Wenn Kultur in diesem Sinne als gelebte Alltagspraxis verstanden wird, dann rücken auch die sozialen, politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, technischen sowie medialen Kontexte kultureller Produktion in den Blick. Kultur ist geprägt von konfliktären Interessen und unterschiedlichen Ansprüchen und bringt die bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse zum Ausdruck. Diese werden durch Kultur (re-)produziert, in Anpassung an sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen aber auch modifziert und durch Eingriffe von Gegenöffentlichkeiten verändert. Dasselbe gilt für die kulturellen, sozialen und politischen Identitäten, die in alltäglichen Praktiken und Einstellungen ihren Ausdruck finden. Beide, Kultur und Identität, werden damit als dynamische, konflikthafte Praktiken sichtbar.
Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Macht, Identität und Kultur wurde auch als ‚magisches Dreieck‘ bezeichnet (Marchart 2003; vgl. auch Hepp/Winter 1999) (*27) (*16), das zugleich Angelpunkt des Selbstverständnisses und Handlungsfeld der Cultural Studies ist. Kultur ist eben auch als gesellschaftspolitisches und machtgeprägtes, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Hierarchien reproduzierendes Bedeutungsfeld aufzufassen.
Eine solche Konzeptualisierung hat tiefgreifende Konsequenzen für die Kunst- und Kulturvermittlung ebenso wie für die edukative Praxis. So fragt der kanadische Erziehungswissenschafter Rubén Gaztambide-Fernández (2014) (*6) danach, was das Etikett ‚Kunst‘ und welche Konsequenzen die inhaltliche Rahmung mit ‚Kunst‘ im Bildungskontext (der Schule) bedeuten. Er argumentiert für einen Ansatz der kulturellen Produktion und einen Fokus auf das Tun der beteiligten Akteur_innen (vgl. ebd.). Er kritisiert, dass vielen Diskursen über die Künste und ihre Wirkungen ein elitäres Verständnis zugrunde liegt und plädiert für eine Umorientierung hin zu „Kultur als eine Praxis“ (vgl. ebd.: 70) im Sinne der Cultural Studies. Denn in diesem Kulturverständnis ist „symbolische Kreativität“ nicht das Privileg der Künste, sondern sie ist Teil des alltäglichen Handelns aller Menschen. Gaztambide-Fernández argumentiert, dass es sich beim Begriff der Künste um ein „diskursives Konstrukt“ handelt und dass „das Sprechen über die Künste zu bestimmten Zwecken eingesetzt wird“ (ebd.: 55). Aufgrund der elitären und eurozentrischen Aufladung des Begriffs schlägt Gaztambide-Fernández vor, im Bildungskontext nicht mehr primär von den Künsten zu sprechen, sondern von „symbolischer und kultureller Arbeit“ bzw. „symbolischer Kreativität“ als kultureller Produktion (vgl. ebd.: 56). Dieser Vorschlag, den Kunstbegriff in der Schule zugunsten eines Verständnisses von „Kultur als Praxis“ zu ersetzen, erscheint auf den ersten Blick radikal, kann aber eine Verschiebung des Blickes bedeuten und einen ermächtigenden Handlungsraum für die Schüler_innen in Bezug auf ihre eigenen kulturellen Praktiken eröffnen.
Auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat sich mit dem Konstrukt und dem gesellschaftlichen Status von Kunst und Kultur beschäftigt. Er geht dabei jedoch stärker von einer an den gesellschaftlichen Strukturen orientierten Perspektive aus. In seinen Arbeiten hat er das Aufeinanderbezogensein von Kultur als Lebensweise sozialer Klassen und als Ordnungssystem zur Sicherung gesellschaftlicher Hierarchien empirisch untersucht und theoretisch gefasst. Für den Soziologen sind soziale Position, Habitus und Lebensstil zentrale Konzepte, um zu erklären, wie Die feinen Unterschiede (1978) (*1) in den Äußerungsformen der Menschen – ihrer Kleidung, ihrer Einrichtung, ihren Hör- und Sehvorlieben etc. – zu den gesellschaftlichen Hierarchien und Machtverhältnissen beitragen und diese im Alltagshandeln reproduzieren. Kunst und Kultur haben demnach eine Distinktionsfunktion, die zur Reproduktion von sozialen Ungleichheitsverhältnissen wesentlich beiträgt, weil sie Menschen auf ihre Plätze in der Gesellschaft verweist. Bourdieu betont also vor allem die Funktion von Kunst und Kultur im Rahmen der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Hierarchien. Damit tritt er den manchmal mit den Cultural Studies verbundenen allzu optimistischen Vorstellungen entgegen, Gesellschaftsveränderung allein durch partizipative kulturelle Praktiken bewirken zu können. Zugleich ist Bourdieus Konzeptualisierung der Lebensweise, also der kulturellen Ausdrucksformen der Menschen, als unmittelbare Folge ihrer sozialen Positionierung in der Tendenz deterministisch. Seine Theorie unterschätzt damit die Möglichkeiten der Menschen, sich eigene, in Teilen selbstbestimmte und ermächtigende kulturelle Ausdrucksformen zu schaffen. Im Rahmen der Cultural Studies wurde die Frage, wie Kulturproduktion einerseits die bestehenden Hierarchien legitimiert, aber andererseits eben auch partiell verändern und Grenzen von Ein- und Ausschlüssen verschieben kann, im Kontext des Kreislaufs kultureller Bedeutungsproduktion intensiv diskutiert.
Elisabeth Klaus, Elke Zobl ( 2020): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kritische-kulturelle-produktion/