zu betreiben? Sie haben Elemente der Spielmechanik angesprochen. Welche werden dafür übernommen? Können Sie das an einem Beispiel skizzieren?
Es gibt private Twitterräume, in denen die Weiterverbreitung von Propaganda und Angriffe gegen politische Gegner mit fiktiven Währungen mit Anreiz versehen werden. Es gibt Wettbewerbe bis dahin, wer die meisten Menschen tötet. Es gibt narrative, rollenspielartige Rahmungen, die sprachlich enthemmend wirken sollen. Ein kleines Beispiel, wie an bestehende Spielstrukturen angeknüpft wird, ist eine Art Hack der Spielwelt von Pokémon-Go! vor einigen Jahren. Das ist ein Spiel, das Leute dazu bringt, sehr viel in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein, um dort mit einer Augmented-Reality-App fiktive Figuren zu jagen. Dieses Spiel wurde von den Neo-Nazis in den USA genutzt, um möglichst viele Rekrut*innen anzuwerben, und zwar in Trainingshallen, also Gyms, wo gleichzeitig Pokémons waren. Der Gedanke dahinter war sozusagen:„Hier überlagern sich zwei junge Zielgruppen, wir klinken uns mal in dieses Spiel ein.“ Dieses Vorhaben war selbst auch als Wettbewerb konzipiert, als Herausforderung. Die Challenge für alle war: „Ihr legt dort Flyer aus und dann schauen wir, wie viel Return wir haben. Wer am meisten neue Leute bei uns hineinbekommt, bekommt einen Preis.“ Das heißt, sie haben ein Propagandaspiel gemacht, das sich an ein Spiel angedockt hat, das schon existierte und gleichzeitig einen Weg gefunden, damit ihre eigenen Leute zu motivieren. Das war ein bisschen tongue-in-cheek und ironisch gemeint, weil Ironie auch zu den Spielen im weiteren Sinne gehört, die im Internet so wichtig sind. Aber es war trotzdem auch ernst, weil es ja tatsächlich gemacht wurde.
Welche Rolle spielt das Internet im Kontext von Gamifizierung? Ist das Phänomen ein eher internetspezifisches?
Ich bin mir nicht sicher, ob es ein internetspezifisches Phänomen ist. Menschen spielen schon seit sehr langer Zeit und dass Spielelemente übertragen werden, ist auch nicht neu. Allerdings sind wir seit mindestens einem Jahrzehnt mit einer gigantischen Spielekulturindustrie konfrontiert, die massive Umsätze macht und Spiele zu einer neuen Art von Leitkultur erhoben hat. Das ist eine digitale Kultur, die sehr stark im Internet verankert ist. Und die neu gebauten digitalen Infrastrukturen im Internet bauen hochgradig auf Mechanismen der Spieleindustrie auf.
Sogenannte soziale Plattformen wie Facebook, die mit Likes, also mit Aufmerksamkeitsökonomien operieren, verwenden Elemente aus dem Spielebereich. Über die Reaktionen der Viewer kann man Aufmerksamkeit sammeln und sich mit anderen vergleichen und messen. Das entfaltet einen spielähnlichen Sog. Bei jenen, die professionell auf Social Media arbeiten – auch politisch – besteht deswegen auch ein Wettbewerb darum, wer beispielsweise die Such- und Empfehlungs-Algorithmen von Plattformen und ihre kollektiven Dynamiken erfolgreicher „gamen“ kann. Aktionen im öffentlichen Raum oder auch parlamentarische Debatten können als Bühne für virale Clips benutzt werden, benutzen Teile der Offline-Welt also als eine Art Spielumgebung für reale Effekte in der Online-Welt. Gerade in diesem sozialmedialen Bereich hat meiner Meinung nach das Internet deutlich zu einer Spielifizierung von Politik beigetragen.
„Soziale Plattformen sind Imitationen von realem Sozialverhalten, die aber viele Möglichkeiten ausblenden, um andere zu verstärken.“
Wie sehen Sie die Verbindung zwischen rechtsextremer Internetpropaganda und realer Welt? Wer wird damit erreicht bzw. ist dafür besonders empfänglich? Gibt es bestimmte Dynamiken zwischen Spielewelten und realer Welt?
Wenn wir über diesen Zusammenhang sprechen, müssen wir mitdenken, dass das Internet Teil der realen Welt ist und reale Effekte erzielt. Die Fiktion liegt eher im Bereich der Spielrahmen, die sowohl digital als auch analog auftreten können und das auch tun. Ich glaube, diese Bereiche beeinflussen sich von jeher gegenseitig. Viele Strukturen im Internet basieren hauptsächlich darauf, reale Verhältnisse zu repräsentieren, oft in vereinfachter Form, indem etwa bestimmte Dinge weggelassen und andere verstärkt werden. Soziale Plattformen sind Imitationen von realem Sozialverhalten, die aber viele Möglichkeiten ausblenden, um andere zu verstärken. Damit funktionieren sie als das, was sie in erster Linie sein wollen: Werbeplattformen, die Geld verdienen.
Empfänglich für rechtsextreme Propaganda sind potenziell erst mal alle. Sie richtet sich in ihrer Weltsicht nicht notwendigerweise an bestimmte Gruppen, aber sie hat in den letzten Jahren sehr daran gearbeitet, ihre Zielgruppenansprachen vielfältiger und passgenauer zu machen: für Leute, die bestimmte Erfahrungen gemacht haben, die sie für diese ideologischen Inhalte empfänglicher machen; für solche, die diesen Inhalten grundsätzlich zugeneigt sind, weil sie zum Beispiel so erzogen wurden; aber auch für jene, deren Unzufriedenheit durch gezielte Anschmiegung an ihre Lebenswelt radikalisiert werden kann. Wichtig dabei ist – wie bei den meisten politischen Kulturen – eine Art von Community-Building. Das ist im Internet etwas leichter, funktioniert aber so wie im sogenannten realen Leben auch. Es wird gezielt in bestimmte Communities hineingegangen, um sie zu beeinflussen, zu politisieren und nach rechts zu rücken.
Es gibt mittlerweile auch Forschung dazu, wie auf diese Weise gezielt in Spieler*innen-Communities Propaganda gemacht wurde und wird. Das ist nicht sonderlich überraschend, weil die Spieleindustrie eine sehr große Kulturindustrie ist, innerhalb derer sich viele Communities und Szenen entwickelt haben. Wie anderswo auch, gibt es dort rechtsradikale Propaganda und Menschen rechter Gesinnung. Ich bin aber vorsichtig mit der Aussage, gerade in Spielekulturen würden viele Menschen besonders empfänglich für rechtsextreme Einflüsse sein. Ich glaube nicht, dass das unbedingt der Fall sein muss.
Wir hatten es in den Anfangszeiten mit einer recht stark männlich geprägten Kultur zu tun, was, glaube ich, zum großen Teil damit zu tun hatte, welche Spiele produziert wurden, wen diese angesprochen haben, was kulturell sanktioniert war, was nicht und wem nahegelegt wurde, sie zu spielen. Das war ein Jungs-Hobby, aus welchen Gründen auch immer. Diese Überzahl an männlichen Spielern hat sich auch auf die Spielekulturen ausgewirkt und tut es nach wie vor. Das sind Kontexte, in denen es Menschen, die rechtsextreme Propaganda betreiben wollen, leichter haben, jemanden zu erreichen, weil ihre ideologischen Inhalte traditionell sehr patriarchal und im Kern frauenfeindlich sind. Sie sprechen eher Männer als Frauen* an, allerdings nicht ausschließlich.
Ich finde, es gibt zwei Bereiche, die man bei den Diskussionen trennen sollte. Das eine sind die Spiele selbst und das andere sind die Communities, die sich darum bilden. Es kann über lange Propagandaarbeit eine Politisierung von tatsächlich radikalen und politischen Communities geben, die nicht auf eine bestimmte Art und Weise dafür geprimed waren, sich nach rechts ideologisieren zu lassen. Da werden bestimmte Schwächen, bestimmte Elemente, bestimmte Zusammenhänge ausgenutzt, die Ansatzpunkte dafür bilden, Propaganda zu machen. Es gibt aber auch einiges, was an Spielen, Spielinhalten und Darstellungen in Spielen selbst zu kritisieren ist und da ist in den letzten Jahren auch viel passiert.
„Speziell in spielifizierten Kontexten ist das Problem das der Uneigentlichkeit, die regiert. ‚Ist es Spiel? Ist es Ernst? Ist es beides?‘“
Sie haben in Ihrem Vortrag Beispiele dafür genannt, wie schwierig es ist, rechte Propaganda im Internet zu bekämpfen. Vor allem auch die Gamifizierung rechter Politik. Können Sie kurz skizzieren, was es so schwer macht?
Es sind verschiedene Dinge, die es erschweren, rechte Propaganda zu bekämpfen. Sie müssen nicht zwingend etwas mit dem Internet zu tun haben. Für ein bestimmtes, sagen wir verkürzt „liberales Mindset“ ist es wahnsinnig schwierig, mit Leuten umzugehen, die kein demokratisches Gespräch führen wollen. In einer eher zentristischen Ideologie gehört es zur Vorannahme, dass es so etwas wie einen rationalen gesellschaftlichen Diskurs gäbe, in dem alle ihre Argumente austauschen und sich dann irgendwann friedlich miteinander einigen und Verträge schließen würden. Diese Menschen tun sich sehr schwer damit, zu begreifen und damit umzugehen, dass es andere Menschen gibt, die zwar Aussagen treffen, die wie Argumente klingen und die sich sehr gut an diese Mimikry eines demokratischen Diskurses anschmiegen können, die aber kein Interesse daran haben, ihn wirklich zu betreiben, sondern andere Ziele verfolgen.
Ein Austausch von Argumenten müsste auch die Reflexion der eigenen Position miteinbeziehen, was auch in nicht extrem rechten Bereichen nicht so weit verbreitet ist, wie man gerne glauben möchte. Einfach anzugreifen ist viel leichter, als seine eigene Argumentationslinie zu hinterfragen. Es geht schnell, die immer gleichen inhaltlichen Hülsen zu platzieren und bei dieser Gelegenheit den anderen genau das vorzuwerfen. Gegenrede zu betreiben, wenn man dem Glauben anhängt, man müsste Inhalte widerlegen, ist im Vergleich deutlich schwieriger, zeitaufreibender und kraftraubender. Im Internet ist das besonders schwer, denn Unsinn ist schneller in die Welt gesetzt und Memes sind schneller gepostet als etwas begründet dagegen Gesagtes. Speziell in spielifizierten Kontexten ist das zusätzliche Problem das der Uneigentlichkeit, die regiert. „Ist es Spiel? Ist es Ernst? Ist es beides?“ – Das ist oftmals nicht eindeutig.
Welche Strategien bzw. konkrete Initiativen gibt es, dagegen vorzugehen? Gibt es überhaupt Möglichkeiten des Widerstands?
Es gibt immer Möglichkeiten des Widerstands. Solange wir die Frage noch stellen können, ist es schon mal gut. Ich bin allerdings kein Experte, was diese Seite betrifft, weil ich sozusagen aufgrund einer etwas morbiden Faszination mehr Beobachtung der „dunklen“ Seite betrieben habe, als dass ich mich mit der anderen auseinandergesetzt hätte. In Deutschland gibt es aber beispielsweise die Initiative Keinen Pixel den Faschisten.*2 *(2) Im Rahmen dieser Initiative vernetzen sich Menschen, die im Bereich der Spieleproduktion arbeiten, um Gegenrede zu betreiben. Darüber hinaus gibt es sehr viele, teilweise lokale, teilweise überregionale Initiativen, die Propaganda und extreme Politik im Internet beobachten, dokumentieren und darüber aufklären. Nicht mit einem Schwerpunkt auf Spiele und Spielekulturen, aber das ist auch – und zunehmend mehr – mit im Fokus.
„Ich mache Theater mit politischem Material. (…) Es handelt sich um künstlerische Strategien, die über bestimmte politische Sachverhalte aufklären.“
„Theater kann nichts vermitteln, sondern vermittelt, was vorher vermittelt wurde.“ „Theater macht den Kollaps der Welt konsumierbar.“ Das sind Sätze, die Sie sinngemäß kürzlich in einer Performance gesagt haben. Die gegen Ende aufgeworfene Frage, was Theater angesichts aktueller Entwicklungen tun könne, wird zwar mit dem Stücktitel Es ist zu spät beantwortet, aber auch an das Publikum weitergereicht. Wir möchten sie an Sie zurückspielen mit Blick auf Gamifizierung von radikaler rechter Politik: Was können Kunst und Theater tun? Können Sie dazu etwas auf Basis Ihrer eigenen künstlerischen Arbeit und Erfahrungen sagen?
Ich glaube, das liegt letztlich an den Leuten, die Theater machen und was sie damit wollen ‑ also welchen Zweck sie in ihrer Kunst sehen. Irgendwas tun kann man immer. Sie zitieren hier aus einem Stück, das ich als Produktion eines YouTube-Videos und Aufkündigung des Theaters inszeniert habe. Es ist dieser Rant eingebaut, den man wahrscheinlich, wenn man ihn auf YouTube posten wollte, Die Zerstörung des Theaters oder so nennen müsste. Die Produktion selbst ist ja auch Theater und endlich aufzuhören mit dem Theater ist ein sehr alter Topos im Theater, mit dem gerne kokettiert wird.
Im Vergleich zu globalen kulturellen Phänomenen, wie wir sie mit Netz- und Spielekulturen auffinden, ist das Theater ein altmodisches und recht beschränktes Medium. Sowohl was die Zahl des Publikums als auch was die gesellschaftlichen Schichten, die in der Regel damit angesprochen werden, angeht. Wenn Theater dezidiert politisch wird, verliert es darüber hinaus auch große Teile des klassischen Zielpublikums. Und noch einmal mehr, wenn es sich – so etwa im migrantischen oder postmigrantischen Theater – aus Betroffenen-Perspektiven mit den Mitteln des Theaters politisch positioniert. Dann wird es schwieriger, überhaupt noch als Kunst wahrgenommen zu werden von denen, die ihre eigenen politischen Haltungen im Theater vergessen wollen und können, weil sie „normal“ sind. Dazu bleibt auch, zumindest für mein Empfinden, eine Spannung zwischen dem, was man als Vorgehensweisen oder Modus Operandi von Kunst einerseits und politischem Handeln andererseits setzen würde. Ich habe das Gefühl, dass sich diese Modi relativ stark widersprechen.
Während die Kunst, gerade im Theater, Komplexität, Uneindeutigkeit, Ambivalenz oder Aufschub von Entscheidungen zum Thema macht, oder diese sogar zum eigenen Wesenskern erhebt, geht es in der Politik oft um entgegengesetzte Dinge. Man will Ergebnisse haben, Erfolge verzeichnen, andernfalls ist es kein politisches Handeln. Dazwischen ist ein Bereich, in dem ich mich mit meiner Arbeit in den letzten Jahren verortet habe: Ich mache Theater mit politischem Material. Das ist nicht unbedingt „politisches Theater“, weil ich dabei keine politischen Zielsetzungen habe. Es handelt sich vielmehr um künstlerische Strategien, die über bestimmte politische Sachverhalte aufklären. Dieser Aufklärungsaspekt selbst ist vielleicht nicht unbedingt ein künstlerischer oder kunstinhärenter, aber ein Nebeneffekt, wenn man mit dokumentarischem Material arbeitet.
Wie mir von Leuten, die meine Produktionen gesehen haben, berichtet wurde, zeigte dieser Aspekt wohl auch Wirkungen. Diese Wirkungen würde ich aber stets als begrenzt ansehen, alleine aufgrund der begrenzten Zahl des Publikums. 100 Leute aufzuklären, die zum Großteil ohnehin schon aufgeklärt sind, ist ja keine so große Leistung. Insofern würde ich als jemand, der Kunst betreibt, die Kunst nicht so hoch oben auf der Liste der Dinge ansetzen, die wir unbedingt tun sollten, um politische Veränderungen anzustoßen. Aber es gibt genug Möglichkeiten, Kunst produzierend tätig zu sein und sich nebenher politisch zu engagieren, so wie das andere Leute auch neben ihren Berufen machen. Dem gewissen Zwang, mit dem man in der Kunstproduktion immer konfrontiert ist, alles, was man machen will, in seine Kunst hineinzugießen – in dieses große gefräßige Tier – dem kann man ja auch widerstehen. Und es passiert ja glücklicherweise tatsächlich, dass Künstler*innen und Kunstschaffende sich als Mitglieder der Gesellschaft politisch positionieren und sich auch mit anderen Berufsgruppen vernetzen, um aus dieser Blase herauszukommen.
„Sobald ich ins Internet gehe, das heißt, so etwas wie Online-Theater machen will, ist es noch mal virulenter, wer überhaupt Zugang hat und wer nicht.“
In Ihren Produktionen spielen multimediale Möglichkeiten eine große Rolle. Schränkt der damit verbundene große technische Aufwand nicht stark ein, da mit bestimmten Gruppen oder auch größeren Theatern zusammengearbeitet werden muss, um die Stücke umsetzen zu können?
Nicht nur, wenn ich mit technischen Mitteln Theater mache, muss ich zuerst darüber nachdenken, wen ich damit ausschließe. Wobei ich bisher als jemand, der freies Theater macht, ohnehin immer in der Position war, dass nicht so viele Leute gekommen sind. Insofern war die Breitenwirksamkeit nie im Fokus. Ich hatte aber auch einen blinden Fleck, da ich als jemand, der glücklicherweise mit recht vielen Privilegien und Funktionen durch das Leben gehen kann, über viele Dinge nicht nachdenken musste. Eine aufwändige Rundumprojektion zum Beispiel ist für blinde oder schlechte sehende Menschen wenig eindrucksvoll. Auf die Tatsache, dass manche Leute sich nicht mehr so gut auf den Boden setzen können, bin ich gestoßen, weil meine Mutter zu Stücken gekommen ist und Probleme mit dem langen Herumstehen hatte. Wenn wir mittels multimedialer Mittel auf der Bühne sind, ist es gleichzeitig eine Erweiterung, in den ökonomischen Kosten aber eine Beschränkung. Dass ich zusätzlich auch mit Bildmaterial und Projektionen arbeiten kann, erweitert mein Repertoire. Es bringt aber auch Formeinschränkungen mit sich, mit denen man umgehen muss. Durch Einschränkungen entsteht meines Erachtens überhaupt erst Kreativität. Deswegen ist es auch ein Mittel in der Kunst, sich bestimmte Dinge hineinzuholen, die Probleme machen, weil man mit den Problemen dann arbeiten kann.
Sobald ich ins Internet gehe, das heißt, so etwas wie Online-Theater machen will, ist es nochmal virulenter, wer überhaupt Zugang hat und wer nicht. Für wen ist es eine Herausforderung, sich ein YouTube-Konto zu erstellen und zu verstehen, wie das funktioniert, und für wen nicht? Was mich im Moment interessiert, ist VR, also Virtual Reality für Theater, weil es durch seine räumlichen und körperlichen Effekte ein großes Potenzial bietet. Es sind aber sehr wenige Leute, die da teilnehmen können. Wenn ich so etwas mache, kann ich mir nicht einbilden, dass ich es für alle mache, und damit muss ich einverstanden sein. Das ist auch eine politische Entscheidung, die ich dann treffe. Oder eine politische Entscheidung, die im Widerspruch zum künstlerischen Interesse steht.
„Ein Problem ist, dass es gar nicht so leicht ist, sich erstmal darüber zu verständigen, was gemeint ist, wenn Leute ‚politisch‘ sagen.“
Nochmal zurück zu Theater und Politik: Sie machen unter dem Label internil Theater mit politischen Inhalten, würden dabei aber nicht von politischem Theater sprechen. In einem Ihrer Texte schreiben Sie, das Adjektiv „politisch“ sei im Zusammenhang mit Kunst zu einem moralischen Gütesiegel geworden und politische Kunst oft auch von einer politischen Kläglichkeit gegenzeichnet. Ist dieses Adjektiv im Kontext von Kunst möglicherweise obsolet?
Ein Problem daran ist, dass es gar nicht so leicht ist, sich erst mal darüber zu verständigen, was gemeint ist, wenn Leute „politisch“ sagen. Das ist ein Problem, das sich vergrößert. Ich kann über andere Kunstbereiche wenig sagen, weil ich eher aus dem Theater komme, also spreche ich darüber. Es gab eine Zeit, in der „politisch“ eine Art Modelabel war, das sich hauptsächlich auf bestimmte Inhalte und Gesten bezog, die performt wurden. Es ging nicht unbedingt darum, dass damit konkret außerhalb der Kunst politische Ziele verfolgt oder erreicht wurden. Das trifft beileibe nicht auf alle Künstler*innen zu. Einigen ging es in ihren Produktionen sehr wohl darum, politische Kunst zu machen und für diese Fälle halte ich die Bezeichnung auch für legitim und zutreffend.
Daneben gab es aber eben auch viel Gepose. Einfach, weil es chic war, „politisches Theater“ zu machen. Das ist eine Diagnose, die ich vor etwa sechs oder sieben Jahren, vielleicht etwas früher, gefällt habe. Das hat sich, wie ich finde, mittlerweile geändert. Einerseits gibt es eine Entwicklung analog zu dem, was wir im Internet sehen, von der ich glaube, dass sie sich verstärken wird: Es gibt zunehmend mehr Community-Bezogenheit oder Zielgruppenspezifität im Theater. Indem man genauer weiß, wen man mit welchen Inhalten anspricht, ist dieser Form des Theaters ein politisches Moment inhärent. Was darüber hinaus in bestimmten Teilen des Theaters relativ stark geworden ist, sind Prinzipien von Empowerment oder Selbstbestätigung. Die goldenen Zeiten des politischen Geposes erfolgten, bevor das anfing, was wir verkürzt „Rechtsruck“ nennen. Seitdem ist alles ein bisschen konkreter geworden, weil die Gefahren deutlicher sichtbar werden.
Es gibt auch, so mein Eindruck, mehr gesellschaftspolitische Positionierungen im Theater, unter Theater- und Kunstschaffenden und darüber hinaus. Den Ansprüchen, die damit einhergehen, gerecht zu werden, ist aber kein leichtes Unterfangen. Wenn ich mich gegen radikal rechte Angriffe auf den Kulturbetrieb wehre und sage: „Wir stehen für eine plurale Gesellschaft, für Gleichberechtigung von Menschen und all diese Werte ein“, dann muss sich das in meinem Handeln auch widerspiegeln. Teilweise gelingt das Kunstschaffenden auch, weil es ihre Lebensrealität ist ‑ gerade in Bereichen wie Tanz oder Musik, die sehr international sind und wo es absurd wäre, nationale Grenzen dicht zu machen oder „völkische“ Programme zu fahren.
Was die Repräsentationsaufgaben von Gesellschaft angeht, hinkt das Theater, vor allen Dingen das städtisch-staatliche, hinterher und muss in dem Moment, in dem es sich politisch positioniert, diesen mehr gerecht werden. Das ist, glaube ich, eine gute Sache. Gleichzeitig wäre es kurzsichtig anzunehmen, dass mit einer „Benettonisierung“ der Kunstlandschaft alles getan wäre. Es gibt zunehmend Gruppen innerhalb der radikalen Rechten, die ganz gut damit klarkommen, wenn ethnische Diversität existiert, solange ihre anderen Inhalte darin weitergetragen werden können.
Rechte beschreiben und argumentieren ihr Tun und Handeln oft mit ehemals linkem Vokabular, zum Beispiel wenn sie sich als Aktivistinnen, Aktivisten bezeichnen, auch mit Begrifflichkeiten aus der Kunstwelt, wie etwa Überhöhung, ironische Brechung oder ästhetische Intervention.*3 *(3) Wie können Theater und Kunst dem begegnen?
Die Technik der Aneignung von bestimmten Begriffen ist eine Form von Travestie, die auch ein Spiel enthält, nämlich das ironische Spiel, sich gleichzeitig über die Gegner*innen lustig zu machen, indem man ihre Begrifflichkeiten für das eigene Handeln verwendet. So, wie man gleichzeitig den Gegner*innen das eigene Handeln vorwirft, um es bei sich selbst unsichtbar zu machen. Das ist ein ganz normaler Teil des politischen Kampfes, aber auch Ausdruck davon, dass der Rechten nichts Neues einfällt. Das Schmarotzen an der Ideenwelt ihrer Gegner*innen und die Maskerade mit ihnen wird dann zum Problem, wenn die Bestohlenen die Vision hinter ihrem eigenen Vokabular nicht auch anders vermitteln können.
Gerade die Kunst sollte sich in Bezug auf die Anspruchshaltung auf ihre Begriffe entspannen. Denn Kunst muss ja nicht per se links oder progressiv sein. Auch Nazis haben Kunst gemacht. Die kann man schlecht finden, aber Kunstproduktion ist ja nun wirklich kein Privileg von nicht-rechten Menschen. Insofern: Warum sollte es keine rechtsradikalen ästhetischen Interventionen geben? Ich finde, man sollte weniger die Reinheit der Kunst gegen eine Okkupation durch unliebsame politische Gruppen verteidigen, als deren politische Inhalte zu bekämpfen.
„Ich denke, dass man bestimmte Erfahrungen machen muss, um darüber zu sprechen.“
Recherche-basierte Praktiken sind seit einigen Jahren fixer Bestandteil in performativer und bildender Kunst. Bei Ihnen scheint es bei den Recherchen eine besondere Intensität zu geben, indem Sie oft über längere Zeit in Szenen und Milieus eintauchen, teilweise Lifestyles nachahmen, wie zum Beispiel Breiviks Fitnesswahn. Was macht das mit Ihnen? Und wie wirkt es sich auf Ihre Kunst aus?
Ich glaube, das ist eine Art seltsam konventioneller Method-Acting-Ansatz bei mir. Ich denke, dass man bestimmte Erfahrungen machen muss, um darüber zu sprechen. Sie sagen, dass ich eintauche in Szenen und Milieus, aber ich betreibe Internetrecherche – primär tauche ich also in meinen Computer ein. Es gibt tatsächlich Leute, die für Recherche undercover irgendwohin gehen, real mit Menschen sprechen oder in Szenen hineingehen. Das ist eine ganz andere Arbeit, die ganz andere Gefahren mit sich bringt und vor der ich hohen Respekt habe.
Zuhause vor dem Computer zu sitzen und sich sehr viel von dem Zeug anzusehen, ja, das macht auch etwas mit einem. Ich finde, die Effekte sind, auf lange Sicht, vor allem jenseits der Kunstproduktion beunruhigend. Man bekommt einen Tunnelblick, wenn man sich primär damit beschäftigt hat. Es ist sehr schwierig, im Blick zu behalten, was sonst noch alles auf der Welt passiert – etwa sich dessen bewusst zu sein, dass die Nazis nicht in der Überzahl sind. Aber das könnte ja auch Grund für Hoffnung sein. Ich bin sehr sensibel dafür geworden, was die Rückübernahme oder das Diffundieren von bestimmten Begriffen, Redewendungen und Argumentationsweisen angeht.
„Ich teile mit vielen Leuten, die Kunst produzieren, eine gewisse Faszination für das, was in Anführungszeichen „extrem“ oder „nicht normal“ bzw. nicht gewöhnlich ist. Das sind ja letztlich immer die Stoffe für das Theater gewesen.“
Was treibt Sie an, an so schwierigen und belastenden Themen wie Rechtsextremismus im Internet dranzubleiben?
Die Motivation für mich, mit der Arbeit anzufangen, lag in einer Mischung aus der Bedeutung für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die auch schon vor einer Weile ablesbar waren. Breivik ist mit dem, was er gemacht hat, nicht aus Zufall ganz oben im Pantheon des rechtsradikalen Terrors – als frühes extremes Beispiel dafür, was kommen würde und gekommen ist. Das ist auch etwas, das mir als jemand, der Kunst macht, sagt: „Da haben wir etwas, das wichtig ist und deswegen repräsentiert werden muss, weil es ein bedeutsamer Teil von Wirklichkeit ist und zukünftig möglicherweise noch bedeutsamer sein wird.“
Die andere Seite davon ist, dass ich mit vielen Leuten, die Kunst produzieren eine gewisse Faszination für das teile, was in Anführungszeichen „extrem“ oder „nicht normal“ bzw. nicht gewöhnlich ist. Das sind letztlich immer die Stoffe für das Theater gewesen: Die Ausnahmeerscheinungen und diejenigen, die jenseits der akzeptierten Grenzen von dem sind, was wir normal nennen, und die das Machtverhältnis gesellschaftlicher Repräsentation infrage stellen, was ja kein Privileg der Linken ist.
Diese beiden Dinge haben sich in meiner Arbeit teilweise miteinander vermischt. Dazu kommt: Ich habe im Rahmen meiner Recherchen viel Material gesammelt und das riesige Problem, dass die Realität von Propaganda im Netz ganz viel mit der Fülle an Material und der Dauer, über die man sich damit auseinandersetzt, zu tun hat, sodass man sich selbst dort sehr schnell verlieren kann. Die Radikalisierung online kalkuliert auch mit diesem Sturz in die Kaninchenlöcher alternativer Wahrheiten. Das ist in Theatervorstellungen, die ein oder zwei Stunden dauern, sehr schwer abzubilden. Was also tun? Aus dieser Frage heraus entsteht das nächste Stück, und dann das folgende.
Ich bin mittlerweile aber an einem Punkt, wo ich das Gefühl habe, nicht noch mehr Stücke über Nazis im Netz produzieren zu wollen, denn viel Interessantes ist dazu künstlerisch nicht mehr zu sagen. Das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem noch Aufklärung jenseits von Theater betreiben könnte. Aber als jemand, der Kunst mit politischem Material betreibt, ist das für mich nur dann interessant, wenn dieses Material auch neue Phänomene enthält, zum Beispiel neue Spielweisen oder andere Formen von Theatralität, als ich bisher gesehen habe.
„Es gab so vieles in dieser Zeit, von dem es sehr wichtig gewesen wäre, es stärker zu thematisieren. Wir haben bei vielem nicht geschafft, das in diesen Frame zu bringen. Das fand ich persönlich und politisch frustrierend.“
Weist Ihr jüngstes Stück in eine andere, neue Richtung? Gemeinsam mit Marina Miller Dessau inszenierten Sie während des coronabedingten Lockdown Ihr Dasein im abgeschotteten Home-Office via Live-Stream und produzierten darauf basierend Videos. Worum ist es Ihnen in diesem Stück gegangen?
Wir hatten eigentlich vor, ein Stück auf einer Bühne zu machen und dann ist uns das Gleiche passiert, wie allen anderen am Theater auch. Da ging plötzlich nichts mehr. Ich glaube, wir unterlagen dem gleichen psychischen Stress wie der Großteil der Kulturschaffenden, nämlich zu denken: „Unsere Bühnen werden geschlossen, was sollen wir jetzt tun? Wenn wir nichts produzieren, existieren wir de facto nicht mehr, weil wir als künstlerisch Produzierende davon leben, wahrgenommen zu werden. Ganz abgesehen davon bekommen wir ökonomische Probleme. Das Theater ebenso. Wir müssen doch irgendetwas machen. Können wir dafür irgendwie das Internet nutzen?“ Wir dachten uns, nach jahrelangen Theaterproduktionen über Phänomene im Internet wäre es für uns an der Zeit, den Fuß in das kalte Wasser zu strecken und zu schauen, ob man auch im Internet Theater machen könnte. Ich selbst habe jahrelang behauptet, dass die Leute dort eigentlich nur Theater spielen würden. Warum das nicht auch selbst machen? Sehr weit haben wir uns nicht getraut. Wir haben Videos produziert. Im Grunde war das von Arbeitsweise und Material her gar nicht viel anders als vorherige Produktionen – nur dass wir uns selbst mehr als eine Art Filter und Gegenstand der Beobachtung gesetzt haben.
Für den Anfang hatten wir nicht viel mehr, als die Prämisse, zu sagen: „Uns geht es wie sehr vielen. Wir schließen uns ein und können nicht hinaus. Wir stellen uns selbst als prototypische deutsche Subjekte vor und fiktionalisieren dieses Verhältnis, in dem wir uns mit- und zueinander befinden. Wir geben uns Figurennamen dafür und überlegen, wie diese Figuren sich in dem verhalten, was wir ihnen aufsetzen.“ Das waren dann Heiko und Sandra, das deutsche bildungsbürgerliche Paar in seiner Wohnung in Berlin. Dann gingen die ‚Hygienedemonstrationen‘ los. Da sind wir einmal hingegangen, um uns ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Wir haben auch gefilmt. Es hat sich herausgestellt, dass vieles dieser politischen Bewegung auf den Straßen über Internetorganisation lief. Darüber kam mir sehr schnell der Gedanke, in dutzenden Telegram-Gruppen nachzuverfolgen, wie die Kommunikation dort abläuft, was ausgetauscht wird, was deren Videoproduktionen sind und wie sich die Initiatoren inszenieren. Das wurde dann in der letzten Folge auch zum größeren Teil des Stücks selbst.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, was ich mit der Diskrepanz zwischen Kunst mit politischem Material und politischer Kunst meine. Denn vieles von dem, was wir gemacht haben, ist auf einer oberflächlichen Ebene, politisch gelesen, extrem unbefriedigend. Wir sind Mann – Frau, deutsches bürgerliches Paar, und genau das repräsentieren wir in dieser Produktion. Wir waren sehr auf eine vermeintliche Normalität bezogen – vielleicht, weil die Situation so außergewöhnlich war. Dabei gab es so vieles in dieser Zeit, von dem es sehr wichtig gewesen wäre, es stärker zu thematisieren. Wir haben bei vielem nicht geschafft, das in diesen Frame zu bringen. Das fand ich persönlich und politisch frustrierend. Dass wir zum Beispiel nicht über die Lage an den EU-Außengrenzen reden konnten. In diesem ganzen Chaos, in dem wir waren, hätte das künstlerisch und dramaturgisch keinen Sinn gemacht. Trotzdem wäre es wichtig gewesen.
Das, was wir produziert haben, die ironischen Layers, die Distanz, die wir zu uns selbst haben und die Figurensetzungen, die wir gemacht haben, kann man auch als eine total reaktionäre Produktion lesen. Das ist etwas, das mich an dieser ad-hoc entstandenen Arbeit ein bisschen stört, für die wir keine lange Vorbereitungszeit hatten, auch keine Reflexionszeit darüber nachzudenken, was wir eigentlich produzieren und was nicht. Auf einer anderen Ebenen finde ich persönlich sehr passend und auch lustig, was wir gemacht haben. Heiko und Sandra, die versuchen, mit Meditation und Pseudoradikalismus sich dieser Situation zu widersetzen und sie zu verstehen. Das ist die Janusköpfigkeit an solchen Arbeiten.
„(…) ein Mittel, das gut zur Perspektivübernahme in der kulturellen oder politischen Bildung taugen könnte, wenn man es schafft, mit dem Vorgang umzugehen, dass Dinge aus dem eigenen Mund kommen, die man sonst vielleicht nicht so sagen würde.“
Sie arbeiten im Theater- und Performancekunstbereich, halten Workshops, Vorträge und sind beratend tätig. Wie verbinden sich diese Bereiche miteinander? Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Arbeiten Sie zum Beispiel in Workshops auch mit künstlerischen Mitteln?
Das ist unterschiedlich. Ich habe einerseits Workshops gegeben, die relativ nahe an einem aufklärenden Vortragsformat sind. Ich habe mit meiner Kollegin Marina Miller Dessau auch Workshops im Kontext von Theaterwissenschaft und Theaterpädagogik gegeben, in denen wir mit künstlerischen Mitteln gearbeitet haben, und wo es auch um diese künstlerischen Strategien selbst ging. Das muss ich vielleicht erklären: Der Umgang mit dem dokumentarischen Material, das wir recherchiert haben, besteht seit vielen Jahren darin, dass wir die Videodokumente im Theater live reenacten.
Unser künstlerisches Verfahren als Performer*innen ist es also, die zusammengeschnittenen und collagierten Dinge, die wir recherchiert und in einen dramaturgischen Zusammenhang gebracht haben, mit technischen Mitteln einzuspielen und mit einer Sekunde Verzögerung nachzusprechen. So schlagen wir die Brücke zwischen Dokument und Gegenwart, zwischen Netz und Theaterraum, mit unseren eigenen Spielkörpern. Das ist das, was wir für viele Jahre gemacht haben und in Workshops als Technik vermitteln. Diese kann nicht nur im Theater eingesetzt werden, sondern wäre auch ein Mittel, das gut zur Perspektivübernahme in der kulturellen oder politischen Bildung taugt, wenn man es schafft, mit dem Vorgang umzugehen, dass Dinge aus dem eigenen Mund kommen, die man sonst vielleicht nicht so sagen würde. Das braucht aber Zeit, damit die Teilnehmer*innen Gelegenheit haben, sich Material anzuschauen, zu überlegen, womit sie wie arbeiten wollen und was möglich ist.
Das sind künstlerische Workshops, aber daneben gebe ich auch aufklärend-informative. Das geht dann eher in die Richtung Vortrag – wie den, den ich für Sie gehalten habe. Denn sobald die Zeit zu knapp für tatsächliches Arbeiten ist, finde ich, dass man mit Infos ganz gut beraten ist. Ich versuche dann die Vermittlung kurzweilig und mit vielen Beispielen zu gestalten und natürlich beeinflusst meine Perspektive auch deren Auswahl und meine Gedanken. Gelegentlich schneide ich für einen Vortrag Videos so zusammen, dass sie an die Grenze zum Künstlerischen gehen, ich habe auch schon unangekündigt mit kurzen Reenactments gearbeitet und Verwirrung damit ausgelöst. Meine Erfahrung hat aber gezeigt, dass im Rahmen eines Vortrags, also von Wissensvermittlung, das Publikum schnell desorientiert ist durch künstlerische Elemente und sich das nicht immer ohne Aufwand auffangen lässt. Wenn wir im Theater hingegen Wissensvermittlung reinszenieren, ist der buchstäbliche Spielraum deutlich größer. Womit wir auf eine Art wieder am Anfang sind, oder?
Katharina Anzengruber, Anita Moser, Arne Vogelgesang ( 2020): „Kunst mit politischem Material dann interessant, wenn es neue Formen von Theatralität enthält“. Der Künstler Arne Vogelgesang im Gespräch mit Katharina Anzengruber und Anita Moser[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-mit-politischem-material-dann-interessant-wenn-es-neue-formen-von-theatralitaet-enthaelt/